Der Klinikarzt 2015; 44(05): 258-259
DOI: 10.1055/s-0035-1554847
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Akutes Koronarsyndrom – Effektive und verträgliche Behandlung mit dualer Plättchenhemmung

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02 June 2015 (online)

 
 

Etwa 400 000 Menschen werden in Deutschland pro Jahr wegen eines akuten Koronarsyndroms (ACS) in der Klinik behandelt. Das Rezidivrisiko bei Patienten nach ACS mit ST-Hebungsinfarkt (STEMI), Nicht-ST-Hebungsinfarkt (NSTEMI) und instabiler Angina pectoris (IA) steigere sich kontinuierlich über die Jahre, wie Prof. Dr. Stefan Blankenberg, Leiter des Universitären Herzzentrums Hamburg (UHZ), bei einem Symposium in Mannheim anhand verschiedener Studien zum Langzeitrisiko darlegte [ 1 ].

ACS als chronische Erkrankung mit hohem Langzeitrisiko

Die Framingham Heart Studie zeigte eine gegenüber der gesunden Bevölkerung halbierte Lebenserwartung nach akutem Myokardinfarkt: Bei Frauen ab 50 Jahren ist sie von 32 Jahren auf 15 Jahre reduziert, bei altersgleichen Männern von 27 Jahren auf 14 Jahre [ 2 ]. Eine dänische Register-Studie mit über 3 Millionen Patienten ab 30 Jahren demonstrierte nach Überleben eines ersten Infarkts bei ­Frauen einen kontinuierlichen Anstieg der Mortalität auf über 40 % nach 5 Jahren [ 3 ]. Während beim STEMI die 3-Jahres-Mortalität über die vergangenen 3 Dekaden von 27 auf 13% sank, blieb sie beim ­NSTEMI im gleichen Zeitraum konstant hoch bei 12–15 % [ 4 ]. Bei STEMI-Patienten mit perkutaner Koronarintervention (PCI) stieg die Reinfarktrate über 5 Jahre auf etwa 15 % [ 5 ].

„Diese Ergebnisse sind im Einklang mit den Daten verschiedener Register“, berichtete Blankenberg. Im GRACE-Register betrug die 5-Jahres-Mortalität bei ACS 18–22 % [ 6 ]. Das REACH-Register zeigte für Patienten nach ischämischem Ereignis eine Inzidenz von fast 20% für MACE (Major Adverse Cardiac Event) und Schlaganfall nach 48 Monaten – unabhängig davon, wie lange das Vorereignis zurücklag [ 7 ]. 24 % der Rezidive nach Myokardinfarkt treten im ersten Jahr nach dem Erstereignis auf; 40 % der Rezidive treten im 2.–5. Jahr auf [ 8 ]. Jernberg et al. zeigten, dass von 108 000 Patienten mit Infarkt zwischen 2006 und 2011 10 % bis zum 7. Tag nach der Klinikentlassung starben; bei Patienten, die das erste Jahr nach dem Akutereignis überlebten, kam es bei 11 % im 2. Jahr und bei 18 % innerhalb der folgenden 2 bis 3 Jahre zu einem MACE [ 9 ]. „Wesentlicher diskriminierender Faktor war dabei das Alter“, ergänzte Blankenberg: Die kumulative Wahrscheinlichkeit für einen Myokardinfarkt, Schlaganfall oder kardiovaskulären Tod bei stabilen Post-Infarkt-Patienten lag 5,5 Jahre nach dem Erstereignis bei > 60-Jährigen bei 11,2 %, bei 60–69-Jährigen bei 18,1 %, bei 70–79-Jährigen bei 30,1 % und bei > 80-Jährigen bei 59,1 %. Das Langzeitrisiko nach Überleben eines Infarkts sei hoch und müsse im Fokus der Therapie bleiben, resümierte Blankenberg. Es gelte, intelligente Strategien zu entwickeln, die die Prognose der Betroffenen verbesserten.


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ProAcor: erfolgreiche strukturierte Versorgung

Eine solche Strategie ist die strukturierte Versorgung in der Zusammenarbeit zwischen Klinik und niedergelassenem Kardiologen, die in der ProAcor-Studie an bislang etwa 1000 Patienten mit ACS untersucht wird [ 10 ]. Zentrale Elemente des Programms sind ein Herzpass mit Daten zu Anamnese, Medikation und Visitenplaner, Informationen zur Erkrankung sowie zur Sekundärprävention inklusive Lebensstiländerung. Primäres Ziel der Maßnahme ist es, den Krankheitsverlauf unter leitliniengerechter Behandlung günstig zu beeinflussen und die Therapieadhärenz zu steigern.

44 % der Patienten hatten einen STEMI, 40 % einen NSTEMI, 16 % eine IA. 96, 88 und 76 % dieser Patienten erhielten in der Akutversorgung einen Stent. „Die bisher erhobenen Daten zeigen eine 1-Jahres-Mortalität von 6,9 %, die verglichen mit bisherigen Registern bemerkenswert niedrig ist, sowie eine mit 14,9 % geringe kardiale Rezidivereignisrate“, sagte Dr. Franz Goss, niedergelassener Kardiologe aus München. „Der Anteil der leitliniengerecht behandelten Patienten nach Entlassung und nach 12 Monaten war hoch, ebenso die Akzeptanz und Zufriedenheit der Patienten.“ Die Mehrheit erhielt eine duale Plättchenhemmung (DAPT), etwa mit Ticagrelor (Brilique®).


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DAPT mit Ticagrelor

Ticagrelor (Initialdosis 180 mg, gefolgt von 2 x 90 mg/d, über bis zu 12 Monate) ist in Europa seit 2010 für die orale Plättchenhemmung bei allen Formen des ACS zugelassen, unabhängig davon, ob die Patienten rein medikamentös oder invasiv (PCI, Koronararterienbypass) behandelt werden [ 11 ]. Ticagrelor ist der erste Wirkstoff der neuen chemischen Klasse der Cyclo-Pentyl-Triazolo-Pyrimidine (CPTP) und hemmt als Adenosindiphosphat (ADP)-Rezeptorantagonist reversibel den P2Y12-Rezeptor. Internationale Leitlinien empfehlen Ticagrelor für die DAPT (Klasse I, Level B) [ 12 ].

Maßgeblich für die Zulassung war die randomisierte, doppelblinde, multizentrische Phase-3-Studie PLATO, die an über 18 600 ACS-Patienten die signifikante Überlegenheit von Ticagrelor gegenüber Clopidogrel nachwies: Der P2Y12-Inhibitor reduzierte den kombinierten primären Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod, Myokardinfarkt und Schlaganfall um relative 16 % (9,8 vs. 11,7 %; p < 0,001; Abb. [ 1 ]) [ 13 ]. Die PLATO-Daten zeigten, dass das relative Risiko für einen kardiovaskulären Todesfall bei Patienten, die mit Ticagrelor und Acetylsalicylsäure (ASS) behandelt wurden, um 21 % niedriger war als bei Patienten, die Clopidogrel und ASS einnahmen (4,0 vs. 5,1 %; p = 0,001). Die Wirksamkeitsvorteile gingen dabei nicht mit einer Erhöhung der Gesamtrate schwerer Blutungen einher. Mit Ticagrelor behandelte Patienten zeigten in PLATO häufiger leichte Blutungen wie Epistaxis oder Hämatome sowie ein erhöhtes Risiko für Blutungen, die nicht auf eine koronare Bypassoperation zurückzuführen waren. Die Gesamtzahl der lebensbedrohlichen und tödlichen Blutungen unter Ticagrelor war jedoch nicht höher als unter Clopidogrel (11,6 vs. 11,2 %, p = 0,43). Neben bradykarden Ereignissen kam es in der Ticagrelor-Gruppe häufiger zu Dyspnoe.

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Abb. 1 PLATO: Zeit bis zum ersten primären Endpunkt. Kombinierter Endpunkt aus kardiovaskulärer Mortalität, MI oder Schlaganfall
mod. nach [ 13 ]

Dass Ticagrelor auch bei ACS-Patienten mit COPD eingesetzt werden kann, zeigte die Subgruppenanalyse PLATO-COPD (n = 1085) [ 14 ]: Das Risiko für den kombinierten primären Endpunkt reduzierte sich signifikant um relativ 28 % (14,8 vs. 20,6 %; Abb. [ 2 ]). In beiden COPD-Armen kamen ischämische Ereignisse häufiger vor als in der PLATO-Gesamtpopulation. Dyspnoe war bei COPD-Patienten häufiger als bei Patienten ohne COPD, Therapieabbrüche blieben aber selten (2,5 % unter Tica­grelor). Die Daten bestätigen das Nutzen-Risiko-Profil von Ticagrelor als effektive und sichere Therapie auch bei ACS-Patienten mit COPD.

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Abb. 2 Ergebnisse der Subgruppenanalyse PLATO-COPD
mod. nach [ 14 ]

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Prähospitaler versus intrahospitaler Beginn der Therapie

Ob die frühe, bereits im Notarztwagen initiierte Gabe von Ticagrelor bei STEMI-Patienten mit geplanter PCI die Reperfusion (TIMI-3-Fluss) zum Zeitpunkt der Angiografie verbessern und zu einer Rückbildung der ST-Hebung um mindestens 70 % führen kann (kombinierter Endpunkt), untersuchte die ATLANTIC-Studie an 1862 Patienten [ 15 ]. Hinsichtlich dieses kombinierten Endpunkts ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen prä- und intrahospitaler Gabe. Die Gabe im Notarztwagen war genauso verträglich wie die intrahospitale Gabe: Die Unterschiede bei den Blutungsraten waren gering. Stentthrombosen waren unter der frühen Gabe jedoch signifikant seltener (0,2 vs. 1,5 % nach 30 Tagen).

Die Substudie PRIVATE-ATLANTIC untersuchte die pharmakodynamischen und pharmakokinetischen Effekte einer Vorbehandlung mit Ticagrelor bei STEMI-Patienten [ 16 ]. Mittels VASP-PRI (vasodilatator-associated stimulated phosphoprotein-platelet reactivity index) wurde die Thrombozytenhemmung vor Angiografie und nach PCI (direkt danach, nach 1 Stunde, nach 6 Stunden und vor der nächsten Medikamentengabe) ermittelt. Im Vergleich zur intrahospitalen Gabe verbesserte die präklinische Ticagrelor-Gabe die Plättchenhemmung zum Zeitpunkt der initialen Angiografie nicht. Der Grund: fehlende relevante Plasmaspiegel von Ticagrelor und des Hauptmetaboliten. Die maximale Differenz der Thrombozytenhemmung wurde 1 Stunde nach PCI festgestellt, war mit 46,2 prähospital vs. 86,9 % intrahospital jedoch nicht signifikant. Diese Ergebnisse unterstützen die ATLANTIC-Gesamtdaten.

In einer post-hoc-Analyse von PRIVATE-ATLANTIC zeigte sich, dass die Gabe von Morphin den Wirkungseintritt von Tica­grelor bei STEMI-Patienten verzögert [ 17 ]. Diese Beobachtung stützt die Hypothese einer Interaktion zwischen Morphin und oralen P2Y12-Inhibitoren und könnte eine mögliche Erklärung für die neutrale Wirkung der präklinischen Behandlung auf den primären Endpunkt in ATLANTIC sein.


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G-BA Beschluss nach §35a SGB V

Der G-BA hat am 15.12.2011 als Abschluss der Frühen Nutzenbewertung von Ticagrelor nach §35a SGB V einen Beschluss veröffentlicht. Darin hat der G-BA Ticagrelor für nachfolgende Indikationen einen Zusatznutzen anerkannt: Instabile Angina pectoris / Myokardinfarkt ohne ST-Strecken-Hebung im Vergleich zu Clopidogrel, Myokardinfarkt mit ST-Strecken-Hebung und perkutaner Koronarintervention im Vergleich zu Prasugrel, sofern diese Patienten ≥ 75 Jahre alt sind und nach einer individuellen Nutzen-Risiko-Abwägung nicht für eine Therapie mit Prasugrel + ASS infrage kommen oder Patienten, die eine transitorische ischämische Attacke oder einen ischämischen Schlaganfall in der Anamnese haben. Für die Indikationen STEMI PCI < 75 Jahre im Vergleich zu Prasugrel, STEMI medikamentös behandelt im Vergleich zu Clopidogrel und STEMI CABG im Vergleich zu ASS-Monotherapie hat der G-BA keinen Zusatznutzen festgestellt.

Michael Koczorek, Bremen

Quelle: Industriesymposium „Plättchenhemmung und ACS – Gegenwart und Ausblick“ am 10. April 2015 in Mannheim. Der Text entstand mit freundlicher Unterstützung durch AstraZeneca GmbH.
Der Autor ist freier Journalist.


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  • Literatur

  • 1 Symposium „Plättchenhemmung und ACS – Gegenwart und Ausblick“, 81. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Mannheim, 10. April 2015; Veranstalter: AstraZeneca GmbH
  • 2 Peeters A et al. Eur Heart J 2002; 23: 458-466
  • 3 Norgaard ML et al. Diabetologica 2010; 53: 1612-1619
  • 4 Nauta ST et al. PLoS One 2011; 6: e26917
  • 5 Kikkert WJ et al. Am J Cardiol 2014; 113: 229-235
  • 6 Fox KA et al. Eur Heart J 2010; 31: 2755-2764
  • 7 Bhatt DL et al. JAMA 2010; 304: 1350-1357
  • 8 Figueras J et al. Am J Cardiol 2002; 89: 1416-1420
  • 9 Jernberg T et al. Eur Heart J 2015; Epub ahead of print
  • 10 Goss F et al. Clin Res Cardiol 04/2015; 104 (Suppl. 01) DOI: 10.1007/s00392-015-1100-4.
  • 11 Fachinformation Brilique, Stand Juli 2014
  • 12 Windecker S et al. Eur Heart J 2014; 35: 2541-619
  • 13 Wallentin L et al. N Engl J Med 2009; 361: 1045-1057
  • 14 Andell P et al. ACC 2015; Presentation 1139-093
  • 15 Montalescot G et al. N Engl J Med 2014; DOI: 10.1056/NEJMoa1407024.
  • 16 Silvain J et al. ACC 2015; Presentation 1244-057
  • 17 Silvain J et al. ACC 2015; Presentation 1232M-03a

  • Literatur

  • 1 Symposium „Plättchenhemmung und ACS – Gegenwart und Ausblick“, 81. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), Mannheim, 10. April 2015; Veranstalter: AstraZeneca GmbH
  • 2 Peeters A et al. Eur Heart J 2002; 23: 458-466
  • 3 Norgaard ML et al. Diabetologica 2010; 53: 1612-1619
  • 4 Nauta ST et al. PLoS One 2011; 6: e26917
  • 5 Kikkert WJ et al. Am J Cardiol 2014; 113: 229-235
  • 6 Fox KA et al. Eur Heart J 2010; 31: 2755-2764
  • 7 Bhatt DL et al. JAMA 2010; 304: 1350-1357
  • 8 Figueras J et al. Am J Cardiol 2002; 89: 1416-1420
  • 9 Jernberg T et al. Eur Heart J 2015; Epub ahead of print
  • 10 Goss F et al. Clin Res Cardiol 04/2015; 104 (Suppl. 01) DOI: 10.1007/s00392-015-1100-4.
  • 11 Fachinformation Brilique, Stand Juli 2014
  • 12 Windecker S et al. Eur Heart J 2014; 35: 2541-619
  • 13 Wallentin L et al. N Engl J Med 2009; 361: 1045-1057
  • 14 Andell P et al. ACC 2015; Presentation 1139-093
  • 15 Montalescot G et al. N Engl J Med 2014; DOI: 10.1056/NEJMoa1407024.
  • 16 Silvain J et al. ACC 2015; Presentation 1244-057
  • 17 Silvain J et al. ACC 2015; Presentation 1232M-03a

 
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Abb. 1 PLATO: Zeit bis zum ersten primären Endpunkt. Kombinierter Endpunkt aus kardiovaskulärer Mortalität, MI oder Schlaganfall
mod. nach [ 13 ]
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Abb. 2 Ergebnisse der Subgruppenanalyse PLATO-COPD
mod. nach [ 14 ]