Der Klinikarzt 2015; 44(07/08): 328-329
DOI: 10.1055/s-0035-1564273
Medizin & Management
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

CIRS als Hebel für Veränderung – Auf dem Weg zu einer Fehlerkultur

Markus Holtel
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Publication Date:
25 August 2015 (online)

 

    Die Christophorus-Kliniken sind 2006 aus einer Fusion von 3 Krankenhäusern im Münsterland, NRW, hervorgegangen. In den 15 Fachabteilungen werden pro Jahr rund 26 000 Patienten stationär und gut 36 000 Patienten ambulant versorgt. Der katholischen Trägergesellschaft gehören zudem eine psychiatrische Fachklinik, 3 Seniorenheime und eine Pflegeschule an. Sie zählt mit 2300 Beschäftigten zu den größten Arbeitgebern der Region. Ihr Anspruch ist, dass Bewohner, Patienten, Bevölkerung, Partner und Mitarbeiter mit den Leistungen zufrieden sein sollen. Die Kliniken sind nach KTQ zertifiziert. Seit 2008 leitet Dr. Markus Holtel, Anästhesist und Krankenhausbetriebswirt (VKD), das zentrale Qualitätsmanagement. 2009 führte er ein Critical Incident Reporting System (CIRS) in den Kliniken ein. Das System ist über CIRS NRW mit der bundesweiten Plattform CIRSmedical.de verbunden. Dem internen CIRS-Team gehören mit ihm 7 Mitarbeiter der zweiten Hierarchieebene aus Kliniken, Seniorenheim, der Medizin, Pflege, Technik und Verwaltung an, die als interne Botschafter dazu beitragen, eine Fehlerkultur im Haus zu etablieren. Ab August wechselt der CIRS-Koordinator an die Paracelsus-Klinik Bad Ems und leitet dort die Geschicke als Ärztlicher Direktor.


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    Herr Dr. Holtel, wie viel Überzeugungsarbeit hat es gekostet, ein CIRS in den Christophorus-Kliniken zu etablieren?

    Dr. Markus Holtel: Als ich dort anfing, lag das Thema in der Luft. Mein Vorschlag, ein CIRS einzuführen, stieß daher auf positive Resonanz bei der Steuerungsgruppe Qualitätsmanagement und dem Direktorium. Die Klinikleitung richtete eine Projektarbeitsgruppe mit hoch motivierten Mitgliedern ein, die auf eine schnelle Einführung des CIRS drängten. Ich war zunächst eher vorsichtig, da ich die Mitarbeiter nicht verschrecken wollte. In der Medizin ist es nicht üblich, über Fehler zu sprechen. Dies setzt gerade bei Ärzten ein ganz neues Selbstverständnis voraus, weg vom Anspruch der Unfehlbarkeit eines perfekten Halbgotts in Weiß.

    Hat sich die Einstellung zu Fehlern verändert?

    Holtel: Wir sind in der Medizin langsam auf dem Weg, eine Fehlerkultur einzuführen. Immer mehr Mitarbeiter begreifen, dass es wertvoller ist, Fehler anzusprechen, als sie totzuschweigen. Heute stört sich in meinem Haus keiner mehr daran, dass wir einmal pro Monat den „Fehler des Monats“ als Mitteilung aufbereiten und offensiv an die Mitarbeiter versenden. Anfangs bestanden Bedenken, ob wir nicht besser von einem Fall oder Bericht des Monats statt von einem Fehler sprechen sollten. Wichtig bei der Wortwahl ist, sich klar zu machen, dass ein Fehler nicht notwendigerweise zu einem Schaden führt. Doch jedem vermeidbaren Schaden geht ein Fehler voran. Dem liegt „Heinrichs Gesetz“ zugrunde, wonach auf 300 verletzungsfreie Arbeitsunfälle ein schwerer Unfall kommt, der zum Tod führen kann. Damit das Risiko eines Schadenfalls möglichst gering ist, müssen wir Fehlerquellen frühzeitig erkennen und vermeiden. Ein CIRS lässt uns hierüber ins Gespräch kommen. Noch sind Ärzte bei den Einträgen aber zurückhaltender als Pflegekräfte.

    Was soll gemeldet werden?

    Holtel: Es geht um konkrete Fehler und Risiken, die bei der Arbeit auftreten. Das CIRS ist kein Kummerkasten für allgemeine Klagen wie die hohe Arbeitslast. Dies ist hier nur im Kontext eines Fehlers relevant. Der Ausdruck Beinahe-Fehler ist meines Erachtens irreführend. Die Fehler sind ja tatsächlich passiert. Richtiger wäre es, von Beinahe-Schäden zu sprechen. Wenn Patienten zu Schaden gekommen sind, wird das nicht im CIRS gemeldet. Für die Bearbeitung solcher Fälle gibt es andere Wege im Haus.

    Wie gewährleisten Sie, dass dem Melder keine Nachteile entstehen?

    Holtel: Die Meldungen im CIRS erfolgen anonym und sind freiwillig. Die Geschäftsführung hat zugesichert, dass in jedem Fall Sanktionsfreiheit besteht. Technisch wird die Anonymität über eine Software des Ärztlichen Zentrums für Qualität in der Medizin umgesetzt. Außerdem prüft das CIRS-Team auf Anonymität und löscht alles, was eine Wiedererkennung möglich machen könnte, bevor ein Eintrag im hauseigenen System sichtbar wird.

    Kann eine Meldung haftungsrechtliche oder strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen?

    Holtel: Da im CIRS nur Beinahe-Schäden gemeldet werden sollen, können keine haftungs- oder strafrechtlich relevanten Folgen entstehen. Das würde ja voraussetzen, dass ein Patient tatsächlich zu Schaden gekommen ist und Ansprüche geltend macht. Im Gegenteil, mir haben Juristen bestätigt, dass das Vorhandensein eines CIRS eher positiv zu Buche schlägt. Ein Krankenhaus macht damit deutlich, dass es sich aktiv für die Vermeidung von Risiken einsetzt. Ich habe daher keine Bedenken, dass ein CIRS für uns zu einem juristischen Bumerang werden könnte. Hinzu kommt, dass wir mittlerweile über 400 Einträge verzeichnen können und die Daten auf einem Server in der Schweiz liegen, sodass eine Rückverfolgbarkeit auch technisch kaum mehr machbar ist.

    Wie schaffen Sie es, die Akzeptanz für CIRS weiter zu erhöhen?

    Holtel: Akzeptanz setzt voraus, dass die Mitarbeiter Vertrauen in das System haben, statt Nachteile zu befürchten. Eine Schlüsselfunktion kommt hierbei dem CIRS-Team zu, dessen Mitglieder seit langem im Haus arbeiten und vielen persönlich bekannt sind. Wir setzen auf persönliche Integrität und präsentieren uns mit Fotos auf der Startseite des CIRS-Systems. Wir vermitteln, dass es Spaß macht im CIRS-Team zu arbeiten. Den „Fehler des Monats“ präsentieren wir auf originelle Art, die Spaß beim Lesen machen soll. Nach der Veröffentlichung gehen mit hoher Zuverlässigkeit neue Eingaben ein. Da erinnert sich jemand an einen Fehler, den er längst melden wollte. Außerdem müssen die Mitarbeiter merken, dass sie eine positive Veränderung herbeiführen können. Das CIRS-Team trifft sich alle 6 bis 8 Wochen für 2 bis 3 Stunden, um die Einträge zu besprechen. Jede veröffentlichte Eingabe wird kommentiert, oft hat der Kommentar Schulungs- und Erinnerungscharakter, aber immer wieder lassen sich auch Abläufe im Klinikalltag verbessern. Das CIRS-Team kümmert sich um diese Veränderungen und das erhöht die Chancen des meldenden Mitarbeiters, seine Anregungen umgesetzt zu sehen.

    Können Sie den Nutzen einer Meldung für die Kliniken an einem Beispiel veranschaulichen?

    Holtel: Mein Lieblingsfehler ist ein verwechseltes Datum auf einem Laborbefund, infolge dessen ein Patient zunächst nach einem Antibiogramm behandelt wurde, das bei einem früheren Aufenthalt vor 5 Jahren erstellt wurde. Einem Pfleger fiel die Diskrepanz zwischen Druckdatum und Befunddatum auf. Über das CIRS hatte er einen Hebel, eine Änderung im Labor anzuregen. Heute wird nur noch das Befunddatum auf den Berichten ausgewiesen. Ein anderes Beispiel betrifft die Geriatrie. Dort fiel einem Mitarbeiter auf, dass Patienten im Rollstuhl mal mit und mal ohne Fußraste gewogen wurden. Die fehlerhafte Messung von mehreren hundert Gramm hat Auswirkungen auf die Medikation mit Diuretika oder auf das Ernährungsregime. Inzwischen gibt die Pflegedienstleitung Standards für die Messung vor.

    Welche Erfahrung nehmen Sie mit nach Bad Ems?

    Holtel: Die Paracelsus-Kliniken denken langfristig, auch wenn sie eine private Klinikkette sind. Sie sind nicht börsennotiert und müssen nicht nach dem Quartalserfolg schielen. Ein CIRS, das manchmal vielleicht auch unbequeme oder kostenträchtige Fehler aufdeckt, passt dort genauso gut ins System wie bei einem kirchlichen Träger. Fehlervermeidung und Qualitätsverbesserung stehen im Vordergrund. Dem CIRS gelingt es, grundsätzlich alle Mitarbeiter aktiv einzubinden und Fehler für jeden zum Thema zu machen. Jeder kann Fehler, die er beobachtet, melden und sie dadurch im Idealfall für die Zukunft verhindern. Eine solche Kultur möchte ich in jedem Haus pflegen.

    Alles Gute für Ihren Neuanfang und vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Holtel!

    Das Interview führte Dr. Adelheid Weßling, freie Journalistin, Düsseldorf.


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