Z Orthop Unfall 2016; 154(01): 1-4
DOI: 10.1055/s-0036-1572467
Orthopädie und Unfallchirurgie aktuell
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Human Factors in der Medizin – Warum Training nicht alles ist

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Publication Date:
22 February 2016 (online)

 

Kurse zu Crew-Resource-Management, gestaltet nach Vorbildern aus der Luftfahrt, sind auch in der Medizin en vogue. Sie sollen Teamprozesse fördern und damit letztendlich die Patientensicherheit. In wie weit das wirklich den Patienten nutzt, bleibt aber noch in vielen Punkten offen.

Die ersten Pilotkurse waren ein Erfolg, die Protagonisten sind optimistisch. IC – Interpersonal Competence ist das Motto eines von DGOU und Lufthansa Flight Training (LFT) gemeinsam neu aufgelegten 2-tägigen Kursformats für Chirurgen, primär Orthopäden und Unfallchirurgen. Geboten werden Wochenendkurse im schicken Tagungshotel von LFT in Seeheim-Jugenheim an der hessischen Bergstraße. Kosten des „Weekends“ je Teilnehmer: 990 € (Stand Oktober 2015). Offizieller „Launch“ des Programms war auf dem DKOU 2015 in Berlin. „Was haben Luftfahrt und Medizin gemeinsam“, fragte ein in den Tagungssälen gespielter Werbefilm und gab gleich die Antwort, untermalt vom Stimmengewirr einer Cockpitschalte: Bei beiden muss Sicherheit an erster Stelle stehen. Ready for Take Off – gemeinsam warben die Generalsekretäre von DGOOC, Bernd Kladny, und DGU, Reinhard Hoffmann, für den Kurs, als „Meilenstein für die berufsbegleitende Persönlichkeitsentwicklung aller Ärzte“. Hoffmann machte in einem der Symposien auf dem Kongress en passent klar, dass die DGU über ihre Akademie der Unfallchirurgie GmbH durchaus ein finanzielles Risiko mit der Auflage des Programms übernommen hat. Man hoffe auf rege Teilnahme.

LFT ist 100-prozentige Lufthansatochter, die sich primär um die Ausbildung von Piloten kümmert – nach eigenen Angaben von über 200 Fluggesellschaften weltweit. Und jetzt auch um Ärzte. Die neuen Kurse, alias Training in Human Factors sollen auch Medizinern bessere Kommunikation, Teamarbeit, Führung und Entscheidungsfindung vermitteln.

Faktor Mensch Human Factors? Mehr Sicherheit für die eigenen Arbeitsprozesse von der Luftfahrt lernen? Das Thema ist auch in der Medizin en vogue. Unter dem Terminus Human-Factors-Training gibt es seit einigen Jahren auch für Mediziner Adaptionen eines bei der Luftfahrt ursprünglich Crew-Resource-Management oder Cockpit-Resource-Management (CRM) genannten Pilotentrainings. Und nicht nur bei der Lufthansa. Ein anderes Beispiel ist das Hand-over-Team-Training (HOTT) – ebenfalls buchbar über die Akademie der Unfallchirurgen.

Allerdings herrscht Sprachverwirrung. Selbst Spezialisten nutzen den Terminus Human Factors für verschiedene Aspekte. Da wäre einmal die Gleichsetzung von Human Factors, alias menschlicher Faktor, alias menschliches Versagen als Benennung der wichtigsten Fehlerquelle bei vielen Arbeitsprozessen. In der Tat bleibt menschliches Versagen in vielen Branchen der wichtigste Grund für Unfälle: Über die Hälfte aller Unglücke in der Luftfahrt gehen auf Pilotenfehler zurück, und nur rund 20 % auf Versagen von Maschinen [ 1 ]. In der Medizin steckt menschliches Versagen gar hinter 80 % aller Unerwünschten Ereignisse, kalkulieren die Human-Factors-Experten Michael St. Pierre und Gesine Hofinger [ 2 ]. Danach wird es unübersichtlich. Bei der Hauptursache für Menschliches Versagen sind manche Autoren schnell bei der mangelhaften Kommunikation von Mitarbeitern in den hochkomplexen Teamprozessen, die heute in Industrie wie Operationssaal ablaufen. Ergo wird mehr Schulung in Human Factors, alias richtiger Kommunikation, allen, die im Krankenhaus arbeiten, schon helfen, Menschen-gemachte Fehler zu vermeiden.

Zumindest für 2 von der ZfOU dazu befragte Expertinnen ist das eine unzulässige Verkürzung. Human Factors kümmere sich um beide Seiten – Mensch und Arbeitswelt, das bedeute eben auch, Arbeitssysteme so an Menschen anzupassen, dass sie für Menschen funktionieren, betont Dr. Gesine Hofinger (siehe das Interview ab Seite 5). Die reine Fokussierung beim Thema Patientensicherheit und Human Factors auf Verhaltenstrainings und Seminare führe in die Irre. Mehr Fehlersicherheit sei vorrangig eben nicht eine Frage vom Abtrainieren eines menschlichen Fehlverhaltens. Human-Factors-Analyse und Trainings zielten auf den Bau von Arbeitsstrukturen, die optimale Voraussetzung bieten, damit Menschen auch möglichst gut und fehlerfrei arbeiten. Oder ganz praktisch: Bin ich morgens am OP-Tisch ausgeschlafen oder hindern mich die Schichtpläne genau daran, gibt Professorin Tanja Manser von der Uni Bonn ein Beispiel (siehe das Interview ab Seite 7).

Ein entscheidender Aspekt dieser Sicht auf Arbeitssysteme: Die sollen so ausgelegt sein, dass mehrere Sicherheitsebenen dafür sorgen, Fehler auf einer Ebene in der nächsten zu erkennen und rechtzeitig zu korrigieren. Eine nette Illustration dieser Denke hat der britische Psychologe James Reason entwickelt – als Käsescheibenmodell [ 3 ]. Ein Loch in der 1. Scheibe Emmentaler wird durch die just an dieser Stelle eben nicht-löchrige nächste Scheibe sauber verdeckt – die dafür an anderer Stelle ein Loch haben mag und so fort.

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Im Käsescheibenmodell nach James Reason verdeckt eine weiter oben liegende Scheibe Käse das Loch in der darunterliegenden - ein Prinzip, das Fehler auf unterschiedlichen Ebenen und deren Korrektur verdeutlicht.

Im Krankenhaus ist das der „berühmte 2. Blick“, formuliert der Krankenpfleger und Medizinsoziologe Michael Rosentreter im ZfOU-Interview, bei dem idealerweise der eine Mitarbeiter noch mal checkt, ob die soeben erhaltenen Informationen auch wirklich stimmen. Rosentreter hat gleich einige haarsträubende Beispiele mangelnder Kommunikation zwischen verschiedenen Teams parat (siehe Interview ab Seite 9).

Human-Factors-Analyse von Arbeitsabläufen in einer Klinik heißt eben auch: Welche Verbesserungen im Design der Instrumente sind möglich, passt die Aufgabenverteilungen im Team der Chirurgen, stimmt die Gesamtorganisation der Abläufe. All das ist für mehr Patientensicherheit in der Medizin mindestens so wichtig, wie die Arbeit an guter Kommunikation innerhalb und zwischen den Teams, die zusammen arbeiten sollen. So erläutert es eine Gruppe um den US-Forscher Ken Catchpole. Und verweist auf das Vorbild Luftfahrt: Ein umfassender Human-Factors-Ansatz habe dort geholfen, die Unfallzahlen dramatisch zu senken – genau diese umfassende Sicht müsse sich die Medizin abgucken, wenn sie selber ihre Fehlerraten senken will [ 4 ].

Erfolge in der Luftfahrt

In der Tat ist es Luftfahrtunternehmen gelungen, die Zahl an Unfällen und Unfallopfern über die Jahrzehnte deutlich zu senken. Über 30 Todesfälle auf eine Million Starts gab es noch Ende der 1950er Jahre in der zivilen Luftfahrt, aktuell ist es zumindest weit weniger als ein Todesopfer [ 5 ]. Oder anders kalkuliert: Ein toter Passagier war 1929 auf 1 600 000 geflogene Personenkilometer zu beklagen. Heute gibt es im statistischen Durchschnitt ein Todesopfer auf eine 1000mal längere Flugstrecke (pro Jahr weniger als 1 Passagier je 3,2 Milliarden Personenkilometer).

Ein Beispiel für viele schrittweise Verbesserungen hinter diesem Erfolg: Einer der Begründer von Konzepten der Human-Factors-Wissenschaft, der Franzose Alphonse Chapanis (1917–2002) machte Schluss mit einem happigen Fahler von Piloten, die während der Zeit des 2. Weltkriegs beim Landeanflug in manchen Flugzeugtypen das Fahrwerk einklappten, anstatt die Landeklappen auszufahren. Es war die Folge einer fatalen Verwechslung der dicht beieinander liegenden und ähnlichen Hebel für Fahrwerk und Landeklappen. Chapanis ließ ein kleines Rad auf den Griff für das Fahrwerk und ein 3-eckiges Symbol auf den Hebel für die Landeklappen montieren – eine optische Hilfe, die durchschlagend gegen die fatale Verwechslung half [ 6 ].

Es blieb nicht bei solchen Verbesserungen an den Maschinen. Standard in den Unternehmen sind längst Werkzeuge zur Fehleranalyse, darunter ein Critical-IncidentReporting-System (CIRS), in das Mitarbeiter im Schutz von Anonymität Fehler oder auch nur Risiken für Fehler melden können und sollen, damit diese einer Analyse unterzogen werden können.

Und spätestens seit Ende der 1970er tüftelt die Luftfahrtbranche an einer Optimierung von Teamprozessen. Unter dem Terminus CRM gibt es Schulungen für das Personal, um die Zusammenarbeit auch und gerade unter Stress zu verbessern. Standards dafür schaffen eigene Checklisten, nach denen das Bordpersonal zumeist vor jedem Flug alle nötigen Vorbereitungen für den Flug nach einem strikt geregelten Kommunikationsprozess bespricht.

Welchen Anteil die vielen einzelnen Komponenten des umfassenden Sicherheitskonzepts an den Erfolgen zur Unfallstatistik in der Fliegerei haben, ist nicht ganz klar. Von einem „gemischten Ergebnis“ einer Zunahme an CRM-Trainings in der Luftfahrtbranche spricht eine Gruppe von Experten um Eduardo Salas von der University of Florida. Genau zu quantifizieren sei der Einfluss auf Unfallstatistiken nicht [ 7 ]. Die Unfallstatistik der Lufthansa belege, dass optimierte Teamarbeit im Cockpit die Flugsicherheit in den letzten 3 Jahrzehnten stärker beeinflusst habe als die Verbesserung der Flugzeugtechnik, erklärt hingegen der Leiter der Flugsicherheitsforschung der Lufthansa Manfred Müller in einer aktuellen Veröffentlichung im Bundesgesundheitsblatt [ 8 ].

Viel langsamer als in der Luftfahrt setzen sich Human-Factors-Ansätze auch in der Medizin durch. Dabei gibt es in der Medizin noch ungleich mehr Stellschrauben, an denen für ein Mehr an Sicherheit zu drehen ist. Für eine einzige Endoprothesen-Implantation reichen die Einflussfakturen auf die Patientensicherheit von der Händehygiene aller in der Klinik, vom Screening von Risikopatienten auf Keime wie MRSA, über die Wahl eines passenden und sicheren, technisch ausgereiften Prothesentyps, über die Gerätesicherheit, eine gute Kommunikation im OP-Team und an den Schnittstellen zu weiteren Teams im Krankenhaus bis hin zum später übernehmenden niedergelassenen Arzt, und last but not least, einem fortlaufenden Check auch auf die Sicherheit der Arzneimitteltherapie.

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Teamarbeit und Prozessoptimierung sind wichtige Faktoren für die Patientensicherheit. Wie bereits in der Luftfahrt setzen sich Human-Factors-Ansätze auch in der Medizin immer mehr durch. (Bild: Kzenon / Fotolia.com)

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Einrichtung eines CIRS nimmt zu

Ohne Zweifel gibt es auch in der Medizin Fortschritt bei der Einführung mancher Tools. So bescheinigt eine Umfrage des Instituts für Patientensicherheit (IfPS) der Universität Bonn letztes Jahr hiesigen Krankenhäusern Zwischenerfolge bei der Sicherheitskultur. Von 572 an der Umfrage teilnehmenden Krankenhäusern und Reha-Kliniken hatten im Jahr 2015 immerhin 68 % ein CIRS. Bei der letzten Umfrage 2010 war es nur 34 % gewesen. Fast alle Häuser, die bei der Umfrage mitmachten, nützen darüber hinaus ein Spektrum an Infoquellen, um Risiken zu erkennen – Beschwerdemanagement, Patientenbefragungen, Analyse von Kennzahlen, Auswertung von Schadensfällen. 91 % der Häuser unternimmt ein Screening von Risikopatienten auf Keime wie MRSA.

Von einem „positiven Trend“ spricht Studienleiterin Professorin Tanja Manser vom IfPS [ 9 ]. Beim 2. Blick bleibt allerdings deutlich Luft nach oben. Das eigene CIRS nutzten gerade mal 263 von 363 Häusern für ein „zeitnahes Feedback“ an die Meldenden. Nur ein Fünftel der Kliniken erklärt, generell einen offenen Umgang mit Fehlern und Schwachstellen im System zu pflegen. Manser fordert Kliniken auf, einen umfassenden Human-Factors-Ansatz zur Grundlage für mehr Sicherheit in der Medizin zu machen (siehe das Interview ab Seite 7).

Dabei zeichnet sich ab: Die Medizin braucht mehr eigenständige Konzepte zur Vermeidung von Fehlern, kann nicht Vorbilder unverändert aus der Industrie übernehmen. Etliche Erfahrungen und Konzepte aus der Luftfahrt lassen sich nicht 1:1 auf die Medizin übertragen:

  • Andere Arbeitsumgebung. Piloten fliegen wenige Maschinentypen. Ärzte und Pfleger haben immer einen individuellen Patienten vor sich und müssen ein komplexes Diagnose- und Therapieset beherrschen.

  • Unterschiedliche ökonomische Anreize. Die Luftfahrt kenne zumindest bei Gesellschaften mit ausgeprägter Sicherheitskultur ein „Sicherheitsprivileg des Kapitäns“, der Entscheidungen absolut nach dem Primat der Sicherheit und gerade nicht nach ökonomischen Gesichtspunkten treffen soll, erklärt Manfred Müller. Dieses Prinzip sollte in der Medizin genauso etabliert werden – Stichwort Bonuszahlungen für Chefärzte [ 8 ]

  • Unterschiedliche Sichtbarkeit von Fehlern und Fehlerfolgen. Ein Absturz eines Fliegers ist eine Katastrophe, zumeist mit vielen Opfern, und zumeist medial sehr sichtbar und damit auch der Analyse zugänglich. In der Medizin bleibt ein Fehler, der im schlimmsten Fall gar zum Tod eines Patienten führt, hingegen oft im Verborgenen. Die Dunkelziffer bleibt hoch.

  • Behörden und keine Behörden. In der Luftfahrt erheben Behörden Zahlen für präzise Statistiken zum Unfallgeschehen. Bei der Patientensicherheit kursieren hingegen bestenfalls grobe Schätzungen. Vielleicht 1 % der Patienten erleidet im Krankenhaus einen Behandlungsfehler und 0,1 % aller Patienten stirbt daran – dies sind die Schätzwerte vom Aktionsbündnis Patientensicherheit (APS) aus dem Jahr 2007. Der AOK-Krankenhausreport von 2014 kalkuliert damit 19 000 Todesfälle im Jahr in deutschen Kliniken, die rein auf Fehler der Medizin zurückgehen. Eine solide Datenbasis für Fehler und Unfälle gibt es damit in der Medizin nicht, sie fehlt so allerdings auch, um Erfolge oder auch Misserfolge einzelner Maßnahmen für mehr Sicherheit in der Medizin im Alltag dokumentieren zu können.

  • Verankerung des Themas in der Ausbildung. Human Factors sind in der Luftfahrt eine feste Größe der Sicherheitskultur, Ausbildung und Training danach sind fester Teil der Unternehmenskultur und der Mitarbeiterschulung. Mediziner lernen und erfahren zum Thema hingegen wenn, dann überwiegend in kommerziellen Trainingseinheiten – auf freiwilliger Basis. Im Medizinstudium fristen diese Themen ein Schattendasein, wie Michael Rosentreter schildert (siehe das Interview Rosentreter ab Seite 9). Seine Forderung: Eine breitere Verankerung des Themas Patientensicherheit ab dem 1. Semester Medizinstudium.


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Widersprüchliche Studienlage

Und was bringt das alles? Die Studienlage nach dem Raster der evidenzbasierten Medizin hat für Checklisten, CIRS, oder Kommunikationstrainings eher gemischte Antworten auf diese Frage parat.

Stichwort Surgical Safety Checklist: 2007 von der WHO aufgestellt, besteht sie aus Vorschlägen wie die Teams vor, während und am Ende einer jeden OP, 3-mal innehalten und Arbeitsschritte besprechen. Vor dem Einleiten der Anästhesie soll mindestens eine Pflegekraft zusammen mit dem Anästhesisten nochmals die Identität des Patienten checken, ob die Eingriffsstelle markiert ist, ob die Maschinen in Ordnung sind (das Sign In). Ähnliches folgt vor dem 1. Schnitt im OP (das Time Out), und am Ende der Operation (das Sign Out). Die Liste ist im Internet frei zugänglich [ 10 ] und soll einen reibungslosen Ablauf eines jeden Eingriffs sichern.

Einige Studien weisen auf Erfolge damit: Allen voran eine 2009 im New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlichte Untersuchung der Daten von 3733 Patienten, die vor Einführung der Checkliste und 3955 Patienten, die nach deren Einführung operiert wurden. Ermittelt in 8 Krankenhäusern in weltweit verstreuten 8 Städten. Klares Fazit der Studie, geleitet vom US-Chirurgen Atul Gawande: Eine Senkung der Mortalitäten von 1,5 auf 0,8 % bei großen Operationen und eine Senkung der Komplikationsraten von 11 auf 7 % dank des Einsatzes der WHO-Checkliste [ 11 ]. Eine letztes Jahr wiederum im NEJM publizierte Studie fand hingegen bei der Auswertung der Daten zu über 100 000 Operationen jeweils 3 Monate vor bis 3 Monate nach Einführung der Checklisten in 101 Krankenhäusern im kanadischen Ontario keine signifikanten Unterschiede bei Komplikationen [ 12 ].

Schon 2001 wiederum etablierte eine Truppe um Peter Pronovost in Boston / Maryland, USA, den Einsatz einer neu entwickelten Checkliste vor dem Anlegen eines zentralen Venenkatheters bei Patienten auf Intensivstationen (ICU). Mit großem Erfolg: Bei einer Studie im Vergleich Vorher und Nachher in Krankenhäusern im US-Staat Michigan fiel die Rate gefährlicher Infektionen bei den Patienten im statistischen Durchschnitt um 66 %. Doch auch hier gelingt in einer aktuellen Studie dieser Nachweis erneut nicht [ 13 ].

Ein Teil der widersprüchlichen Ergebnisse dürfte an verschiedenen Studiendesigns und Methoden liegen, wie die Wissenschaftsjournalistin Emily Anthes im Juli 2015 im Magazin Nature in einem Übersichtsartikel zur Studienlage bei Checklisten präsentierte: Echte kontrollierte Interventionsstudien mit Kontrollgruppen, die weiter ohne Checklisten arbeiten, sind Mangelware. Die häufigeren Vorher-Nachher-Erhebungen könnten von nicht-randomisierten Parametern überlagert werden [ 14 ].

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In der Lufftfahrt konnten Unfälle über die Jahrzahnte deutlich reduziert werden. Wieviel kann die Madizin daraus lernen? (Bild: ccvision)

Die Szene diskutiert allerdings vorrangig einen anderen „Confounding Factor“. Auch die von der ZfOU befragten Expertinnen verweisen darauf, dass es für Erfolge entscheidend ist, wie eine Checkliste neu eingeführt und konkret genutzt wird (siehe dazu auch die Stellungnahme der WHO [ 15 ]). Ein reines Abhaken der Listen bringt gar nichts. „Wenn ein Chefchirurg sagt, ich fange schon mal an, meinetwegen könnt ihr noch eine Checkliste abarbeiten, dann ist ein Misserfolg programmiert“, betont Tanja Manser.

Auf einen 2. naheliegenden Aspekt weisen die Briten Thomas J. Cahill aus Oxford und Rod Stables aus Liverpool in einem Leserbrief an Nature hin. Je nach Art einer Behandlung müsse die Checkliste der WHO adaptiert werden. Kardiologen, die einen Herzkatheter anlegen, könnten mit der Checkliste für Chirurgen nicht viel anfangen, müssten vielmehr ihre eigene aufsetzen [ 16 ].

Die enorme Vielfalt von Kommunikationsprozessen in den zahlreichen unterschiedlichen klinischen Settings erschwert deren vergleichende Untersuchung allerdings zusätzlich. Eine 2013 veröffentlichte Literatur-Übersicht von Tanja Manser und Jan Schmutz destillierte aus 5000 Studien zum Kontext Teamprozesse und Patientensicherheit (alle auf Englisch und zwischen 2001 und 2012 veröffentlicht) gerade mal 28 als methodisch brauchbar heraus, und nur 7 davon als Interventionsstudien mit einem Vorher-Nachher-Vergleich. Magere 2 Dutzend methodisch brauchbare Studien, die der Frage nachgehen – haben Teamprozesse einen Effekt auf die klinische Performance? Ja – sie haben einen Einfluss, resümiert Manser im ZfOU-Interview (siehe Seite 7).

Die wenigen Interventions-Studien untersuchen überwiegend CRM-Elemente, doch ist das Spektrum darin immer noch groß. Manchmal geht es um umfassende Intensivtrainings und fortlaufende Betreuung eines Teams, manchmal aber auch nur um schlichtere Kurzzeitinterventionen. Hinzu kommen zahlreiche Unterschiede je nach klinischem Setting. Es reicht vom Kreißsaal (in dem die Rate an Not-Kaiserschnitt-Geburten nach einer Arbeit durch ein CRM-Training signifikant zurückging) bis zu einem Allgemeinklinikum, in dem bei einigen Studien die Zahl der Stürze bei Patienten zurückging, wenn Pflegerinnen und Pfleger eine Schulung für mehr Teamwork erhielten.

Manser geht dennoch davon aus, dass bestimmte Arbeits- und Kommunikationsstrukturen in einem Team Fächer- und Setting-übergreifend standardisierbar sind.

Für die weitere Evaluation solcher Interventionen in der Medizin kommt die Forscherszene trotzdem vielleicht nicht darum herum, ihre Terminologie weiter zu verfeinern und zu schärfen. Checkliste ja oder nein – das reicht nicht als Parameter für Studien. Eher: Wie werden Checklisten eingeführt? Sind Parameter destillierbar, die ein richtiges Einführen identifizieren? Geht es um ein Training in aktiver Kommunikation? Oder geht es zunächst mal um präzisere Zuordnung von Verantwortlichkeiten? Dann wäre auch womöglich kleinmaschiger zu untersuchen, welche Kommunikation wann wirklich wichtig ist. „Bessere Kommunikation“ allein ist ein zu unscharfer Begriff.

Allgemeiner Smalltalk, im Alltag gerne praktiziert und sogar wichtig zur Stabilisierung mancher Gruppendynamik, kann im OP Patienten gefährden, mahnte das Universitätsspital Bern Mitte Oktober 2015. Eine rein sachbezogene Kommunikation im OP-Team senkt hingegen nach dieser Untersuchung das Wundinfektionsrisiko für den Patienten [ 17 ], [ 18 ]. Will sagen: Mitarbeiter eines guten Teams wissen, wann sie den Schnabel halten und sich der Arbeit widmen.

Bernhard Epping


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Im Käsescheibenmodell nach James Reason verdeckt eine weiter oben liegende Scheibe Käse das Loch in der darunterliegenden - ein Prinzip, das Fehler auf unterschiedlichen Ebenen und deren Korrektur verdeutlicht.
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Teamarbeit und Prozessoptimierung sind wichtige Faktoren für die Patientensicherheit. Wie bereits in der Luftfahrt setzen sich Human-Factors-Ansätze auch in der Medizin immer mehr durch. (Bild: Kzenon / Fotolia.com)
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In der Lufftfahrt konnten Unfälle über die Jahrzahnte deutlich reduziert werden. Wieviel kann die Madizin daraus lernen? (Bild: ccvision)