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DOI: 10.1055/s-0036-1572468
Human Factors – „Wochenendtraining kann ein Einstieg sein“
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
22. Februar 2016 (online)
Der Begriff Human Factors macht aktuell vermehrt in Medizinersymposien zur Patientensicherheit die Runde. Was er bedeutet und was Mediziner davon wissen müssen, erklärt Gesine Hofinger im ZfOU-Interview.
? Frau Hofinger – womit genau befassen Sie sich?
Ich bin Human-Factors-Psychologin, auch wenn es das in Deutschland nicht als Abschluss gibt. Ich beschäftige mich mit Fragen rund um das Handeln von Menschen in komplexen Arbeitssystemen. Mit dem Schwerpunkt Sicherheit, etwa im Krankenhaus.
? Sie offerieren in Ihren Schulungen zum Thema Human Factors also Kommunikationstraining?
Das ist nur ein Teil. Und ganz wichtig ist mir: Es geht bei Human Factors nicht darum, einzelnen Menschen irgendwas anzutrainieren.
? Sondern?
Human Factors bedeutet, Arbeitssysteme so an Menschen anzupassen, dass sie für Menschen funktionieren, dass sie das Wohlbefinden befördern, und andererseits, wenn das nicht geht, Menschen so auszuwählen, weiterzubilden und zu trainieren, dass sie in das Arbeitssystem passen. Man hat immer beide Richtungen – Mensch und Arbeitssystem.
? Sagen Sie das jetzt oder ist das die offizielle Lehre?
Das ist Stand der Wissenschaft seit über 100 Jahren. Human-Factors-Wissenschaft besteht allerdings aus vielen Fächern. Das macht es ein bisschen kompliziert, es gibt nicht nur Psychologie und Kommunikationswissenschaft, es gibt auch Ingenieurwissenschaft in Human Factors, bei der es um die technische Seite der Arbeitssysteme geht.
? Aber das sind jetzt eher maschinelle Faktoren? Das ist eher Ergonomie und nicht Human Factors, alias menschliche Faktoren?
Nein. Ergonomie ist ein Teilgebiet von Human Factors, aber kein Synonym. Im Deutschen steckt ein Sprachproblem hinter dieser Verwechslung. Ergonomics und Human Factors Engineering wird im amerikanischen Sprachraum weitgehend gleich benutzt. Im Deutschen sehen wir in Ergonomie hingegen überwiegend die Gestaltung der Arbeitsmittel. Sie ist ein wichtiger Aspekt für mehr Arbeitssicherheit. Denken Sie an Arbeitsplätze, an denen Überwachung stattfindet, etwa in der Anästhesie. Da stellen sich praktische, ergonomische Fragen: Wie müssen Arbeitsplätze gestaltet sein, damit die Benutzer zum Beispiel keine Rückenschmerzen kriegen. Human Factors nimmt aber noch mehr in den Blick, auch die Frage, wie man Informationen überhaupt am besten anordnet, wie müssen etwa Alarme gestaltet sein, damit Menschen sie schnell registrieren können.
? Alles weit weg von der Frage, wie ich als Arzt im OP oder auf Station möglichst gut mit dem Pflegepersonal kommuniziere?
Richtig. Das große Bild bei Human Factors heißt, dass das gesamte Arbeitssystem angeschaut wird. Dieses besteht aus dem, was man Hardware nennen könnte, die Gebäude, Maschinen, der OP-Tisch. Und dann aus den Prozessen, quasi der Software: Die Frage, wie wir arbeiten; die Regeln, nach denen wir arbeiten.
? Wirkt irgendwie so, als ginge es um Alles. Beachten die deutschen Krankenhäuser die Human Factors für ein Maximum an Sicherheit?
Leider nein.
? Ein guter Klinikmanager wird sich in Teilen damit schon mal beschäftigt haben?
Jein, sehr oft wird da nur ein kleiner Teil in den Blick genommen. Und so lange wir nicht auf alle Komponenten gucken, wird das immer Stückwerk bleiben.
? Und was kann da ein Training ausrichten, womöglich auch nur ein Wochenende lang? Sie sagten Human Factors sei primär keine Trainingsfrage, nichts, was man Menschen antrainieren kann?
Human Factors ist mehr als Training. Training ist nur ein Aspekt. Und eine reine Fokussierung auf Training ist schon gar nicht erfolgversprechend.
? Wieso?
Ein Training dazu, wie Kommunikation im Krankenhaus, im OP, sinnvoll läuft, das ist etwas, was in der Medizin gerne als ein Teil von Human-Factors-Trainings annonciert wird. Das ist auch korrekt. Nur – ein Training alleine wird mich nicht retten. Denn danach kommen Menschen zurück in ihr Krankenhaus, und sagen wir mal, es war ein tolles Training, alle waren motiviert, alle haben perfekt gelernt, was sie sollten. Und jetzt kommen sie zurück in das Arbeitssystem und zwar in die gleichen Hierarchien, in die gleichen unklaren Arbeitsprozesse, die gleiche Überforderungssituation, den gleichen Zeitdruck. Und für die Praxis ändert sich nicht viel.
? Das muss ja nicht sein. Eine gute Krankenhausführung wird dafür sorgen, dass der Teilnehmer sein Wissen weiter gibt.
Ja, und das wäre genau der systemische Ansatz, den wir brauchen – zu sagen, es reicht nicht, dass einzelne Menschen etwas gelernt haben, sondern wir müssen gucken, wie setzen wir das um, wie ändern wir zum Beispiel Abläufe, damit wir Zeit für eine Teambesprechung haben. Ein Human-Factors-Ansatz platziert Trainings im Kontext von organisationalen Veränderungen.
? Publikationen und Vorträge auf Medizinerkongressen erklären, diesen Ansatz könnte die Medizin von der Luftfahrt lernen. Ist das so?
Die Luftfahrtbranche hat in der Tat diesen Gesamtansatz gelernt, nimmt das Gesamtsystem in den Blick. Von der Konstruktion der Flugzeuge, der Organisation der Abläufe, des Trainings, der Ausbildung, aber auch der Auswahl der Mitarbeiter, bis hin zur Analyse von Unfällen, wenn sie passieren, etc... Das heißt, Trainings sind in der Luftfahrt sehr wichtig, sind aber immer Teil einer umfassenden Suche nach maximaler Sicherheit für die Fliegerei. Daher gibt es heute auch einen Mentalitätsunterschied zwischen Piloten und Medizinern.
? Was meinen Sie?
Die Mentalität der Ärzteschaft und ich glaube, hier vor allem der Chirurgen, ist eher ein „künstlerisch-handwerkliches“ Verständnis. Während die Piloten seit langer Zeit in der „industriellen Arbeitsteilung“ leben. Die Zeit, dass Piloten die kühnen Helden in ihren fliegenden Kisten waren, ist mental in der Branche lange durch.
? Das hat man Piloten massiv abtrainiert?
Genau, da ist das Thema Personalauswahl und Training. Diese Aspekte stehen in der Medizin erst am Anfang. Es ist aus meiner Erfahrung für Mediziner sehr schwierig, zu akzeptieren, welch extremen Stellenwert das Arbeitssystem dafür hat, ob der Patient am Ende gut oder nicht ganz so gut aus dem Krankenhaus herausgeht.
? Wenn er zufrieden nach Hause geht, dann war es meine ärztliche Kunst, weil ich die künstliche Hüftprothese so toll eingefügt habe? So denkt der Arzt?
Zum Beispiel. Und es ist unbestreitbar auch ein richtiger Aspekt dabei. Es gibt die Künstler unter den Medizinern, die eine Implantation einer Prothese noch ein bisschen besser machen als andere. Aber sobald wir auf Fehler schauen, da lehrt uns ein Human-Factors-Ansatz: das Arbeitssystem muss so gestaltet sein, dass eine einzelne Person etwas falsch machen kann, ohne dass es zur Katastrophe kommt. Und es ist sehr schwierig für viele Ärzte, sich in so ein Denken hinein zu begeben. Sich als Teil eines Teams und eines Arbeitssystems zu sehen.
? Was heißt das genau, wenn ein Human-Factors-Training angeboten wird, was findet da wirklich statt?
Man kann sehr viel Verschiedenes darunter fassen. In den letzten Jahren hat sich aber eingebürgert, Dinge nach dem Vorbild eines Crew-Resource-Management-Trainings zu machen. Das wurde in der Luftfahrt, sagen wir mal grob, ab den 1980er Jahren, etabliert. Es ist eine Trainingsform, damit das Team oder die Crew alle Ressourcen aller Personen, die beteiligt sind, nutzt. Zum Beispiel Arbeitsbelastungen verteilt, gut kommuniziert, delegiert. Es ist ein Verhaltenstraining. In der Medizin läuft das häufig unter dem Terminus Team-Resource-Management oder auch Crisis-Resource-Management, da gibt es verschiedenste Namen.
CIRS, das Critical-Incident-Reporting-System, ist hingegen ein Tool des organisationalen Lernens. Da geht es darum, wie eine Organisation aus Fehlern oder aus Ereignissen lernen kann. Wenn ich ein Seminar mache über die Methoden eines Human-Factors-Trainings, würde ich CIRS mit einschließen. Ebenso wie Checklisten.
? Was ist mit einem Team Time Out – wieder ein eigenes Seminar nötig?
Der Team Time Out ist eine Methode, die man verwenden kann, damit Teams sicher arbeiten können, in der Luftfahrt heißt das Briefing. Bevor ich einen wichtigen Arbeitsschritt tue, zum Beispiel eine Operation starte, setzt sich das ganze Team hin oder steht um den Tisch herum und bespricht kurz: was tun wir heute, worum geht es, was sind die wichtigen Punkte, was sind die erwartbaren Komplikationen oder Gefahren, was tun wir, wenn... das Durchsprechen eines gemeinsamen Vorgehens.
Piloten und die Kabinen-Crew leisten das heute vor jedem Flug. In der Luftfahrt ist das verpflichtend. In der Medizin wirbt die WHO für ihre Surgical Safety Checklist, die dann auch Team-Time-Out-Elemente vorsieht.
? Ergo lassen sich dann aber Human Factors eben doch in ihrer Vielzahl trainieren?
Nein, man darf den Human-Factors-Ansatz nicht auf Trainingsaspekte reduzieren. Gerade Mediziner tendieren dazu, Human Factors auf den Verhaltensaspekt zu reduzieren, das, was einzelne tun und was trainierbar ist. Das springt zu kurz. Ein Training kann ein guter Einstieg in das Thema sein, aber eben auch nur das.
? Ohne Drehen auch an Systemschrauben ist mehr Patientensicherheit kaum zu haben?
Richtig. Man muss das System so auslegen, dass maximale Sicherheit erreicht wird. Human Factors will Strukturen verändern, aber damit sich Strukturen verändern, muss es natürlich Menschen geben, die verstanden haben, worum es geht.
? Das Thema Human Factors kommt wie das Generalthema Patientensicherheit heute auf Tagungen und zunehmend auch bei zahlungspflichtigen Kursangeboten vor, im Medizinerstudium hingegen kaum. Passt das zusammen?
Da haben die Universitäten sicher Nachholbedarf. Man kann und sollte Dinge wie richtige Kommunikation schon im Medizinerstudium trainieren. Man könnte sogar die Auswahl der Studierenden für Medizin danach gestalten, ob sie unter Aspekten von Human Factors wirklich zu dem Beruf passen.
? Am Ende sind die Ergebnisse aus Studien bislang nicht überragend, dass all diese angesprochenen Dinge die Patientensicherheit wirklich verbessern?
Die Studienlage ist in der Tat noch nicht so, wie man es sich erhoffen würde. Das liegt aber auch daran, dass wir ein extrem junges Feld beackern. Als große Bewegung ist das Thema Human Factors in der Medizin vielleicht 20 Jahre alt. Viele Dinge sind in einer rasanten Entwicklung und man kann nicht erwarten, dass man in so einem komplexen System wie dem Gesundheitssystem sofort weiß, wie es geht. Das ist noch in Entwicklung begriffen. Das Vorbild ist auch in diesem Punkt für mich die Luftfahrt, denn sie hat Human-Factors-Analysen und Modelle einfach eingeführt, damit begonnen, zu arbeiten – ohne schon mit Studiendaten belegen zu können, was das wirklich bringt.
Das Interview führte Bernhard Epping
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