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DOI: 10.1055/s-0036-1576950
Chirurgen! Internisten! Hört aufeinander!
Risiko SchnittstellePublikationsverlauf
Publikationsdatum:
08. März 2016 (online)
Interdisziplinarität – wer den Begriff als Modewort abtut, sollte bedenken: Wenn Fachbereiche bei der Patientenbehandlung kooperieren, passieren weniger Fehler. Wie sich fachübergreifende Zusammenarbeit im Klinikalltag umsetzen lässt, zeigt das Beispiel des Waldkrankenhauses in Bonn.
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Ein hochbetagter Patient kommt nach einem Sturz ins Krankenhaus. Ein klarer Fall für die Orthopädie. Wirklich? Christian Paul, Chefarzt der Unfallchirurgie des Waldkrankenhauses der Evangelischen Kliniken Bonn, sieht das anders. „Der eigentliche Aufnahmegrund ist ein internistischer, das haben wir früher unterschätzt. Wenn ein Patient nachts aus dem Bett fällt, weil er unruhig ist, gilt es nicht nur, den Bruch zu behandeln, sondern auch die Ursache der Unruhe.” Wenn Schwindel, Probleme der Halswirbelsäule, Durchblutungsstörungen des Gehirns oder Herzrhythmusstörungen zum Sturz führten, werden diese Ursachen genau so behandelt wie die Fraktur, erklärt Paul. Das bedeutet: Der Unfallchirurg und seine Kollegen in den anderen Abteilungen achten auf die Schnittstellen, die sich bei vermutlich multimorbiden Patienten ergeben. Denn Schnittstellen sind eine typische Fehlerquelle. Das hat die Initiative Qualitätsmedizin (IQM), zu deren 245 Mitgliedskliniken auch das Waldkrankenhaus gehört, bei der jüngsten Auswertung ihrer Daten im Jahrbuch 2012 festgestellt.
Gemeinsames Notfallzentrum für hochbetagte Patienten
Die evangelischen Kliniken Bonn arbeiten an diesen Schnittstellen: So hat das Waldkrankenhaus ein gemeinsames Notfallzentrum für hochbetagte Patienten eingerichtet. Ähnlich wie bei einem geriatrisch-traumatologischen Zentrum wird vor einer Operation das Risiko vom Chirurgen, dem diensthabenden Internisten und dem Narkosearzt gemeinsam eingeschätzt. Auch die kurzfristige Therapieoptimierung vor der Operation wird gemeinsam festgelegt. So lassen sich etwa entgleiste Elektrolyte oder Flüssigkeitsmangel ausgleichen. Auch bei Details wie dem Umgang mit dem EKG haben die Mediziner die Schnittstellen nun ganz klar im Blick: Sahen früher präoperativ nur die Anästhesisten das Elektrokardiogramm, so wird es jetzt zusätzlich dem Internisten vorgelegt – auch wenn der Befund zunächst als „unauffällig” gilt. „Das ist Mehraufwand, der sich aber für die Qualität lohnt”, sagt Christian Paul.
Im gemeinsamen Notfallzentrum findet auch die Sonografie aus zwei fachlichen Perspektiven statt: Zunächst nimmt der Chirurg, dann der Internist eine Ultraschalluntersuchung vor. Damit sinkt das Risiko, dass etwas übersehen wird, außerdem erhalten die Ärzte Informationen über den Krankheitsverlauf. Und: Jeder ältere Patient mit einem erhöhten Operationsrisiko kommt nach der OP auf die Intensivstation, weil die Grunderkrankung, die den Sturz verursacht hat, nach dem Eingriff fortbesteht. Die Zuständigkeiten sind klar: Solange der Patient beatmet wird und auf der Intensivstation liegt, sind die Anästhesisten für ihn verantwortlich, danach die Internisten. Bleibt der Patient wegen seiner Krankheit ein internistischer Fall, dann kommen zweimal wöchentlich zur Visite die Unfallchirurgen hinzu. Während früher das chirurgische Interesse im Vordergrund stand, werden heute hochbetagte Risikopatienten hauptsächlich von Internisten behandelt, die von Unfallchirurgen unterstützt werden.
Eine Internistin auf der Unfallchirurgie
Christian Paul fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit außerdem durch eine geriatrisch spezialisierte Internistin, die er in seinem Team eingestellt hat. Jeder ältere Patient wird grundsätzlich auch von ihr untersucht. Diese exotisch anmutende Konstellation hat nicht nur die Interdisziplinarität auf Station befördert, sondern auch die Kommunikation mit den Hausärzten, Internisten und den anderen Abteilungen verbessert – weil die Kollegin „dieselbe Sprache” spricht.
Auch die Nachbereitung komplizierter Fälle findet im Waldkrankenhaus interdisziplinär in regelmäßigen Konferenzen statt. Alle Abteilungen können Vorschläge einbringen. Die Konferenzen sind denkbar einfach strukturiert und umfassen, so erzählt Christian Paul, zwei Fragen: Was haben wir gut gemacht? Was würden wir beim nächsten Mal anders machen? Zusätzlich gibt es kleinere gemeinsame, interdisziplinäre Konferenzen, die sich mit Beschwerden von Patienten und Angehörigen beschäftigen – oder auch mit Fällen, in denen ein anderes Therapieziel als geplant erreicht wurde.
Interdisziplinäre Begutachtung bei unklarem Abdomen ist ein Muss
Die IQM empfiehlt eine vorstrukturierte interdisziplinäre Zusammenarbeit auch bei Schlaganfällen. Wenn alle gemeinsam – Neurologen, Internisten und Radiologen – am Aufnahmeprozess beteiligt sind, entschärft dies die Schnittstellenproblematik. So ist es bei Schlaganfallpatienten wichtig, dass die Bildgebung in den Prozess integriert wird – und das Ganze muss wegen des sechsstündigen Zeitfensters für eine Lysetherapie natürlich unter deutlichem Zeitdruck funktionieren, betont Oda Rink, die 16 Jahre Chefärztin der Chirurgie im St. Josefs Hospital in Bochum war und den IQM-Fachausschuss Peer Review leitet. Die IQM-Empfehlung lautet kurz und knapp: „Überprüfung der Prozesse und Schnittstellen von der Notaufnahme über bildgebende Diagnostik bis zur Stroke Unit/IMC.”
Interdisziplinarität ist für die Initiative Qualitätsmedizin kein Beiwerk, das unter dem Titel „Kommunikationsverbesserung” läuft, sondern vielfach unverzichtbar. Oda Rink illustriert dies anhand eines Falles mit letalem Ausgang, der auch im IQM-Jahrbuch 2012 aufgeführt ist: Ein Patient wird mit Bauchschmerzen aufgenommen. Pneumonie, so lautet die Diagnose. Freie Luft als Zeichen der Magenperforation im Röntgenbild haben die Ärzte zunächst übersehen und später trotz Nachweis eines Magengeschwürs versäumt, einen Protonenpumpenhemmer zu geben.
Ein solcher Fehler hätte bei einer interdisziplinären Behandlung vermieden werden können. Für IQM-Häuser wie dem Waldkrankenhaus steht deshalb fest: Bei jedem unklaren Abdomen muss eine interdisziplinäre Fallbegutachtung stattfinden!
Konsiliararzt-Prinzip in den Alltag integrieren
Ein gemeinsames Notfallzentrum, eine zweifache Sonografie und ein EKG, auf das sowohl Anästhesisten als auch Internisten schauen – vermutlich scheut das eine oder andere Klinikum den Aufwand, den das Waldkrankenhaus in Bonn auf sich genommen hat. Dennoch: Es gibt Minimalanforderungen an die Interdisziplinarität, die für jedes Haus absolut empfehlenswert sind. Oda Rink, die 16 Jahre Chefärztin der Chirurgie im St. Josefs Hospital in Bochum war und den IQM-Fachausschuss Peer Review leitet, rät dringend zur konsiliarischen Zusammenarbeit innerhalb eines Hauses. An einem Beispiel, das sie selbst erlebt hat, macht die Chirurgin deutlich, wie dies funktionieren kann: Einem adipösen Patienten geht es nach einer Kniegelenk-OP schlecht. Die Stationsärzte würden ihn gern auf die Intensivstation verlegen, die aber belegt ist. Was sollen sie tun? Wer entscheidet das weitere Vorgehen? Das Krankenhaus hat problematische Fälle wie diese mit einem Konsiliararzt der Intensivstation gelöst. Der Arzt sieht sich den Patienten und seine Akte an und entscheidet dann, ob er auf die Intensivstation verlegt werden muss. Nicht nur seine fachliche Kompetenz ist ein großer Vorteil: Er hat auch einen guten Überblick über die Intensivstation und weiß, ob einer der Patienten dort auf die Normalstation verlegt werden kann, um für den möglicherweise akuten Fall Platz zu machen.
Auch Mikrobiologen sollten zu Wort kommen
Die mangelnde Zusammenarbeit mit der Mikrobiologie ist laut IQM ebenfalls eine häufige Fehlerquelle. Auch an dieser Stellschraube haben die Mediziner im Bonner Waldkrankenhaus gedreht: Bei der Antibiotikatherapie gehen sie jetzt streng nach Standards vor. Ein Beispiel: Statt ein bis zwei Abstriche nehmen sie routinemäßig drei bis fünf ab, um die Diagnose zu sichern und Antibiotika präziser einzusetzen. Zum festen Prozedere gehört auch, nach zwei Tagen im Labor den Befund zu erfragen. Damit ist am dritten Tag klar, ob die Therapie greift. Auch Behandlungsalternativen lassen sich die Ärzte auf Station von der Mikrobiologie vorschlagen. Der Unfallchirurg Christian Paul ist zuversichtlich, dass dies Antibiotikakosten und Komplikationen senken wird. Erste Erfolgshinweise gibt es bereits im Waldkrankenhaus, auch wenn statistische Beweise noch ausstehen.
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