Deutsche Heilpraktiker-Zeitschrift 2016; 11(01): 74-79
DOI: 10.1055/s-0036-1579576
Magazin
Im Gespräch
© Karl F. Haug Verlag in Georg Thieme Verlag KG

Gesundheit im Kranksein finden


Subject Editor:
Further Information

Publication History

Publication Date:
23 February 2016 (online)

 

Summary

Ein Gespräch mit Professor Giovanni Maio


#
Zoom Image
© Oliver Lieber

Wer chronisch krank ist, kämpft nicht nur mit Symptomen, sondern auch einem Vorurteil: Selber schuld. Dabei brauchen chronisch Kranke vor allem eines: aufmerksame Zuwendung. Sie können sich dann trotz ihres Leidens gesund fühlen und ihre Krankheit als Teil ihres Lebens annehmen lernen. Ein Gespräch mit Professor Giovanni Maio.

Herr Professor Maio, haben wir heutzutage ein anderes Verständnis von Krankheit?

Die Gesellschaft durchläuft momentan einen grundlegenden Wandel im Verständnis von Krankheit und Gesundheit. Wir glauben zuweilen, Gesundheit vollständig kontrollieren zu können. Wir unterliegen einem Machbarkeitsglauben, der uns denken lässt: Wenn wir uns gesundheitsbewusst verhalten, werden wir nicht krank. Daran gekoppelt erscheint das Krankwerden als Versagen. Es ist eine relativ neue Blickrichtung, Krankheit nicht als Schicksal, sondern als Resultat eines Versäumnisses zu sehen. Oder sogar als persönliches Scheitern. Diese Verknüpfung ist verhängnisvoll, die Angst vor der Krankheit wird auf diese Weise verstärkt.

Zur Person

Professor Giovanni Maio war nach Medizinund Philosophiestudium als Internist tätig. 2000 habilitierte er sich im Fach Ethik in der Medizin. 2005 folgte er dem Ruf an den Lehrstuhl für Medizinethik an der Albert-Ludwigs- Universität Freiburg. Maio ist Autor zahlreicher Bücher und Zeitschriftenartikel. Er kritisiert die Machbarkeitsvorstellungen einer technisierten Medizin und die zunehmende Ökonomisierung der Medizin, die ihren sozialen Charakter dadurch verliert. Er ist Verfechter einer neuen Kultur der Zuwendung in der Heilkunde.

Zoom Image
© Oliver Lieber

Wir tun also alles dafür, nicht krank zu werden.

Das für sich genommen wäre ja absolut vernünftig. Aber unter der hypertrophen Angst verlernen wir den natürlichen Umgang mit uns selbst. Wir entfremden uns zunehmend von unserem Körper, weil wir ihn als Biokapital betrachten, in das wir ständig investieren müssen. In einer ökonomisierten Gesellschaft wird auch der eigene Körper einer Steigerungslogik unterworfen. Der moderne Mensch glaubt, er sei jederzeit dazu verpflichtet, das Maximum aus seinem Körper herauszuholen, in den er wie in eine Aktie investiert. Er wird als etwas gesehen, das optimal verwertet werden muss. Es gibt tatsächlich Menschen, die regelmäßig ihre Lungenkapazität überprüfen und bestrebt sind, diese ständig zu steigern. Sie sind der Meinung, je intensiver sie sich um die Steigerung ihrer physiologischen Werte kümmern, umso länger bleiben sie gesund.

Wie wirkt sich das aus?

Das ist eine Selbstentfremdung. Wir leben, bezogen auf unseren Körper, in einer Zeit der Überaufmerksamkeit. Deswegen boomt auch die Gesundheitswirtschaft mit ihrem Überfluss an Gesundheitsartikeln. Durch diese Überaufmerksamkeit geht aber auch die Unbekümmertheit des Lebens verloren. Wenn wir ständig nur darauf achten, dass unser Körper funktioniert, und wir ständig besorgt sind, die Gesundheit zu verlieren, dann vergessen wir, zu leben. Wir leben in einer Atmosphäre der Angst.

Woher kommt diese Angst?

Die Menschen spüren, dass sie aus dem Kreis der Geachteten herausfallen, wenn sie ihre Gesundheit verlieren. Sie wissen, dass man sich dann nicht mehr für sie interessiert. Gesundheit wird in unserer Gesellschaft mit Leistungsfähigkeit gleichgesetzt, und wer sie verliert, verliert auch an Wert und Anerkennung. Das ist das Grundproblem: Die Menschen denken so ökonomistisch, dass sie glauben, sie sind nur dann wertvoll, wenn sie absolut leistungs- und wettbewerbsfähig sind und sich gut präsentieren können.

Chronisch kranke Menschen haben also folglich keinen Platz mehr in unserer Gesellschaft.

Chronisch kranke Menschen haben – aller political correctness zum Trotz – in unserer Gesellschaft einen sehr schweren Stand. Wir leben in einer Zeit, in der wir dem Machbarkeitsglauben auch dahingehend aufsitzen, dass wir davon ausgehen, es existiere gegen jede Krankheit ein Rezept. Denken Sie an den chronischen Schmerz. Wir denken heutzutage nicht, dass wir Menschen mit chronischen Schmerzen helfen müssen, mit ihrem Leiden umzugehen. Wir denken: Dagegen muss es etwas geben. Hat der chronisch Schmerzkranke nach Jahren immer noch Schmerzen, dann suchen wir die Schuld bei ihm. Er hat dann in unseren Augen noch nicht das richtige Management gegen seine Schmerzen gefunden bzw. wendet es nicht richtig an. Wir setzen den Schmerzkranken damit enorm unter Druck und machen ihn implizit selbst dafür verantwortlich, dass er noch Schmerzen hat. Das Problem dabei ist aber, dass wir nicht anerkennen können, dass es chronische Schmerzformen gibt. Wir müssen akzeptieren lernen, dass es Dinge gibt, die man annehmen und mit denen man einen guten Umgang finden muss statt ein Leben lang gegen sie zu kämpfen. Je mehr man eine solche kollektive Machbarkeitserwartung pflegt, desto mehr versäumt man es, ein Leben mit der Krankheit, mit dem Schmerz zu erlernen. Der Machbarkeitsglaube wendet sich insofern gegen die chronisch Kranken.

Das heißt, die Gesellschaft unterstellt chronisch kranken Menschen, mitschuldig zu sein an ihrem momentanen Zustand?

Ja, dem kranken Menschen haftet ein Makel an. Das Kranksein wird heutzutage moralisch übertüncht. Kranksein wird nicht nur als ein Zustand angesehen, der Leiden und Verzicht auferlegt. Die Gesellschaft bewertet ihn negativ. Sie suggeriert, dass Kranke einen Beitrag zu ihrer Krankheit geleistet haben. Es liegt am Kranken selbst, dass er krank geworden ist. Denn nach unserem Verständnis von Gesundheit wird ja niemand krank, der sich gesundheitsbewusst verhält. Das ist ein Verhängnis. Wir müssen anerkennen, dass wir ständig bedroht sind von Krankheit, von außen, aber auch von innen, durch psychische Belastungen. Doch das wollen wir nicht wahrhaben.

Also ist der übergewichtige insulinresistente Diabetiker, der immer zu viel gegessen hat, selbst schuld an seiner Krankheit?

Bei Diabetes wissen wir, dass oft Lebensstilfragen maßgeblichen Einfluss auf die Krankheitsentstehung haben. Aber eben nicht immer. Wir unterstellen diesem Typ Diabetiker jedoch automatisch, dass er willensschwach ist und sich nicht wirklich um sich kümmert und gesundheitsbewusst verhält. Gerade diese Menschen geraten jedoch oft milieubedingt in so einen Zustand. Sie sind schlichtweg entsprechend sozialisiert worden, und anstatt dass man ihnen hilft, werden sie jetzt dafür angeklagt. Das funktioniert nicht. Gesundheitsgefährdendes Verhalten entsteht letztendlich aus sozialen Strukturen heraus. Das will unsere Gesellschaft nicht wahrhaben. Sie schreibt es allein der Eigenverantwortung zu. Eigenverantwortung kann man aber nicht einfach einfordern. Man muss sie vielmehr ermöglichen, sie pflegen, sie unterstützen. Es besteht ein Unterschied, ob ich Gesundheit fördere oder ob ich Gesundheit fordere. Letzteres ist schlichtweg kontraproduktiv. Denn Eigenverantwortung ist eine Befähigung, die entsteht, wenn sich ein Mensch in einer sozial stabilen Lage befindet. Einem marginalisierten Menschen am Rande der Gesellschaft ist nicht durch Androhung geholfen, sondern durch Unterstützung darin, aus diesen Verhältnissen herauszukommen. Eigenverantwortung kommt dann fast von alleine. Unser Problem ist, dass wir die Pflicht zur Gesundheit jedem auferlegen …

… ohne zu hinterfragen.

Ja, wir hinterfragen nicht mehr, was der Grund ist für das gesundheitsgefährdende Verhalten. Wir vergessen, dass Menschen in sehr prekären Verhältnissen oft gar keinen Freiraum haben, an ihre Gesundheit zu denken. Sie haben ganz andere Probleme, existenzielle. Das müssen wir mit reflektieren. Im Prinzip leben wir in einer Gesundheitsdiktatur. Wir erwarten vom Menschen, dass er gesund bleibt. Wenn nicht, dann grenzen wir ihn aus. Und wir leben in einer Präventionsgesellschaft, die meint, jeden Menschen mit dem Gedanken der Vorsorge belangen zu müssen. Wir vergessen, dass Prävention erst dort entsteht, wo Menschen Freiräume haben, sie wahrzunehmen.

Zoom Image
© Oliver Lieber

Braucht unsere Gesellschaft ein anderes Verständnis von Gesundheit und auch von Gesundung?

Unbedingt. Wir begreifen Gesundheit heute als absolute Funktionsfähigkeit des Organismus. Das ist ein völlig falsches Verständnis. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Funktionseinschränkung. Gesundheit muss man begreifen als inneres Potenzial, als eine Befähigung des Menschen, Widriges zu bewältigen. Insofern hat Gesundung auch damit zu tun, Menschen zu befähigen, mit Funktionseinschränkung umzugehen. Wenn man mit ihnen an ihrer inneren Einstellung zur Einschränkung arbeitet, kann man erreichen, dass sich körperlich versehrte Menschen absolut gesund fühlen. Es gibt keinen Organismus, der nicht einen Reichtum an gesunden Anteilen hat. Den Blick für diese Anteile müssen wir schärfen.

Wir müssen die Fähigkeit des Menschen, mit Einschränkungen umzugehen, viel stärker in den Fokus rücken. Insofern ist nicht derjenige gesund, dem nichts fehlt, sondern der, der am Leben teilhat und in dem das Gefühl aufkommt, ein volles Leben zu führen. Ob dieses Gefühl vorhanden ist, hängt stärker von der Mobilisierung innerer Ressourcen ab als von der Intaktheit des Organismus. Menschen werden aber gar nicht mehr dazu gebracht, diese Reserven zu mobilisieren. Man gibt ihnen zu oft einfach ein Mittel und sagt: Damit wird es besser. Gesundheit ist aber ein Potenzial, das in jedem selbst steckt und nicht erst durch ein Mittel aktiviert wird. In der Antike galt ein Zustand des Gleichgewichts als Sinnbild für Gesundheit. Dieses Verständnis fehlt dem modernen Gesundheitswesen.

Zoom Image
© Oliver Lieber

Es braucht dann aber auch eine andere Definition des Begriffs „chronische Erkrankung“.

Wir müssen bei chronischer Krankheit den gesamten Menschen sehen. Wir müssen fragen: Wie können wir ihm helfen, nicht einfach der Vorstellung hinterherzulaufen, die Krankheit loszuwerden, sondern anzuerkennen, dass es diese Krankheit gibt und sie Bestandteil der eigenen Biografie ist. Es steht dann nicht die Frage nach dem passenden Mittel im Fokus, sondern es stellt sich die Frage, wie der Mensch mit dieser Krankheit umgehen kann, sodass ein gutes Leben möglich ist. Es geht darum, dem chronisch kranken Menschen zu verdeutlichen, dass er trotz dieser Krankheit viele Freiheitsgrade hat – die er gerade noch verkennt. Wir Menschen fixieren uns auf die Einschränkungen, die Krankheit mit sich bringt. Die gibt es, natürlich. Aber wir dürfen uns selbst nicht auf das Kranksein reduzieren. Krankheit darf das Leben letztendlich nicht diktieren.

Wir vergessen zu leicht, dass Krankheit den Menschen mitnimmt auf einem Weg der inneren Verwandlung. Das Krankwerden ist der Beginn einer Metamorphose. Viele chronisch kranke Menschen beginnen in der Krankheit, das Leben anders zu betrachten. Sie reflektieren, was ihnen wirklich wichtig ist. Sie stellen ihr Leben um, hören auf, Zeit mit Oberflächlichem zu vergeuden. Sie realisieren die Kostbarkeit des Lebens und leben bewusster. Krankheit schärft Bewusstsein und kann der Beginn eines intensiveren Lebens sein.

Krankheit kann also auch gleichzeitig eine Heilung auf einer anderen Ebene initiieren, heilsam sein?

Krankheit kann insofern heilsam sein, als dass sie den Blick schärft. Sie raubt uns auch gewisse Illusionen. Beispielsweise, dass das Leben wie geplant verläuft, bis wir alt sind. Plötzlich erkennt man: Nichts ist planbar. Wir können uns nicht wirklich vorstellen, dass plötzlich etwas anders kommt, als es der Plan vorsieht. Dem kranken Menschen ist das klar geworden. Er weiß, dass er sich immer offenhalten muss für das Ungeplante und er erkennt, dass der neue Tag, den das Leben ihm eröffnet, ein geschenkter Tag ist. Leben ist nichts, was man auf dem Reisbrett entwirft, sondern etwas, das jeden Tag Neues bringen kann und bringt – sofern man dafür aufgeschlossen bleibt. Dieses Bewusstsein der Fülle des Lebens auch in beschränkten äußeren Rahmenbedingungen ist etwas, das kranke Menschen entwickeln – und das dem Gesunden verschlossen bleibt, weil er sich mit dem Gedanken an das Fragmentarische gar nicht anfreunden möchte. Obwohl er eigentlich dazu befähigt wäre. Erst die Krankheit zeigt ihm, was er alles kann.

Zoom Image
© Oliver Lieber

Behandlung schließt dann folglich auch ein, dem Kranken eine Auseinandersetzung damit zu ermöglichen.

Die Behandlung chronisch Kranker muss auch darin bestehen, gemeinsam mit ihnen einen Weg zu finden, im Leben mit der Krankheit neue Freiheiten zu entdecken; sie vor einer Selbststereotypisierung zu bewahren, durch die sie sich entwertet fühlen und ihr ganzes Leben nur noch unter dem Gesichtspunkt des Krankseins betrachten. Sie benötigen Unterstützung, damit sie erkennen können, wie viel sie selbst noch können. Wie viel gerade das kranke Leben noch an intensiven Erfahrungen, Erkenntnissen und Erlebnissen mit anderen Menschen bereithalten kann. Es ist wichtig, sie zu unterstützen, im Kranksein nicht den Blick für die Zukunft zu verlieren. Jeder, der krank ist, hat ja auch noch eine Zukunft, die er gestalten kann.

Die moderne Medizin betreibt lediglich Reparatur und suggeriert ständig: Das lässt sich wieder beheben. Das ist ein sehr defizitäres Denken, und diese Suggestion hat mit dem Menschen, der krank geworden ist, gar nichts zu tun. Man muss dem chronisch kranken Menschen vielmehr helfen, sich in ein Verhältnis zum Kranksein zu setzen und zu sagen: Ja, ich bin krank, aber wie ich damit umgehe, bestimme ich selbst. Auf die Krankheit habe ich vielleicht keinen Einfluss, aber darauf, wie ich damit lebe. Ich finde meinen individuellen Weg, mit den krankheitsbedingten Einschränkungen umzugehen. Diesen Weg gilt es herauszufinden, und da taugen keine Patentrezepte. Der Behandelnde weiß nicht besser als der kranke Mensch selbst, was diesem guttut. Seine Aufgabe ist es, das gemeinsam mit dem Kranken herauszufinden. Jeder Mensch hat andere Potenziale, andere Fähigkeiten, jeder hat etwas, woran ihm besonders gelegen ist. All das gilt es zu entdecken und zu fördern.

Die moderne Medizin beachtet das viel zu wenig. In der modernen Medizin misst man alles Mögliche, aber man spricht nicht. Und wer nicht spricht, der findet nicht heraus, wie er die individuellen Heilkräfte des Gegenübers wecken kann, die ja jeder in sich trägt. Es sind Potenziale, die wir nicht einfach messen oder naturwissenschaftlich erfassen können. Wir können uns ihnen nur im Gespräch nähern und indem wir uns dem anderen Menschen zuwenden. Das ist die heilsame Kraft der Zuwendung: Wenn ich mit dem anderen gemeinsam entdecke, wie er sich trotz der Funktionseinschränkung gesund fühlen kann.

Die Behandlung chronisch Kranker ist also die aufmerksame Zuwendung, das Einlassen auf den anderen. Sich Zeit für ihn nehmen.

Ja. Behandlung heißt aber auch, zusammen mit dem Kranken Korrekturen zu wagen. Es gibt Fehlannahmen, Illusionen, Irrtümer. Man muss zusammen mit dem Kranken Lebensvorstellungen korrigieren. Das funktioniert nicht, indem man ihn bevormundet und sagt: Du muss das Leben ab jetzt so und so gestalten. Die chronische Krankheit macht den Kranken zu einem anderen Menschen, das habe ich vorhin als Metamorphose bezeichnet. In welche Richtung er sich verändert, wie diese Verwandlung also verläuft, ist auch davon abhängig, mit wem der Kranke spricht, wer ihn behandelt. Der Behandelnde hat eine große Verantwortung. Es ist an ihm, den Patienten in eine Richtung zu bringen, die heilsam ist. Er kann sie nicht vorgeben, aber der Behandelnde kann sie gemeinsam mit dem Kranken herausfinden und dazu motivieren, diesen Weg weiterzugehen.

Heilsame Zuwendung bedeutet, verstehen zu lernen, was der andere fühlt, und auch, warum er so fühlt. Behandlung hat auch damit zu tun, das Jetzige in einen größeren Kontext zu stellen. Die Augenblicksbezogenheit eines bestimmten Gefühls zu sprengen und den größeren Rahmen zu erkennen. Das ist nur möglich, wenn man dem Patienten zuhört und versucht, seine Lebensgeschichte zu verstehen. Wenn man diese nicht versteht, kam man auch das Symptom nicht verstehen. Der Behandelnde muss dem Kranken helfen, selber zu erkennen, wie er das, was er jetzt und heute fühlt, in den Kontext seiner Lebensgeschichte, seines Umfeldes, seiner Vorstellungen von Zukunft zu stellen hat. Zuwendung im Sinne des Verstehen-Wollens ist ein sehr anspruchsvoller Prozess. Man darf dabei nicht einfach nur Nähe vermitteln. Ich finde, der Behandelnde muss emotionale Wärme authentisch vermitteln und persönliche Nähe selbst verspüren können. Er muss aber auch zugleich Distanz wahren. Distanz ist wichtig, nur dadurch lässt sich in einen größeren Kontext stellen, was der Kranke gerade fühlt. Der Behandelnde kann ihm nur dann weiterhelfen, wenn er mehr sehen kann als der in seiner Krankheit Gefangene. Aber das macht den Behandelnden ja genau zum professionellen Helfer, dass er beides kann: Nähe vermitteln und Distanz wahren.

Das sind hohe Anforderungen an einen Behandelnden.

Natürlich! Wenn Sie wirklich helfen wollen, dann ist das sehr anspruchsvoll. Ich finde aber, dass gerade Heilpraktiker die Chance haben, mit dem kranken Menschen in eine professionelle und zugleich zwischenmenschliche Beziehung zu treten, die für den anderen eine heilsame Kraft entfalten kann. Und das auch dadurch, dass er das Bewusstsein erhält, es wert zu sein, dass ein professioneller Behandler ihm sein Ohr schenkt. Durch dieses Zuhören kann dem kranken Menschen letzten Endes vermittelt werden, dass er mit seinem Problem nicht alleine ist und dass er keinen Grund hat, sich der Krankheit ausgeliefert zu fühlen. Weil es mehr auf die innere Einstellung zur Krankheit ankommt als auf die Prozeduren. Der Heilpraktiker kann den kranken Menschen dadurch in gewisser Weise heilen, dass er ihm aufzeigt: Nein, du bist der Krankheit nicht ausgeliefert, du kannst die Krankheit bezwingen und zwar nicht dadurch, dass sie weggezaubert wird, sondern dadurch, dass du einen solchen Umgang mit ihr erlernst, dass sie dich nicht in der Weise behindert, wie sie dich augenblicklich behindert. Wenn ihm bei dieser zentralen Bewältigungsarbeit niemand hilft, verzweifelt der kranke Mensch, verschließt er sich. Die meisten Menschen sind von der modernen Medizin deshalb auch so enttäuscht, weil ihnen dort niemand hilft, sie nicht bei diesem anspruchsvollen, aber zutiefst heilsamen Prozess begleitet. Stattdessen werden ihnen einfach immer wieder neue Mittel verabreicht, und mit jedem Mittel erwächst aufs Neue im Kranken die Erwartungshaltung, dass das Mittel alles ändern wird. Der kranke Mensch wird durch die Einseitigkeit der modernen Medizin unweigerlich zum Opfer seiner eigenen Machbarkeitserwartung gemacht, ohne dass sich jemand findet, der diese internalisierte Erwartung aufsprengt und sie ummünzt in ein ganz anderes Bewusstsein der Machbarkeit des eigenen Glücks: Der Machbarkeit durch die selbstbewusste Wahl der eigenen Einstellung zur Krankheit, zur Welt, zu den anderen Menschen. Wenn man den Patienten stattdessen in seiner Machbarkeitserwartung bestärkt durch rituelles Zelebrieren technischer Verfahren, so gipfelt das in einem sinnlosen Aktionismus ohne Maß und in einer Umtriebigkeit, die alle unglücklich macht. Daher muss man eben beides tun: Von außen Einfluss nehmen, wenn Aussicht auf Erfolg besteht. Aber zugleich und von Anfang an muss man die innere Mitwirkung als einen zentralen Bestandteil der Behandlung sehen. Es ist wichtig, frühzeitig auf die Grenzen des Machbaren zu verweisen und den Menschen in geduldigem Verweilen, durch Zuhören, Verstehen und Begleiten dabei zu helfen, dass er nicht verzweifelt an der Krankheit. Auch wer in seinem Radius begrenzt ist, hat immer noch die Möglichkeit, Fülle im Fragmentarischen zu erleben. Dieses offen bleibende Bewusstsein der Fülle im Fragment muss man chronisch kranken Menschen verdeutlichen. Ein erfülltes Leben zu führen, ist schlichtweg kein Privileg des unversehrten Menschen, sondern allzu oft die Auszeichnung des versehrten und doch auf seine Weise gesunden Lebens.

Erleben Sie Professor Giovanni Maio beim 33. Deutscher Heilpraktikertag!

Am 23. April 2016 hält Professor Giovanni Maio den Eröffnungsvortrag des Kongresses zum Thema „Chronische Erkrankungen“.

VERLOSUNG
Zoom Image

DHZ-Plus


Die DHZ verlost 5-mal das Buch „Medizin ohne Maß?“ von Giovanni Maio.


Schicken Sie eine Postkarte mit dem Stichwort „Ethik“ an die DHZ-Redaktion, Georg Thieme Verlag, Rüdigerstr. 14, 70469 Stuttgart.


Einsendeschluss ist der 25.03.2016.

Herr Professor Maio, herzlichen Dank für das interessante Gespräch.

Interview: Christian Böser

Dieser Artikel ist online zu finden: http://dx.doi.org/10.1055/s-0036-1579576


#
Zoom Image
© Oliver Lieber
Zoom Image
© Oliver Lieber
Zoom Image
© Oliver Lieber
Zoom Image
© Oliver Lieber
Zoom Image
© Oliver Lieber
Zoom Image