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DOI: 10.1055/s-0040-100266
Wer war's – Pizza, Ofen, Wasserpfeife?
Publication History
Publication Date:
08 May 2015 (online)
- Ruhe vor dem Sturm
- Verdacht auf „Pizzavergiftung“
- CO-Vergiftung
- Ursache: Wasserpfeife und Kohleofen
- Lebensgefahr
- Noch ein Patient?
- Hyperbare Sauerstofftherapie
- Kontraindikationen ausschließen
- Info ans Team
- Ende gut, alles gut
An einem vermeintlich ruhigen Morgen in der Notaufnahme bekommt es Alexandra Schäfer[*] gleich mit drei jungen Männern auf einmal zu tun: Verdacht auf Lebensmittelvergiftung. Die Diagnose entpuppt sich schnell als falsch, und dann stellt sich die Frage: Schwebt eine Angehörige der Patienten eventuell in Lebensgefahr?
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Ruhe vor dem Sturm
Dr. Alexandra Schäfer[*] hat 13 Jahre Erfahrung in der Notfallmedizin. Sie arbeitet in einer der größten Notaufnahmen Hamburgs. Es gibt wenig, das sie noch nicht gesehen hat. „Vieles, das andere überrascht, ist für mich normal geworden“, sagt die Notärztin. An diesem Mittwoch hat sie Nachtdienst, ihre Schicht ist fast vorbei. Ein milder Frühlingstag kündigt sich an, und es ist ruhig in der Notaufnahme. Doch der Morgen hält auch für die versierte Ärztin noch ein Novum bereit.
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Verdacht auf „Pizzavergiftung“
Gegen 6:30 Uhr bringt der Rettungsdienst drei junge Männer in die Klinik. Zwei von ihnen sind 19, der dritte ist 25 Jahre alt. Sie klagen alle über die gleichen Symptome: starke Übelkeit, Drehschwindel und Kopfschmerzen. „Der Rettungsdienst hat die drei mit Verdacht auf Lebensmittelvergiftung eingeliefert, aber mir war ziemlich schnell klar, dass die Symptome nicht zu dieser Diagnose passen“, erinnert sich Schäfer. Nach Darstellung des jüngsten der Patienten, Lukas, hat sich der Abend zuvor folgendermaßen abgespielt: Seine beiden Freunde wollen bei ihm übernachten, gegen 22 Uhr bestellen sie Pizza. Morgens, so gegen 5 Uhr, wachen sie dann mit Durchfall auf und müssen zur Toilette.
Doch als Marco, einer der 19-Jährigen, aufstehen möchte, bricht er zusammen und krampft. Seine Freunde eilen ihm zu Hilfe und verständigen den Rettungsdienst. Christian, der älteste der drei, versucht, den Mund seines Kumpels zu öffnen. Marcos Krampfanfall dauert an, und so beißt er Christian unabsichtlich in den rechten Mittelfinger. Jetzt bekommen Lukas und Christian es mit der Angst zu tun. Sie packen ihren Freund und tragen ihn auf die Straße, in der Hoffnung, dem Rettungswagen entgegen zu gehen. Zufällig begegnet den jungen Männern dort ein Notarzt. Dem wenig später eintreffenden Rettungsteam versichert dieser: „Die drei haben sich bloß den Magen an einer Pizza verdorben.“ Also werden die Patienten liegend in die Notaufnahme transportiert, sie bekommen weder eine Infusion, Sauerstofftherapie, Monitoring, noch Medikamente.
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CO-Vergiftung
Kopfschmerzen, Schwindel, Krampfanfall? Alexandra Schäfer wird sofort hellhörig: „Ich habe gleich an eine Kohlenmonoxid-Vergiftung gedacht.“ Als erstes nimmt die Ärztin den jungen Männern Blut ab. Die venöse Blutgasanalyse zeigt massiv erhöhte Carboxy-Hämoglobin-Werte (CO-Hb) und bestätigt damit ihre Einschätzung. „Der Patient mit dem Krampfanfall hatte einen CO-Hb-Wert von 40 %. Das entspricht einer mittelschweren CO-Vergiftung.“ Die Werte der beiden anderen liegen bei 30 %. Auch die Rettungsassistenten sind gespannt auf die Ergebnisse. „Sie wollten natürlich wissen, was es ist, weil ich sofort gesagt habe, eine Lebensmittelvergiftung passe nicht zu den Symptomen.“ Dr. Schäfer verabreicht ihren Patienten hochkonzentriert Sauerstoff über eine Reservoirmaske sowie je 1 g Novalgin und 1 Ampulle Vomex in 500 ml Ringerlösung gegen die Kopfschmerzen und Übelkeit. Toxikologie-Screening sowie 12-Kanal-EKG sind unauffällig.
Nur ein glücklicher Zufall rettet ihnen und ihrem Freund das Leben.
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Ursache: Wasserpfeife und Kohleofen
Bleibt die Frage, wie es zur CO-Vergiftung kam? „Als ich nachgehakt habe, stellte sich heraus, dass die drei am Vorabend so gegen Mitternacht eine Stunde Wasserpfeife geraucht hatten“, erzählt Schäfer. Um die Kohle anzuzünden, benutzten sie einen kleinen Zierofen ohne Kaminanschluss. Sowohl Pfeife als auch Ofen blieben im unbelüfteten Zimmer, als sie sich schlafen legten. „Als wir darüber gesprochen haben, dämmerte es den dreien allmählich. Sie hatten auch schon in der Schule über die Gefahr einer CO-Vergiftung beim Wasserpfeiferauchen gesprochen.“ In diesem Fall war wohl zusätzlich der Ofen schuld: Kohlenmonoxid entsteht, wenn Kohlenstoffe unvollständig verbrennen, und bindet nach Inhalation mit einer 240-fach höheren Affinität reversibel an das Häm-Eisen. Dabei entsteht Carboxyhämoglobin, und die Sauerstoffdissoziationskurve verschiebt sich nach links. „Die Symptome können sehr unspezifisch sein, bei höheren Konzentrationen kann es aber zu Bewusstlosigkeit, Krampfanfällen und Herzrhythmusstörungen kommen“, erläutert die Ärztin [Tab. 1].
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Lebensgefahr
Weshalb einer der drei jungen Männer einen 10 % höheren CO-Hb-Wert hat als beiden anderen, lässt sich nicht nachvollziehen. „Vielleicht war Marco näher am Ofen, oder einfach prädisponiert“, spekuliert Schäfer. Als er in der Notaufnahme ankommt, ist er schon seit einer Stunde aus dem Zimmer draußen und hat CO abgeatmet. Trotzdem ist sein CO-Hb noch sehr hoch. „Beim Krampfanfall lag der Wert sicher noch bei 50 %. Wenn seine Freunde ihn nicht so schnell an die frische Luft getragen hätten, hätte er wahrscheinlich Herzrhythmusstörungen entwickelt, die in einen Kreislaufstillstand münden können.“ Eins ist klar: Lukas und Christian haben ihrem Freund das Leben gerettet. Ihnen selbst hat nur der Zufall geholfen: Wären sie nicht aufgewacht oder wieder eingeschlafen, hätte der Vorfall für sie tödlich enden können.
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Noch ein Patient?
„Als feststand, wie es zur CO-Vergiftung gekommen war, habe ich natürlich sofort gefragt, ob sich weitere Personen in dem Haus aufgehalten haben“, erzählt Dr. Schäfer. Erst jetzt denkt Lukas an seine Mutter, die im Zimmer nebenan geschlafen und den Notarzteinsatz offenbar nicht mitbekommen hat. Er versucht sofort, sie anzurufen. Das Telefon klingelt und klingelt, aber niemand hebt ab. Lukas ist völlig aufgelöst: Womöglich ist seine Mutter schon bewusstlos. „Ich habe dann umgehend die Feuerwehr verständigt“, erinnert sich Schäfer. Doch auch auf das Klingeln an der Haustür reagiert Lukas' Mutter nicht. Das Einsatzteam macht sich auf das Schlimmste gefasst und bereitet sich darauf vor, die Tür gewaltsam öffnen zu müssen. Zur Sicherheit drücken sie ein letztes Mal die Klingel – da öffnet sie endlich. Ihr geht es gut. Die Feuerwehrmänner messen noch die CO-Konzentration in Lukas' Zimmer: noch immer deutlich erhöhte Werte! Sie reißen die Fenster weit auf, und das Problem ist schnell behoben.
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Hyperbare Sauerstofftherapie
Erst als sie sicher sind, dass Lukas' Mutter gesund ist, lassen sich die drei jungen Männer bereitwillig weiter behandeln. Christians Bisswunde wird mit einem Desinfektionsmittel chirurgisch gesäubert, prophylaktisch bekommt er 7 Tage Clindamycin verschrieben. Sein Tetanusschutz reicht noch aus. „Ich habe die drei dann am EKG-Monitor überwacht und regelmäßig die venösen Blutgase analysiert“, erzählt Schäfer. „Außerdem bekamen sie weiterhin Sauerstoff, erst noch über Masken, später über Nasenbrillen.“
Trotz der Behandlung reagiert Marco jedoch immer noch verlangsamt und ist auffällig still, an den Vorabend kann er sich nicht erinnern. „Deshalb habe ich gegen 7:30 Uhr Rücksprache mit dem nächstgelegenen Giftnotruf gehalten“, erklärt die Ärztin. Sie entscheiden sich gemeinsam für eine hyperbare Oxygenierung – in Rücksprache mit Schäfers Oberarzt. Die Therapie ist umstritten, aber hier angebracht: „Gerade bei so hohen CO-Hb-Konzentrationen mit neurologischen Defiziten lassen sich damit Folgeschäden wie Cephalgie und Schwindel vermeiden, die die Patienten sonst noch Wochen begleiten können“, so die Ärztin. Für sie bedeutet das, bis zum Ende ihrer Schicht einiges organisieren zu müssen.
„An eine akute CO-Intoxikation hätten meine Kollegen nicht gedacht.“
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Kontraindikationen ausschließen
„Vor Ort haben wir keine Überdruckkammer, aber die Branddirektion betreibt eine für Notfälle.“ Dr. Schäfer informiert die entsprechende Feuerwache, damit die Druckkammer einsatzbereit ist. Der Betrieb ist mit erheblichem Aufwand verbunden: Ein Tauchermeister und ein Taucher der Berufsfeuerwehr bedienen die Kammer; ein Taucharzt sowie ein Rettungsassistent mit der Zusatzausbildung Tauchmedizin werden zusammen mit dem Patienten eingeschleust und betreuen ihn medizinisch. Doch bevor es losgehen kann, muss überprüft werden, ob beim Patienten Kontraindikationen bestehen. „Wir mussten einen Pneumothorax ausschließen. Ich habe Marco also röntgen lassen“, sagt Schäfer. Außerdem untersucht ein HNO-Arzt Marcos Trommelfell und seine Nasennebenhöhlen: Der Patient muss einen Druckausgleich schaffen können. Endlich steht das OK, und Marco wird in die Feuerwache gebracht. Je 15 min dauert das Ein- bzw. Ausschleusen. In der Kammer selbst bleibt er 90 min bei 100 % Sauerstoff und 2,8 bar. Die Behandlung verläuft problemlos. Anschließend kann der Patient nach Hause entlassen werden, eine Nachsorge ist nicht nötig.
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Info ans Team
Während Marco auf die Sauerstofftherapie vorbereitet wird, stehen Lukas und Christian weiter unter medizinischer Beobachtung. Gegen 9 Uhr, kurz vor Ende ihrer Schicht, misst Alexandra Schäfer ein letztes Mal die CO-Hb-Werte: Sie liegen um die 12 %. Anschließend übernimmt der Frühdienst das Monitoring. Bei der Übergabe bespricht das Team den Fall ausführlich, denn: „Von meinen Kollegen wäre keiner auf die Diagnose CO-Intoxikation gekommen. Sie hätten es als Lebensmittelvergiftung laufen lassen.“ Für die drei Patienten hätte das vermutlich keine großen Konsequenzen gehabt, eventuell wäre es aber Lukas' Mutter zum Verhängnis geworden. Eine Lebensmittelvergiftung konnte Alexandra Schäfer jedoch von Anfang an ausschließen. „Es war zwar die erste CO-Vergiftung, die ich zu Gesicht bekommen habe, aber ich kannte die Symptome.“ Die Ärztin hat zufällig kurz zuvor einen Artikel über Kohlenmonoxid-Intoxikationen gelesen: „Die Autoren haben vor CO-Suizid-Versuchen in geschlossenen Räumen gewarnt. Laufen Rettungskräfte unbedacht in so eine Situation hinein, kann das sehr gefährlich werden: Bereits nach drei Atemzügen wird man bewusstlos!“
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Ende gut, alles gut
Als die CO-Hb-Werte der beiden jungen Männer gegen 15:30 Uhr dann auf 1 % gesunken sind, können auch sie die Notaufnahme verlassen. Von Alexandra Schäfer bekommen sie ein großes Lob mit auf den Weg: „Es war extrem couragiert, wie Lukas und Christian intuitiv richtig gehandelt und ihren Freund aus der Gefahrenzone getragen haben – obwohl er gekrampft und sie gebissen hat. Das fand ich richtig gut!“
Julia Hecht, Katharina Jäger
Schlüsselerlebnis – Ein Anruf genügt
Hatten auch Sie ein persönliches Schlüsselerlebnis? Ob positiv oder negativ – in Lege artis können Sie davon erzählen und Ihre Kollegen am konkreten Beispiel lernen lassen. Sie erreichen die Redaktion unter Tel. 0711/8931-684 oder per E-Mail: legeartis@thieme.de. Sie schildern Ihr Erlebnis – wir schreiben den Text. Und natürlich garantieren wir absolute Vertraulichkeit.
Kommentar von Prof. Dr. med. Peter R. Galle
Direktor der I. Medizinischen Klinik und Poliklinik der Universitätsmedizin Mainz und Mitherausgeber der Lege artis.
Vermeintlich klare Diagnosen hinterfragen!
Zu Recht von der Einweisungsdiagnose distanziert In dem beschriebenen Fall hat die Ärztin der Notaufnahme alles richtig gemacht – und sich dabei früh von der Einweisungsdiagnose entfernt. Angesichts der gemeinsamen Abendmahlzeit und der sich anschließenden gastrointestinalen Symptomatik aller drei Beteiligten ist die vermeintliche Lebensmittelvergiftung naheliegend, doch sie entpuppt sich als akzidentelle CO-Vergiftung. Damit wird aus einer harmlosen Verdachtsdiagnose eine lebensbedrohliche endgültige Diagnose.
Auf innere Zweifel hören Alexandra Schäfer hat dabei ein Grundprinzip guter Medizin geholfen: das Infragestellen von Befunden oder Diagnosen, wenn sie nicht zum Patienten passen.
Ein zufällig anwesender Notarzt hat auf Lebensmittelvergiftung getippt, das Rettungsteam hat diese Diagnose übernommen – Dr. Schäfer aber nicht. Der Krampfanfall wollte nicht so recht dazu passen, auch die Kopfschmerzen nicht. Zugegeben: All diese Symptome sind hinreichend unspezifisch. Aber wenn der Zweifel nagt, ist das Überdenken sinnvoll.
Auch in diesem Fall war es dann – wie so oft – die Anamnese, die weiterhalf: Ein offenes Feuer, ein Kohleöfchen für die Shisha in einem geschlossen Raum lassen in Verbindung mit Kopfschmerz schnell an die CO-Intoxikation denken. Wie gefährlich die unreflektierte Übernahme von Diagnosen sein kann, sieht man am Verhalten des Rettungsteams, das wichtige Erstmaßnahmen bei CO-Vergiftung unterließ, da es sich in der Sicherheit einer harmlosen Diagnose wiegte.
An weitere Betroffene denken Und noch etwas hat Alexandra Schäfer gut gemacht: Sie war sich bewusst, eine Diagnose gestellt zu haben, die über den unmittelbar betroffenen Patientenkreis hinaus eine Umgebungsanalyse erfordert: Sind weitere Personen dem CO ausgesetzt gewesen? Gifte und Infektionserreger sind potenziell übertragbare Agenzien und erfordern im Einzelfall eine Umgebungsdiagnostik, die – zur Erleichterung aller – hier am Ende negativ ausfiel.
Was passt, was passt nicht? Beispiele für falsche Fährten gibt es in der Medizin viele:
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der vermeintlich unauffällige Koloskopiebefund, der – beim zweiten Lesen – auf Restverschmutzungen hinwies, unter denen sich am Ende ein Kolonkarzinom verbarg
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der unauffällige Ultraschallbefund, dessen „leicht inhomogenes Leberparenchym“ man nicht als diffuse Lebermetastasierung erkannte
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die verwechselte Blutentnahme, die – fälschlich – Besserung signalisierte
Es ist von großer Wichtigkeit, Befunde und Diagnosen immer wieder in Würdigung des Zustands des Patienten zu hinterfragen – am besten am Patientenbett.
Fazit Der Patient in der Notaufnahme ist immer für eine Überraschung gut – und das Offensichtliche ist in der Medizin nicht immer richtungsweisend!
Beitrag online zu finden unter http://www.dx.doi.org/10.1055/s-0040-100266
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* Namen und Orte geändert