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DOI: 10.1055/s-0041-100152
Blutungskomplikationen unter oraler Antikoagulation
Bleeding complications under oral anticoagulationPublication History
Publication Date:
06 February 2015 (online)
Ad 1 Die Leserzuschrift ist selbst ein Beleg für die von mir vertretene These, dass im klinischen Alltag die Sicherheit der Vitamin-K-Antagonisten (VKA) und die Wirksamkeit der Antagonisierung überschätzt und die Sterblichkeit nach VKA-assoziierter schwerer Blutung häufig sehr unterschätzt wird. Die Anmerkungen in den Punkten 2–5 zeigen, dass die Autoren trotz der von mir dargelegten und an über 100 000 Alltagspatienten erhobenen bedenklichen VKA-Sicherheitsdaten (inkl. einer ca. 15 %igen Mortalität nach schwerer VKA-Blutung) die Ansicht vertreten, dass die VKA-Therapie per se sicher ist oder durch eine straffe INR-Einstellung zu einer sicheren Therapie wird. Das in zahlreichen Studien belegte schlechte Outcome nach schweren VKA-Blutungen – ein zentraler Punkt meiner Stellungnahme – lassen die Autoren allerdings unkommentiert.
Zu bedenken ist, dass sich mein Statement ausdrücklich auf Patienten bezieht, die im Alltag eine VKA-Therapie erhalten. Ich stimme mit den Autoren völlig überein, dass die aus der jahrzehntelangen Tradition der VKA-Behandlungen erworbenen Bedenken dazu führen, dass ein inakzeptabel hoher Anteil an Patienten mit Vorhofflimmern (VHF) trotz hohem Schlaganfallrisiko nicht antikoaguliert wird. Hier sind Sicherheitsbedenken oft, aber nicht immer gerechtfertigt und gerade in dieser Patientenpopulation dürften die NOACs zu verbesserten Therapieangeboten führen, wie u. a. die AVERROES-Studie nahelegt. [[1]]
Ad 2 In der Tat kann die Qualität der INR-Einstellung in den Zulassungsstudien der NOACs bemängelt und optimiert werden. Wir sollten bei der Betrachtung der externen Validität von Zulassungsstudien (= Übertragbarkeit der Studienergebnisse auf den Alltag) aber bedenken, dass keine zuverlässigen Aussagen über die Güte der INR-Einstellung im deutschsprachigen Raum existieren und die noch am besten aussagekräftigen Daten zeigen, dass bspw. in AFNET in der VKA-Ära nur 65–77 % der Patienten mit Indikation zur Antikoagulation überhaupt nur eine adäquate Antikoagulation erhielten, wobei in Hausarztpraxen sogar nur weniger als 60 % adäquat antikoaguliert waren [[1]]. In einer Analyse von McBride at al aus dem Jahr 2007 zeigte sich ebenfalls, dass weniger als 60 % der INR-Werte von VKA-Patienten in deutschen Arztpraxen im therapeutischen Bereich lagen [[2]].
Ad. 3 Mit dem Verweis auf eine exzellente INR-Einstellung in Deutschland („81,4 %“) liegen die Autoren falsch. Wenn man die zitierte Arbeit (eine Subgruppenanalyse aus PREFER-AF; [[3]]) genau liest, findet man, dass 79,2 % der VKA-Patienten in Deutschland eine „adäquate“ Einstellung hatten, was definiert war als „2 von 3 INR-Messungen im Zielbereich“. Folglich hatten nur knapp 80 % der Patienten in Deutschland eine „adäquate“ Einstellung, definiert als eine TTR von mindestens 66 %.
Drastisch überschätzt wird im Alltag, dass eine stabile INR-Einstellung vor schweren Blutungskomplikationen schützt. Es ist immerhin bekannt, dass ein relevanter Anteil der schweren Blutungen (und ca. 50 % der Hirnblutungen) unter VKA im „optimalen“ INR-Bereich 2–3 auftreten [[4]].
Wir konnten kürzlich zeigen, dass in den Arztpraxen unseres NOAC-Registers noch immer hunderte von VHF-Patienten mit VKA behandelt werden, wobei sich eine angesichts der oben genannten Daten eine außergewöhnlich gute INR-Einstellung belegen lässt (TTR 72 %). Die Rate an schweren VKA-Blutungen im 12-Monats-Follow-up bei diesen selektierten und gut geführten Patienten lag mit über 4 % / Jahr trotzdem deutlich über den Raten, die wir in unseren Dabigatran- und Rivaroxaban-Registerkohorten beobachtet haben, obwohl die NOAC-behandelten Patienten in diesen Arztpraxen im Vergleich zu den VKA-Patienten mehr Komorbiditäten zeigen [[5]].
Ad 4 Immer wieder wird die „Selbstmesssung“ als Argument für eine verbesserte VKA-Sicherheit angeführt. Realistisch ist dieses Argument nicht: Die zitierte Arbeit von Le Heuzey et al. (Subgruppenanalyse von PREFER-AF; [[3]]) belegt, dass in Deutschland nur etwa 10 % der Patienten Zugang zu einer Selbstmessung haben. Darüber hinaus wurde die als Sicherheitsbeleg zitierte Meta-Analyse von Heneghan et al. [[6]] falsch interpretiert: Während die an nahezu 6500 Patienten erhobenen Daten eine signifikante Reduktion thromboembolischer Ereignisse durch INR-Selbstmessung zeigten, ließ sich kein Effekt der Selbstmessung auf die Rate schwerer Blutungen oder auf die Gesamtsterblichkeit nachweisen. Dazu kommt, dass in dieser Meta-Analyse nur 53 % VHF-Patienten waren und mehr als ein Drittel der Patienten künstliche Herzklappen hatten (bekanntermaßen jünger und „straffer“ eingestellt). Interessanterweise war bei der Subgruppe der VHF-Patienten nicht einmal der Nutzen der Selbstmessung bezgl. verringerter Thromboembolien nachweisbar, ein Sicherheitsnutzen gleich gar nicht.
Darüber hinaus lag das mittlere Alter der Patienten in der Meta-Analyse bei 65 Jahren, was für eine deutliche Patientenselektion spricht und die Anwendbarkeit der Selbstmessung bei den im Alltag deutlich betagteren VHF-Patienten (die Kollegen verweisen unter Punkt 6 ja selbst darauf hinterfragen lässt.
Ad 5 Das im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten für die NOACs beschriebene „breite therapeutische Fenster“ ergibt sich bereits aus der Tatsache, dass diese Therapiealternativen ohne Monitoring mindestens vergleichbare (oder bessere) Wirksamkeit bei gleichzeitig besserer Sicherheit bieten als der durch Monitoring zu überwachende VKA. Ich möchte nicht bestreiten, dass Erkenntnisse wie z. B. die der zitierte Dabigatran-Arbeit der Korrelation von Plasmaspiegeln zu klinischen Endpunkten dazu führen könnte, das therapeutische Fenster durch eine noch mehr individualisierte Dosisfindung weiter zu verbessern. Trotzdem sollte nicht vergessen werden, dass die allesamt erfolgreichen NOAC-Studien bei VHF-Patienten ihre guten Sicherheitsdaten auch schon ohne derartige Interventionen erreichen konnten.
Ad 6 Ich stimme mit den Kollegen völlig überein, dass die Komplikationsrate bei betagten Patienten deutlich höher ist und dass (vielleicht gerade auch deshalb) diese Patienten in RCTs oft unterrepräsentiert sind. Allerdings ist wenig nachvollziehbar und nicht belegt, warum dies auch für Registerstudien gelten soll. Gerade die Tatsache dass in VHF-Registern das mittlere Alter bei immerhin 75 Jahren liegt zeigt doch, dass eine Vielzahl älterer Patienten von diesen Studien abgebildet wird. So sind allein im Dresden NOAC Register in allen Kohorten mehr als 50 % der beobachteten Patienten über 75 Jahre alt.
Ad 7 Abschließend noch einige Anmerkungen zum Thema „Conflict-of-interest“. Es bedarf sicher keiner Cochrane-Analyse, um zu verstehen, dass eine finanzielle Beziehung zu einer (oder mehreren) Pharmafirmen einen Einfluss auf das gesprochene oder geschriebene Wort haben kann. Ich bin ein klarer Befürworter der Transparenzstrategie, die dazu geführt hat, dass nahezu jedes Journal inzwischen darauf besteht, potenzielle Interessenskonflikte darzulegen, so dass der Leser sich ein eigenes Urteil bilden kann. Diesem Anspruch folgend, habe ich meine Beziehungen zu den Herstellern von Antikoagulanzien angeführt. Ich denke aber auch, dass man den Fokus einer wissenschaftlichen Debatte nicht aus den Augen verlieren sollte: In meinem Review-Artikel ging es vor allem um die Rate medikamentenassoziierter Blutungen und den Umgang damit. Wenn man sich sachlich mit den aufgeführten Tatsachen auseinandersetzt und dem aus der Antike stammenden ärztlichen Leitspruch „Primum nihil nocere“ folgt, muss ein solcher Review-Artikel klar darlegen, dass die Ära der oft vorenthaltenen oder schlecht eingestellten und darüber hinaus gefährlichen VKA-Therapie zugunsten neuerer und sicherer Therapiealternativen verlassen werden muss. Folglich steht hinter meiner wissenschaftlich unterlegten Argumentation viel mehr eine moralische Verpflichtung als ein potenzieller Interessenkonflikt. Mein diesbezüglich wichtigster „conflict-of-interest“ besteht aktuell vor allem in der kostenökonomischen Abwägung: Welchen VHF-Patienten soll ich aus Kostengründen trotz der genannten Sicherheitsbedenken noch auf VKA einstellen?
Im Übrigen gibt es einen wissenschaftlichen Beleg auch für den sogenannten Weber-Effekt [[7]]: Neue Therapien werden oft viel aufmerksamer und kritischer betrachtet als etablierte, deren Nebenwirkungs- und Komplikationsprofil bekannt ist. Das ist prinzipiell gut so und wichtig, darf aber in einer wissenschaftlichen Debatte nicht zu einem unbalancierten Standpunkt führen. Wenn man die Publikationsliste der Erstautorin des Leserbriefes in PubMed recherchiert, findet man einen Beleg für einen solchen Weber reporting bias: Unter „Stöllberger C [AND] rivaroxaban“ findet man 11 Publikationen, die sich mit Bedenken gegen NOACs per se oder mit Kasuistiken mit Komplikationen bei Rivaroxaban-Patienten beschäftigen. In analoger Weise findet man 18 derartige Publikationen unter dem Suchkriterium „Dabigatran“ und 4 weitere unter „Apixaban“. Demgegenüber findet man nur eine einzige Negativkasuistik unter dem Suchkriterium „Warfarin“ und nur eine Originalarbeit unter „VKA“ bzw. „Phenprocoumon“.
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Literaturverzeichnis
- 1 Kirchhof P, Nabauer M, Gerth A et al. Impact of the type of centre on management of AF patients: surprising evidence for differences in antithrombotic therapy decisions. Thromb Haemost 2011; 105: 1010-1023
- 2 McBride D, Bruggenjurgen B, Roll S et al. Anticoagulation treatment for the reduction of stroke in atrial fibrillation: a cohort study to examine the gap between guidelines and routine medical practice. J Thromb Thrombolysis 2007; 24: 65-72
- 3 Le Heuzey JY, Ammentorp B, Darius H et al. Differences among western European countries in anticoagulation management of atrial fibrillation. Data from the PREFER IN AF registry. Thromb Haemost 2014; 111: 833-841
- 4 Mantha S, Pianka AM, Tsapatsaris N. Determinants of intracranial hemorrhage incidence in patients on oral anticoagulation followed at the Lahey clinic. J Thromb Thrombolysis 2011; 32: 334-342
- 5 Beyer-Westendorf JM, Werth S, Tittl L et al. Annual Meeting of the American Society of Hematology, Poster abstract 1538, Characteristics of atrial fibrillation patients not switched from VKA to NOAK and persistence on VKA – a subgroup analysis of the Prospective Dresden Noac Registry (NCT01588119). Blood Supplement 2014; 124
- 6 Heneghan C, Alonso-Coello P, Garcia-Alamino JM et al. Self-monitoring of oral anticoagulation. Lancet 2006; 367: 404-411
- 7 Weber J. Epidemiology of adverse reactions to nonsteroidal anti-inflammatory drugs. In: Rainsford KD, Velo GP, eds. Side-effects of anti-inflammatory / analgesic drugs. Advances in Inflammation Research. 6. New York: Raven Press; 1984: 1-6