Zeitschrift für Phytotherapie 2015; 36(04): 141-142
DOI: 10.1055/s-0041-105359
editorial
© Haug Verlag in MVS Medizinverlage Stuttgart GmbH & Co. KG

Editorial

Viel Forschung − aber wenig hilfreich für die Phytotherapie oder sogar kontraproduktiv?
Bernhard Uehleke
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Publication Date:
15 October 2015 (online)

 
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    Unter dem Stichwort „herbal medicine“ erscheinen erstaunlich viele Arbeiten in medizinischen Datenbanken wie z. B. ­PubMed. Dies steht in starkem Kontrast zu den eher rückläufigen Zulassungen von pflanzlichen Produkten in Deutschland bzw. Europa. Das Wachstum der grauen, unregulierten Märkte weltweit dagegen scheint stark zu steigen, wobei pflanzliche Produkte als Lebensmittel oder Körperpflege mit übertriebenen medizinischen Claims angeboten werden, was in Europa eigentlich illegal ist, aber hier (unterschiedlich je nach Mitgliedsstaat) und erst recht anderswo toleriert wird.

    Auffallend ist, dass mit dem Filter „clinical studies“ nur ein geringer Bruchteil von wenigen Prozent der vielen Publikationen übrig bleibt und dieser Rest vermindert sich dann nochmal auf wirkliche klinische Studien. Der weitaus überwiegende Teil der Arbeiten ist also präklinisch, am häufigsten handelt es sich um In-vitro-Versuche. Aspekte des Vielstoffgemisches in Pflanzen werden höchst selten aufgegriffen, eher werden Einzelsubstanzen in einem experimentellen System untersucht. Es handelt sich also um Arbeiten über einzelne Naturstoffe und nicht um Phytotherapie.

    Allerdings dürften die Meinungen weit auseinandergehen, welche Studien einen Nutzen für die Phytotherapie haben. Trotz­dem gibt es unseres Wissens kaum Publikationen zu dieser eigentlich wichtigen und zentralen Frage! Dies ist durchaus auch medizinhistorisch zu erklären: Bis spät ins 20. Jh. unterlag die ­gesamte Medizin dem Primat der Naturwissenschaften und insbesondere der Pharmakologie. Eine pharmakologische Aussage zur Wirkung an irgendeinem „an­er­kannten“ Modell rechtfertigte ohne Einschränkung damals den klinischen Einsatz. Erst nach der Contergan-Kata­strophe, den nachfolgenden Entwicklungen der klinischen Pharmakologie und schließlich dem Dogmenwandel zur Evidenz-basierten Medizin (EBM) änderte sich die Situation maßgebend. Vorher war es der doch oft angefeindeten oder zumindest belächelten Phytotherapie sehr willkommen, wenn von pharmakologischer Seite Hinweise zu einer Wirkung an einem In-vitro- oder Tiermodell kamen und somit die „klinische Erfahrung“ „wissenschaftlich“ bestätigt und untermauert wurde. Dementsprechend investierte mancher Phytohersteller mehr in pharmakologische Forschung als in klinische Studien, deren Standards sich ja auch erst in den 80er-Jahren auf ein hohes Niveau entwickelten. Viele Monografien der Kommission E beruhen auf dieser Basis: Plausibilität der pharmakologischen Wirkung sowie „Erfahrung“ der Anwender (die in der Kommission die Mehrheit stellten) führten dann zu den vielen „positiven“ Monografien − auch solcher Heilpflanzen mit völlig ungenügender klinischer Evidenz gemäß unserer heutigen Sichtweise. Eine Inhomogenität der Monografien ergibt sich dadurch, dass die letzten Monografien aus der Mitte der 90er-Jahre unvermittelt einerseits mehr auf klinische Evidenz abhoben sowie auf einzelne Zubereitungen anstatt wie vorher auf die Heilpflanze einschließlich aller (üblichen) Zubereitungen.

    Die präklinischen Fächer mit ihren aufwändig mit Maschinenparks bestückten Labors haben allerdings anscheinend eine gewisse Eigendynamik entwickelt und sich von dem Dogmenwandel in der klinischen Medizin zur EBM offenbar nicht beeinflussen lassen. Dahinter steht auch eine eigene Branche der Laborausrüster mit milliardenschweren Umsätzen. Bei der Erforschung von als Heilpflanzen bekannten sowie von weiteren unbekannten Pflanzen steckt wohl auch immer noch die Hoffnung, einen neuen patentgeschützten chemischen Wirkstoff zu entdecken, obwohl solche Screening-Programme seit rund 50 Jahren immer ­wieder auch von der Pharmaindustrie versucht wurden und nur recht selten erfolgreich waren. Man könnte meinen, dass inzwischen das Reservoir von Heilpflanzen vollkommen „ausgequetscht“ wurde, aber mit neuen Screening-Methoden − jetzt in Form von Genexpression-­Assays − schöpft man neue Hoffnung.

    Ein neuer chemischer Wirkstoff aus einer Pflanze gehört aber nach der Ansicht der meisten Phytotherapeuten ja nun keineswegs mehr zur Phytotherapie, die doch eher dahingehend definiert wird, dass Zubereitungen aus einer Pflanze eingesetzt werden, die eine Vielzahl von Inhaltsstoffen im chemischen Sinn enthalten. Wenn man sich nur auf diese erste und wichtigste Charakterisierung der Phytotherapie einigt, ergeben sich daraus für die Einstufung der phytotherapeutischen Relevanz von präklinischen und klinischen Arbeiten folgende Aspekte:

    1. Arbeiten, die nur einen pflanzlichen Einzelstoff untersuchen, ohne den Ver­gleich zum Gesamtextrakt einzuschließen, gehen am Selbstverständnis der Phytotherapie vorbei.

    2. In-vitro-Arbeiten mit pflanzlichen ­Extrakten oder pflanzlichen Einzelsubstanzen müssen sich mit der Frage kritisch beschäftigen, wie überhaupt die Pharmakokinetik der untersuchten Substanzen aussieht. Da die Kinetik und die Verstoffwechselung von pflanz­lichen Substanzen oft unklar sind, bietet es sich an, Prüfsubstanzen nach Verstoffwechselung aus Tieren oder Menschen heranzuziehen.

    3. Bei vielen gut untersuchten und bekannten Heilpflanzen ließ sich die ­klinische Wirkung weder auf eine ­Einzelsubstanz noch auf einen einzigen Wirkmechanismus zurückführen. Aus präklinischen Modellen oder Tiermodellen lassen sich daher nur vorsichtige und begrenzte Voraussagen für die klinische Anwendung von Heilpflanzen ableiten, insbesondere wenn die Relevanz von bestimmten biochemischen Mechanismen, Rezeptoren usw. für die jeweilige Erkrankung nicht eindeutig geklärt ist.

    Angesichts der in diesen Punkten enthaltenen Komplexität und unter dem Primat der aktuell in der Medizin geltenden EBM mag man zum Eindruck kommen, dass präklinische Arbeiten über bekannte Heilpflanzen entbehrlich sind und man stattdessen ausschließlich klinische Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit anstreben sollte. Australische Forscher haben dies bejaht und für die Erforschung und Entwicklung bekannter Heilpflanzen eine auf die klinische Forschung fokussierte Entwicklung bevorzugt und diesem Vorgehen den eindrucksvollen Namen „reverse Pharmacology“ verliehen. Anstatt in der klinischen Entwicklung eines neuen Arzneistoffs die Phasen I bis III der Reihe nach zu durchlaufen, beginnt man eher mit Studien der Phase II oder III und kann dann (rückwärts) ggf. Phase-I-Studien oder Tierversuche zur Verträglichkeit und Dosisfindung nachschieben. Dies hat den Vorteil, dass man Pflanzen gleich aufgeben kann, wenn sie keine Wirksamkeit über Placebo hinaus zeigen (wobei es freilich so sein könnte, dass man z. B. die falsche Zubereitung und Dosierung genommen hätte − meist aber wohl diejenige, mit der man bisher gute „Erfahrungen“ oder sogar eine jahrhundertelange „Tradition“ hatte).

    Es gibt jedoch über das Primat der EBM hinaus einige Gründe, sich auch präklinisch mit Heilpflanzen zu beschäftigen: Zur Qualitätssicherung und ggf. zur Optimierung von pflanzlichen Zubereitungen möchte man wissen, ob die relevanten wirksamkeitsmitbestimmenden Inhaltsstoffe auch in einer Zubereitung enthalten sind. Dazu ist zu klären, welche Stoffe dazu gehören und wie diese sich gegenseitig bezüglich Pharmakokinetik und Pharmakodynamik beeinflussen. Antworten darauf geben Studien, die Einzelstoffe, Fraktionen sowie den Gesamtextrakt untersuchen und zwar im direkten Vergleich an relevanten Modellen bzw. an Batterien von Modellen, um mehrere Mechanismen zu berücksichtigen. Solche Studien helfen der Phytotherapie weiter, da hiermit die pharmazeutische Qualität von Zubereitungen verbessert werden kann und sich dann eine verbesserte pharmazeutische Qualität durch eine höhere Wirksamkeit in klinischen Studien bestätigen lassen könnte.

    Studien, die diese Forderungen nicht erfüllen, müssen als weniger wertvoll für die Phytotherapie oder sogar als nutzlos, vielleicht sogar als kontraproduktiv eingestuft werden.

    Lesen Sie dazu meinen Vorschlag für einen Score auf Seite 147. Ich würde mich sehr freuen, wenn sich hierzu eine lebhafte und fruchtbare Diskussion entwickeln würde. Ergänzend lesen Sie meine hypothetische Story auf S. 149. Es kann nicht darum gehen, Forschung zu diskriminieren, aber doch darum, entsprechende Forschungsergebnisse in ihren jeweiligen Rahmen zu belassen und einzuordnen. Im Übrigen wäre sowohl zur Entwicklung von Einzelsubstanzen als auch von phytotherapeutischen Zubereitungen eine Einbindung einzelner Studien in jeweilige Forschungspläne notwendig, damit es nicht beim Herstellen von Puzzleteilen bleibt, sondern daraus ein Gesamtbild entsteht, das zur evidenzbasierten klinischen Anwendung führt.


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