Im Sinne der Patientensicherheit ist es unabdingbar, sich mit Fehlern offen
auseinanderzusetzen – was oft schwerfällt. Dieser Beitrag geht der Frage nach, wie sich
im Team der Intensivstation eine förderliche Fehlerkultur etablieren lässt. Zunächst
werden Häufigkeit, Begriff, Entstehung von Fehlern sowie ihre Untersuchung und
Behandlung erörtert. Anschließend wird ein Beispiel aktueller Fehlerkultur in der
Intensivpflege analysiert und mit dem Ideal verglichen. Hieraus werden notwendige
Veränderungen identifiziert und Wege zu deren Umsetzung vorgestellt. Ein Fazit schließt
den Beitrag ab.
Fehlerhäufigkeit in der Intensivpflege
Fehlerhäufigkeit in der Intensivpflege
Wie häufig in der Intensivpflege Fehler geschehen, ist unmöglich anzugeben. Es sei hier
auf das oft angeführte Eisbergmodell der Unfälle verwiesen: Kritische Ereignisse
(Glossar Patientensicherheit) werden wahrgenommen, wenn sie zu großem Schaden
führen: Sie bilden die „Spitze des Eisbergs“. Die vielfach größere Zahl von kleineren
oder Beinahe-Schäden bleibt, wie der Großteil eines Eisbergs, unter Wasser.
GLOSSAR PATIENTENSICHERHEIT [
1
]
Patientensicherheit
Abwesenheit unerwünschter Ereignisse
Unerwünschtes Ereignis (adverse event)
Ein schädliches Vorkommnis, das
eher auf der Behandlung denn auf der Erkrankung beruht
Vermeidbares unerwünschtes Ereignis
Ein unerwünschtes Ereignis, das
vermeidbar ist
Kritisches Ereignis (critical incident)
Ein Ereignis, das zu einem
unerwünschten Ereignis führen könnte oder dessen Wahrscheinlichkeit deutlich
erhöht
Beinahe-Schaden (near miss)
Ein Fehler ohne Schaden, der zu einem
Schaden hätte führen können
Um eine grobe Vorstellung der Fehlerhäufigkeit zu erhalten, sollen hier zwei
multinationale Beobachtungsstudien vorgestellt werden: Die SEE-Studie von Valentin et
al. untersuchte Häufigkeit und beitragende Faktoren kritischer Ereignisse auf weltweit
205 Intensivstationen. Es wurden nur solche Ereignisse erfasst, die durch aktive
Handlungen herbeigeführt wurden. Als repräsentative Kategorien wurden die Medikation,
Zugänge und Drainagen, Geräteausfälle, künstliche Atemwege und das Alarmmanagement
gewählt. Die ermittelte Häufigkeit kritischer Ereignisse entsprach 38,8 pro 100
Patiententage, wobei die Autoren aufgrund der Datenerfassung per Selbstbericht eine
Dunkelziffer vermuten. [2]
Eine zweite Studie ähnlichen Designs von Valentin et al. untersuchte Fehler bei der
parenteralen Applikation von Medikamenten auf weltweit 113 Intensivstationen. Wieder
wurden Daten durch Selbstbericht gesammelt, diesmal auch Fehler durch Unterlassung und
entstandene Schäden erfasst. Es wurden 74,5 Fehler pro 100 Patiententage ermittelt. Von
den 861 berichteten Fehlern führten 15 zu bleibendem Schaden oder zum Tod: [3] ein schwerer Schaden pro 57 kritische Ereignisse.
Amalberti stellte 2001 eine Einteilung soziotechnischer Systeme in riskante, regulierte
und ultrasichere Systeme vor. Systeme, in denen aus 1.000 kritischen Ereignissen mehr
als ein schwerer Unfall entsteht, gelten als riskant. [4]
Diesen Systemen, zu denen Amalberti beispielsweise Klettersport oder Bungee-Jumping
zählt, wären mit obigem Ergebnis Intensivstationen zuzuordnen. Grund genug, sich mit dem
Begriff des Fehlers näher zu beschäftigen.
Was ist ein Fehler?
Die Definition von Rall et al. (Definition: Fehler) bezeichnet Fehler als
„negative Reaktion“ und zielt damit eher auf Fehlerfolgen: Nicht jeder Fehler verursacht
negative Reaktionen. Wichtige Feststellungen sind, dass auch Nicht-Handeln ein Fehler
sein kann und dass Fehler bewusst und unbewusst entstehen können.
Rall, et al. 2001:
„Nicht beabsichtigte, oft auch nicht erwartete negative
Reaktion auf eine bewusst oder unbewusst ausgeführte, oder unterlassene Maßnahme.“
[5]
Aktionsbündnis Patientensicherheit 2007:
„Eine Handlung oder ein Unterlassen,
bei dem eine Abweichung vom Plan, ein falscher Plan oder kein Plan vorliegt. Ob
daraus ein Schaden entsteht, ist für die Definition des Fehlers irrelevant.“ [1]
Weingardt 2004:
„Als Fehler bezeichnet ein Subjekt angesichts einer
Alternative jene Variante, die von ihm – bezogen auf einen damit korrelierenden
Kontext und ein spezifisches Interesse – als so ungünstig beurteilt wird, dass sie
unerwünscht erscheint.“ [6]
Beim Vergleich dieser Fehlerdefinition mit der des Aktionsbündnisses Patientensicherheit
fällt auf, dass letzteres den Fehler von seinen Auswirkungen her differenziert. Etwas
weniger scharf ist die Beschreibung der Fehlerentstehung: Eine vom Plan abweichende
Handlung oder Unterlassung kann durchaus richtig sein, wenn sie bewusst und begründet
erfolgt (Beispiel: Es wird erkannt, dass der Plan auf eine veränderte Situation nicht
mehr sicher anwendbar ist). Falsche oder fehlende Planung sind unzweifelhaft mögliche
Fehlerursachen.
Die Fehlerdefinition des Erziehungswissenschaftlers Martin Weingardt ist
transdisziplinär ausgelegt und daher allgemein gehalten. Für Verständnis und Beurteilung
von Fehlern sind folgende Punkte von Bedeutung:
-
Subjektivität: Was ein Fehler ist und was nicht, liegt im Auge des
Betrachters.
-
Ohne Alternative kein Fehler: Unausweichliche Handlungen oder Unterlassungen
können keine Fehler darstellen.
-
Kontext: Die Situation um den mutmaßlichen Fehler muss bei der Beurteilung
berücksichtigt werden.
-
Interesse: Welche Ziele verfolgte der Handelnde? War sein Handeln, gemessen an
diesen Zielen, angebracht? Zielkonflikte beachten: Eine für ein Ziel angemessene
Handlung kann hinsichtlich eines anderen Ziels nachteilig sein!
Die Entstehung von Fehlern
Die Entstehung von Fehlern
Warum und auf welche Weise sich Fehler in unser Tun einschleichen, soll anhand der
Arbeiten des Psychologen James Reason erläutert werden. Dabei sind vorab folgende
Grundgedanken von Bedeutung:
-
Unfälle sind multifaktoriell: In komplexen Systemen wie etwa Intensivpflege und
-therapie haben kritische Ereignisse fast immer mehr als nur eine Ursache. Reason
spricht von einer „Fehlerkette“ aus vielen zusammenwirkenden Faktoren. [7]
-
Beitragende Unfallursachen können örtlich und zeitlich weit vom Geschehen entfernt
sein. Solche Faktoren bezeichnet Reason als „latente Bedingungen“. Beispielhaft
können dies Umwelteinflüsse (Stromausfall) oder Entscheidungen des Managements
(Arbeitsverdichtung) sein. Sie werden oft erst dann als Gefahren erkannt, wenn sie
gemeinsam mit lokalen Auslösern zum Zwischenfall führen. [7]
-
Das, was wir als Fehler kennen, nennt Reason „aktive Fehler“ oder „unsichere
Handlungen“. Er sieht in ihnen keine Ursachen, sondern Konsequenzen der
menschlichen Natur, vor allem aber der oben genannten latenten Bedingungen. [7] Unsichere Handlungen werden in [
Tab. 1
] klassifiziert.
Tab. 1
Klassifizierung unsicherer Handlungen [8]
Entstehungsebene
|
Typ
|
Beispiele
|
Handlungsausführung
|
Aufmerksamkeitsfehler
|
-
Zahl falsch ablesen
-
Falsche Taste drücken
|
Gedächtnisfehler
|
|
Handlungsplanung
|
Regel- oder wissensbasierte Fehler
|
|
Verstöße
|
|
Wie reagieren auf welchen Fehler?
Wie reagieren auf welchen Fehler?
Fehler bei der Handlungsausführung geschehen unbewusst. Mit „besser aufpassen“ ist ihnen
nicht beizukommen, ebenso wenig mit Sanktionen wie arbeits- oder strafrechtlichen
Maßnahmen – sie sind kein individuelles Problem der persönlichen Eignung. [7] Bei standardisierten Abläufen kann die Anwendung gut
lesbarer Checklisten helfen, beim Vorbereiten von Medikamenten das laute Vorsagen von
Medikament und Dosierung während der Tätigkeit. Am wichtigsten ist jedoch die Gestaltung
von Umfeld und Arbeitsbedingungen:
-
Reduktion von Ablenkung: Lärm, parallel zu erfüllende Aufgaben, Zeitdruck
-
Erleichterung der Aufmerksamkeitslenkung: Design von Geräten und Arbeitsplätzen,
ausreichende Beleuchtung
-
Sicherheitsbarrieren: „intelligente“ Spritzenpumpen mit Dosisgrenzen, Spritzen für
enterale Nahrung, die nicht auf Gefäßzugänge passen, Vier-Augen-Prinzip
Fehler der Handlungsplanung lassen sich am leichtesten durch das Vier-Augen-Prinzip und
gegenseitige Beratung bekämpfen. Dem Einzelnen kann es helfen, Situationsanalyse und
Entscheidungsfindung bewusst schrittweise zu durchlaufen. Hierzu ist die FORDEC-Methode
([
Tab. 2
]) dienlich, die vom Deutschen Zentrum
für Luft- und Raumfahrt für das Pilotentraining entwickelt wurde.
Tab. 2
FORDEC-Methode
Facts
|
Welche Situation besteht?
|
Options
|
Was sind die Handlungsoptionen?
|
Risks/Benefits
|
Pro und Kontra der Optionen
|
Decision
|
Entscheidung für ein Vorgehen
|
Execution
|
Ausführung des Plans
|
Check
|
Evaluation: Ziel erreicht?
|
Verstöße sind keine Fehler im eigentlichen Sinne – die Handlung verfolgt bewusst ein
anderes als das vorgegebene Ziel. Sie sind die einzigen der unsicheren Handlungen, auf
die mit Sanktionen reagiert werden sollte. Werden Verstöße nicht sanktioniert oder
zeigen sie sogar Erfolge, entwickeln sie sich zu Gewohnheiten, sogenannten
Routineverstößen [8] (Beispiel: Missachten der Einwirkzeit
bei Desinfektionsmaßnahmen aufgrund von Zeitdruck). Die Sanktionierung als einziges
Mittel ist jedoch unzureichend; gleichzeitig muss untersucht werden, ob äußere Einflüsse
oder Arbeitsbedingungen zu solchen Verstößen motivieren.
Analyse von Fehlern
Nach üblichem Verständnis gibt es für jeden Schaden genau eine (Haupt-)Ursache und einen
dafür Verantwortlichen. Diese personenzentrierte Ursachenforschung kann die Entstehung
eines Zwischenfalls unmöglich erklären. Um das multifaktorielle Ursachengefüge
aufzudecken, muss die Fehleranalyse systematisch erfolgen ([
Tab. 3
]). [8]
Tab. 3
Fragen der Fehleranalyse
Personenzentrierte Analyse
|
Systematische Analyse
|
-
Welcher Schaden ist eingetreten?
-
Wer hat den (!) dazu führenden Fehler gemacht?
-
Wer bringt den Schaden wieder in Ordnung?
-
Wie ist mit dem Schuldigen zu verfahren?
|
-
Was wurde entschieden, getan, unterlassen?
-
Mit welchem Ziel?
-
Unter welchen Bedingungen und Umgebungsfaktoren?
-
Gab es Handlungsalternativen?
-
Welches Bild der Situation hatten die Akteure?
-
Was hat die Akteure zu den fraglichen Entscheidungen/Handlungen
bewogen?
-
Was kann getan werden, um das Geschehene in Zukunft zu vermeiden?
|
Bei der Untersuchung kritischer Ereignisse geht es also nicht um das „wer“, sondern um
das „was“ und „warum“. Nicht um den einen Fehler, sondern um alle beitragenden Ursachen.
Diese Sichtweise wird jedoch durch einige Phänomene der Sozialpsychologie erschwert:
[8]
-
Resultate eigenen Handelns werden gern äußeren Einflüssen zugeschrieben, während
man die Handlungen anderer allein in deren Verantwortung sieht (Fundamentaler
Attributionsfehler).
-
In der Analyse des Zwischenfalls wird die ursächliche Ereigniskette klar. Man ist
verleitet anzunehmen, dies hätte allen Beteiligten zum Zeitpunkt des Zwischenfalls
ebenso klar sein müssen (Rückschaufehler).
-
Einer Person wird die Verantwortung zugeschoben, weil der Zwischenfall nicht
eingetreten wäre, wenn sie anders gehandelt hätte. Andere Ursachen werden nicht
bedacht (Kontrafaktischer Trugschluss).
-
Die Auffassung von Handlungen als Ausdruck und Ergebnis des freien Willens führt
dazu, äußere Umstände als Ursachen zu übersehen. [7]
Es muss bewusst erforscht werden, welche Informationen den Handelnden zur Verfügung
standen und unter welchen Bedingungen sie arbeiteten; welche Ziele sie hatten, wie sie
ihre Entscheidungen trafen und warum diese korrekt wirkten. Nur so kann die gesamte
Fehlerkette aufgedeckt werden, um einer Wiederholung der Geschehnisse in Zukunft
vorzubeugen.
Die Fehlerkultur
Die Wiener Qualitätsmanagerin Margit Wiederschwinger definierte Fehlerkultur als
„Leitvorstellungen und Werte, die die Art und Weise bestimmen, wie in einem Unternehmen
mit Fehlern umgegangen wird“. Zur Analyse einer Fehlerkultur hat die
Management-Trainerin Elke M. Schüttelkopf ein Modell formuliert, das eine differenzierte
Betrachtung von Strukturen und Inhalten erleichtert ([
Tab.
4
]
und
[
5
]). [10] Anhand
dieses Modells soll beispielhaft die im Gesundheitswesen und auch der Intensivpflege
vorherrschende Fehlerkultur beschrieben werden. Individuelle Ausprägungen variieren
zwischen Personen ebenso wie zwischen Stationen und Kliniken. Sie müssen daher auch
individuell analysiert werden.
Tab. 4
Modell der Fehlerkultur: Struktur – drei Säulen [10]
Normen und Werte
|
Kompetenzen
|
Instrumente und Methoden
|
Richtungsweisend für Umgang mit Fehlern, Fehlerrisiken, Fehlerfolgen
|
Fähigkeit, Fehler zu akzeptieren, thematisieren, analysieren und mit ihren
emotionalen Auswirkungen umzugehen
|
Zur Analyse, Bearbeitung, Nutzung und Vermeidung von Fehlern
|
Tab. 5
Modell der Fehlerkultur: Inhalte – vier Dimensionen [10]
Vertrauen
|
Bedingung für Kritikfähigkeit und offene, respektvolle Kommunikation über
Fehler und Sicherheit. Vertrauen heißt nicht: „es wird schon alles gut
gehen“, sondern: „meine Kollegen werden mit meiner Kritik und meinen Fehlern
professionell umgehen“!
|
Fehlervermeidung
|
Bestreben nach Vermeidung bedrohlicher Fehler: bei erprobten Prozessen nicht
vom Goldstandard abweichen
|
Fehlerfreundlichkeit
|
Bereitschaft zum Lernen aus Fehlern, zu Kreativität und Innovation, zum
Betreten und Erproben neuer Wege
|
Entwicklung
|
Streben nach Verbesserung und Anpassung an neue Anforderungen, Reflexions-
und Dialogfähigkeit
|
Normen und Werte aktueller Fehlerkulturen
Normen und Werte aktueller Fehlerkulturen
Die Dynamik von Öffentlichkeit und Medien, durch die folgenreiche Behandlungs- und
Pflegefehler den Charakter von Skandalen fern jeder Fassbarkeit erhalten, schlägt bis in
die intraorganisationale Fehlerkultur durch. Patientensicherheit wird zur
Selbstverständlichkeit, der Zwischenfall zum Tabu. Glazinski und Wiedensohler urteilen
treffend: „Der Umgang mit Fehlern hat sich hier in der Regel darauf beschränkt, nach
einem Schuldigen für das aufgetretene Problem zu suchen, diesen namentlich zu benennen
und abzustrafen. Verleugnen nach außen und bestrafen nach innen, so könnte man
überspitzt den Umgang mit Fehlern in der Patientenversorgung umreißen. Im
angloamerikanischen Sprachgebrauch wird diese Vorgehensweise treffend auch als ,culture
of blame‘ bezeichnet.“ [11]
Diese Kultur der Schuldzuweisung („naming, blaming and shaming“ [7]) verhindert die Aufarbeitung von Fehlern und motiviert zu deren
Vertuschung. Sie zerrüttet das Vertrauen aller ineinander und führt zu Diffusion und
Abschieben von Verantwortung.
Ferner hat der steigende Kostendruck auf die Leistungserbringer im Gesundheitswesen eine
Neuordnung der normativen Unternehmensführung angestoßen: Das Streben nach Rentabilität
wird, angesichts wirtschaftlicher Zwänge, zur Maxime. Die Patientensicherheit mag
weiterhin auf allen Fahnen stehen, wird jedoch gerade bei kostspieligen Entscheidungen
verhandelbar.
Weitere Problematik rührt von hierarchischen Strukturen her. Im ärztlichen Bereich
althergebracht, wird sie von Glazinski und Wiedensohler als Hindernis für konstruktive
Fehlerkultur beschrieben: „Eine traditionell hierarchische ärztliche Führungsstruktur
trägt leider nicht zur Förderung des Kritikvermögens gegenüber der Qualität der eigenen
Arbeit bei, sondern leistet einer Haltung Vorschub, die Fehler ausschließlich als Makel
begreift.“ [11]
Der zunehmende Mangel an Fachpersonal in der Pflege führt zu einem Erfahrungsgefälle
innerhalb des Pflegeteams [12], welches ähnliche
Konsequenzen hervorbringt: Intra- und interdisziplinär ist das Äußern von Bedenken sowie
das Ansprechen von Fehlern problematisch, selbst wenn Nachteile oder Gefahr für
Patienten offensichtlich sind. Die amerikanische Studie „The Silent Treatment“ zeigte
eindrucksvoll die fatalen Auswirkungen solcher Kommunikationsbarrieren. [13]
Kompetenzen aktueller Fehlerkulturen
Kompetenzen aktueller Fehlerkulturen
Der konstruktive Umgang mit Fehlern setzt die Fähigkeit und Bereitschaft zum Lernen aus
selbigen voraus. Lernwille und Lernreife von Individuen und Organisationen variieren
stark. Auf dem normativen Fundament einer Null-Fehler-Mentalität entwickelt sich die
Bereitschaft zum Lernen aus Fehlern eher schlecht.
Auch das Äußern und Annehmen konstruktiver Kritik sind bei der Beschäftigung mit Fehlern
unentbehrlich. Die Entwicklung dieser Schlüsselqualifikationen hat in der Ausbildung von
Pflegepersonen jedoch nur am Rande Platz.
Unerwünschte Ereignisse schaden nicht nur den Patienten – dem „Schuldigen“ erwachsen
hohe psychosoziale Belastungen durch Vorwürfe, Ansehensverlust und Sanktionen. [14] Weder Ausbildung noch das Arbeitsleben bereiten darauf
vor. Da der mutmaßliche Verursacher nach klassischem Verständnis selbst schuld ist, hält
sich die Unterstützung des Arbeitgebers bei der Bewältigung dieser Belastungen in engen
Grenzen. Explizite Bewältigungsstrategien wie die kollegiale Ersthilfe finden sich nur
vereinzelt und ohne organisierte Förderung.
Instrumente und Methoden aktueller Fehlerkulturen
Instrumente und Methoden aktueller Fehlerkulturen
Hier weist die Fehlerkultur in statu quo wohl die geringsten strukturellen Defizite auf.
Anders als Normen, Werte und Kompetenzen sind Instrumente einfach zu implementieren. So
können Instrumente wie Checklisten, das Crisis Resource Management (CRM), Berichtsysteme
wie CIRS (Critical Incident Reporting System) und Analysetechniken wie die Root Cause
Analysis aus höher entwickelten Fehlerkulturen entlehnt werden, etwa der der
kommerziellen Luftfahrt. Auch Team- und Fallbesprechungen stellen Instrumente der
Fehlerkultur dar.
Problematisch ist die eingeschränkte Nutzung dieser Instrumente. Mangelndes Fehler- und
Sicherheitsbewusstsein auf allen Ebenen reduziert die Motivation hierzu. Auch die hohe
und zunehmende Arbeitsdichte in der Intensivpflege dämpft die Bereitschaft, sich
zeitaufwendig mit Fehlern zu beschäftigen. Hinzu kommt das konsequente Fehlen von
Belohnungsstrukturen für den konstruktiven Umgang mit Fehlern. Die organisationale
Reaktion auf individuelle Fehler erschöpft sich meist in Sanktionen, wobei diese sich
eher nach dem Schadensausmaß richten als nach tatsächlichem Verschulden. Die Tatsache,
dass Fehler zudem nicht nach ihrer Entstehung, sondern nach ihrer Meldung an Vorgesetzte
sanktioniert werden, leistet der Tendenz zur Vertuschung Vorschub.
Inhaltliche Schwächen aktueller Fehlerkulturen
Inhaltliche Schwächen aktueller Fehlerkulturen
Schüttelkopf hat der Dimension Vertrauen fundamentale Bedeutung eingeräumt. [10] Leider wird gerade das Vertrauen durch die Mängel bei
Normen und Werten stark beeinträchtigt. Führungskräfte verlieren das Vertrauen in
Mitarbeiter, die Fehler machen. Umgekehrt reduzieren Sanktionen das Vertrauen der
Pflegepersonen zu Vorgesetzten, mit Fehlern konstruktiv umgehen zu können. Die Angst
davor, in der gegenwärtigen „Culture of blame“ eines Fehlers überführt zu werden,
schafft Misstrauen unter Kollegen. Wenn dieser Fall eintritt, ist auch das
Selbstvertrauen dahin.
Kaum besser sieht es mit der Fehlerfreundlichkeit und Entwicklung aus. Wer Fehler nicht
wahrhaben will, wird nicht aus ihnen lernen. Höchstens dann, wenn ein Schaden auftritt.
Der besondere Wert von Beinahe-Schäden als kostenlose Lektionen geht angesichts dieser
Fehlerfeindlichkeit verloren.
Die Fehlervermeidung ist stark ausgeprägt, allerdings beschränkt durch den geringen
Reifegrad des Umgangs mit Fehlern. Würde man sich nicht reaktiv, sondern präventiv mit
Fehlern beschäftigen, könnte man die Fehlervermeidung wesentlich erfolgreicher
gestalten. [5], [7]
Normen und Werte einer idealen Fehlerkultur
Normen und Werte einer idealen Fehlerkultur
Das erste Erfordernis einer konstruktiven Fehler- und generativen Sicherheitskultur ist
die Klarstellung der organisationalen und individuellen Ziele. Für jede Entscheidung,
jeden Arbeitsprozess, jede einzelne Handlung muss die Sicherheit der Patienten oberste
Priorität haben. Dieser Anspruch reicht weit über die Grenzen der Intensivstation hinaus
und stellt sich auch an Management, Kostenträger und Politik. Die bloße Forderung nach
Patientensicherheit ist nutzlos in Anbetracht der Tatsache, dass das Generieren von
Sicherheit ständige Bemühung erfordert. Es müssen also auch die entsprechenden
Möglichkeiten geschaffen und Mittel bereitgestellt werden. Entscheidungen auf allen
genannten Ebenen müssen zeigen, dass Sicherheit eine höhere Priorität als
Wirtschaftlichkeit hat. [15] Hiermit einhergehen muss die
Akzeptanz von menschlichen Fehlern als Tatsache. Nur wer sich bewusst macht, dass
Menschen Fehler machen, kann sich produktiv mit ihnen beschäftigen. Dies gilt für die
individuelle Pflegeperson ebenso wie für das gesamte Team, alle Führungsebenen und die
Politik.
Schließlich sind Respekt und Wertschätzung für eine funktionierende Fehlerkultur von
essenzieller Bedeutung. Nur wer sich gegenseitig wertschätzt und respektvoll behandelt,
kann ohne Reibungsverluste über Fehler kommunizieren. „The Silent Treatment“ zeigte, wie
respektloses Verhalten Bemühungen für die Patientensicherheit unterminieren kann. [13]
Die ideale Fehlerkompetenz
Die ideale Fehlerkompetenz
In einer optimalen Fehlerkultur wird ständig über Sicherheit und Fehler kommuniziert:
[15] rege und beharrlich, offen und vertrauensvoll,
wertschätzend und respektvoll. Der Fehlervermeidung dient das gegenseitige Hinweisen auf
Fehler und Probleme. Diese Kritik wird konstruktiv, wertneutral und haltungserhaltend
geäußert. Gleichzeitig wird sie respektvoll und dankbar angenommen. Im Zwischenfall wird
gemeinsam Sorge getragen, dass der Schaden so gering wie möglich ausfällt. Generell wird
es befürwortet, auch als erfahrene Pflegeperson Rat zu suchen oder um Hilfe zu bitten.
Diese Hilfe wird auch gewährt, ohne vorschnelles Urteil über tatsächliche oder
vermeintliche Fehler.
All dies kann erlernt und trainiert werden. Es existieren vielfältige Angebote von
Kommunikationsseminaren und Anleitungen zu konstruktiver Kritik sowie spezielle
Human-Factors- und Crisis Resource Management-Trainings. An dieser Stelle sei die
Vorbildfunktion leitender und erfahrener Pflegepersonen hervorgehoben, die bei der
Verbreitung dieser Kompetenzen als Multiplikator dienen können.
Die Fähigkeit zur systematischen Analyse von Zwischenfällen ist Ausgangspunkt der
Lernprozesse. Von ihr hängt nicht nur ab, ob die am Zwischenfall beteiligten Personen zu
Recht oder zu Unrecht sanktioniert werden, sondern auch, ob in Zukunft die richtigen
Strategien zur Fehlervermeidung zur Anwendung kommen.
Instrumente einer idealen Fehlerkultur
Instrumente einer idealen Fehlerkultur
Sanktionen müssen gut überlegt und differenziert eingesetzt werden. Die konsequente
Bestrafung von vorsätzlichen Regelverstößen ist sinnvoll und notwendig. Bei echten
Fehlern hingegen führt sie nicht zur Verbesserung der Patientensicherheit, im Gegenteil:
Mitarbeiter, die ihre Bestrafung als ungerecht empfinden, verlieren das Vertrauen in die
organisationale Fehlerkultur und halten sich zukünftig mit der Meldung von Fehlern und
Zwischenfällen zurück. [5] Die Motivation zu solchen
Meldungen ist existenziell für eine konstruktive Fehlerkultur und darf durch Sanktionen
nicht gefährdet werden. Ein noch mächtigeres Instrument ist die Belohnung. Sie verstärkt
die Motivation, die die Triebfeder aller fehlerkulturellen Prozesse im Team der
Intensivstation darstellt. Team- und Fallbesprechungen sowie Berichtsysteme wie CIRS
sind hinreichend bekannte Instrumente. Es ist ihre ausgiebige Nutzung, die eine
konstruktive Fehlerkultur ausmacht.
Inhaltliche Dimensionen einer idealen Fehlerkultur
Inhaltliche Dimensionen einer idealen Fehlerkultur
In einer idealen Fehlerkultur gibt es kein Zuviel an Vertrauen. Niemand scheut sich,
eigene Fehler zu melden oder um Rat zu fragen. Die Bildung von Vertrauen zum Selbst, zu
anderen Pflegenden, anderen Berufsgruppen und Vorgesetzten ist Bedingung, dass die
Fehlerkultur auf der Intensivstation ihre Möglichkeiten entfalten kann.
Vertrauensfördernd wirkt ein respektvoller und wertschätzender Umgang miteinander. Auch
gemeinsame Freizeitaktivitäten und Trainings (Kommunikations-, CRM-, Simulatortraining)
beeinflussen Selbstvertrauen und Teamgeist positiv.
Die Fehlervermeidung einer idealen Fehlerkultur hat Systemcharakter; jeder Zwischenfall
wird analysiert und daraus gewonnene Informationen zur Vermeidung seiner Wiederholung
genutzt. Dabei wird Wert auf tiefgreifende Problemlösungen gelegt. Hierdurch bedingte
Verzögerungen der Arbeitsabläufe werden nicht nur in Kauf genommen, sondern honoriert.
[7]
Für die Intensivpflege haben Fehlerfreundlichkeit und Entwicklung weniger Bedeutung als
für kreative Branchen. Fehler als Lernchance wahrzunehmen, ist jedoch unerlässlich.
Gleiches gilt für das permanente Bestreben, die Prozesse der Patientenversorgung sowie
deren Standards an neue Erkenntnisse und Erfordernisse anzupassen. Als Instrument der
Fehlervermeidung sind Standards und Standardprozeduren zweifellos wertvoll. Stures
Festhalten an ihnen jedoch steht der hinterfragenden Grundhaltung konträr gegenüber, der
in der modernen Pflegeausbildung wie auch in Human Factors- und CRM-Trainings hohe
Bedeutung beigemessen wird.
Fehlerkultur ändern: gern, aber wie?
Fehlerkultur ändern: gern, aber wie?
Die tiefgreifende Veränderung der Kultur eines Teams ist eine sensible Angelegenheit.
Allzu forsche Versuche können zerrüttende Wirkung auf das Vertrauen haben. Nicht umsonst
gibt es einen eigenen Führungsbereich nur für intraorganisationale Veränderungen: das
Change Management.
-
Langsamer ist schneller: Veränderung braucht Zeit. Große Eile verursacht
Gegenwind.
-
Transparenz: Nur wenn allen Beteiligten die Notwendigkeit, die Ziele und Planung
der Veränderungen klar sind, können sie konstruktiv daran mitarbeiten.
-
Partizipation: Es geht um das Team – dann muss es sich auch einbringen dürfen.
Ideen und Einwände berücksichtigen!
-
Vorbilder und Belohnung: Das Lernen von Modellen spielt bei Werten und
Verhaltensweisen eine große Rolle. Belohnung der gewünschten Entwicklung schafft
die nötige positive Motivation.
-
Widerstände konstruktiv nutzen: Widerstand offenbart Bedürfnisse. Etwa einen
Mangel an Information über den Veränderungsprozess (Transparenz!) oder fehlende
Identifikation mit diesem (Partizipation!). Widerstand kann auch auf Schwächen im
Veränderungsmanagement hinweisen.
Konstruktive Fehlerkultur beginnt im Kopf – mit dem Wissen, dass Menschen Fehler
machen, und dem Verständnis für die Notwendigkeit, sich mit diesen
auseinanderzusetzen. Das Verständnis der Fehlerentstehung ist entscheidend für die
korrekte Behandlung: Sanktionen wirken nur bei vorsätzlichen Regelverstößen. Das
Auftreten von Aufmerksamkeits- und Gedächtnisfehlern wird durch Strafe nicht
beeinflusst. Das Arbeitsumfeld muss so angepasst werden, dass es die
Wahrscheinlichkeit ihrer Entstehung reduziert und Fehlerdetektion sowie -korrektur
erleichtert. Die personenzentrierte Fehleranalyse ist zugunsten der systematischen
aufzugeben. Fast immer tragen latente Bedingungen zu Zwischenfällen bei, die sich dem
Einfluss der einzelnen Pflegeperson entziehen. Die Frage „wer?“ ist bei der
Ursachenforschung nicht zielführend. Sinnvoller ist die Frage, was jeder Einzelne tun
kann, um einer Wiederholung des Geschehenen vorzubeugen. Im Team der Intensivstation
kommt es darauf an, das Vertrauen zu stärken und einen respektvollen, wertschätzenden
Umgang zu pflegen. Es sollte erwünscht sein, sich gegenseitig um Rat zu fragen und
auf Fehler und Probleme hinzuweisen. Fall- und Teambesprechungen, Supervisionen und
gemeinsame CRM-Trainings sind probate Mittel zur Steigerung der Fehlerkompetenz im
Team.
Ferner muss die Arbeitsdichte in der Intensivpflege reduziert werden. Für die
Auseinandersetzung mit Fehlern bleibt keine Zeit, wenn die Patientenversorgung an
sich schon zu kurz kommt. [12] Politik, Kostenträger
und Management müssen Möglichkeiten schaffen, die Beschäftigung mit Fehlern in die
Arbeitsprozesse der Intensivpflege zu integrieren. Die Entwicklung fehlerkultureller
Kompetenzen muss stärker in der Ausbildung, in Weiterbildungen und in der
Einarbeitung neuer Mitarbeiter verankert werden. Für die Patientensicherheit ist ein
Wandel der Fehlerkultur notwendige Bedingung. Er kann jedoch nur erfolgreich sein,
wenn sich alle Ebenen des Gesundheitswesens daran beteiligen, wenn aus der Forderung
nach weniger Fehlern die Frage wird: Was können wir zu einer konstruktiven
Fehlerkultur beitragen?