Die Frage nach der richtigen Hämoglobinkonzentration beim kritisch kranken Patienten
ist eigentlich beantwortet! Anders als in vielen anderen Ländern der Welt ist in Deutschland
die Anwendung und die Gabe von Blutprodukten gesetzlich geregelt.
Nach § 18 des Transfusionsgesetzes stellt die Bundesärztekammer im Einvernehmen mit
der zuständigen Bundesoberbehörde … in Richtlinien den allgemein anerkannten Stand
der medizinischen Wissenschaft und Technik … für die Anwendung von Blutprodukten,
einschließlich der Dokumentation der Indikation zur Anwendung von Blutprodukten …
fest. Es wird laut Gesetzt vermutet, dass der allgemein anerkannte Stand der medizinischen
Wissenschaft … eingehalten worden ist, wenn und soweit die Richtlinien der Bundesärztekammer
… beachtet worden sind. Die Bundesärztekammer hat aus diesem Grund Richtlinien erarbeitet
und in diesen Richtlinien wiederum auf entsprechende Querschnittsleitlinien der Bundesärztekammer
zur Therapie mit Blutkomponenten und Plasmaderivaten verwiesen. Die letzte Fassung
dieser Querschnittsleitlinien stammt aus dem Jahr 2014. Auch wenn der Titel ‚Querschnittsleitlinien‘
etwas anderes vermuten lässt, handelt es sich bei dieser Publikation nicht um Leitlinien
im klassischen Sinne, sondern, wie oben erläutert, eigentlich um Richtlinien mit einer
sehr hohen Verbindlichkeit auf der Basis eines Gesetzes, sodass man als transfundierender
Arzt schon gesetzlich gehalten ist, sich an diese Querschnittsleitlinien zu halten,
damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft beachtet wird.
In diesen Leitlinien wird ausgeführt, dass die Gabe von Erythrozytenkonzentraten angezeigt
ist, wenn Patienten ohne Transfusion durch eine anämische Hypoxie aller Voraussicht
nach einen gesundheitlichen Schaden erleiden würden und eine andere, zumindest gleichwertige
Therapie nicht möglich ist. Eine restriktive Indikationsstellung zur Erythrozytentransfusion
… geht bei den meisten Patientengruppen nicht mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko
einher [1]. Über Intensivpatienten heißt es in den Querschnittsleitlinien: Schwerkranke
Patienten, die auf Intensivstationen überwacht und behandelt werden, können hinsichtlich
Morbidität und Mortalität von restriktiven Transfusionsstrategien, die Hämoglobinkonzentrationen
zwischen 7 und 9 g/dl als Zielwerte vorsehen, profitieren [1]. In den Querschnittsleitlinien wird empfohlen (diese ‚Empfehlung‘ hat, wie oben
erläutert, eine hohe Verbindlichkeit), dass
-
wenn keine Risikofaktoren für eine eingeschränkte Kompensationsfähigkeit und keine
Hinweise auf eine anämische Hypoxie vorliegen, bei einer Hämoglobinkonzentration von
6 – 8 g/dl nicht transfundiert werden sollte.
-
beim Vorliegen einer eingeschränkten Kompensationsfähigkeit wie z. B. bei KHK, Herzinsuffizienz
oder zerebrovaskulärer Insuffizienz bei einem Trigger von 6 – 8 g/dl Hämoglobin transfundiert
werden sollte.
-
beim Vorliegen von Hinweisen auf eine anämische Hypoxie bei Hb-Werten zwischen 6 – 10 g/dl
transfundiert werden sollte. Hinweise auf eine solche anämische Hypoxie können u. a.
sein: Tachykardie, Hypotension, Dyspnoe, EKG-Veränderungen, neu aufgetretene Veränderungen
in der Echokardiografie, Abfall der zentralvenösen Sauerstoffsättigung auf unter 60 %
oder ein signifikanter Laktatanstieg.
-
bei Hb-Werten über 10 g/dl nicht transfundiert werden sollte.
Damit wäre eigentlich alles klar: Laut Querschnittsleitlinien sollte auch beim kritisch
kranken Patienten eine Transfusion zurückhaltend erfolgen und der Transfusionstrigger
in Abhängigkeit von Vorerkrankungen und Zeichen akuter anämischer Hypoxie zwischen
6 – 10 g/dl liegen. Details zu Transfusionsindikationen und der Erythrozytenkonzentratgabe
bei verschiedenen intensivmedizinischen Krankheitsbildern werden in dieser Ausgabe
der Intensivmedizin up2date in der Übersichtsarbeit von Neumann, Campos und Unterberg
diskutiert. Wie komplex manchmal dennoch die Indikationen zur Transfusion sind, bzw.
wie schnell sich die wissenschaftliche Evidenz für solche Indikationen ändert, soll
kurz an einem Beispiel erläutert werden:
Im Jahr 2001 publizierten Rivers et al. eine monozentrische Studie zur frühen hämodynamischen
Therapie bei septischen Patienten (Early goal directed therapy) [2]. In dieser Studie wurde gezeigt, dass eine frühe, anhand der zentralvenösen Sauerstoffsättigung
gesteuerte Therapie, bei der in einem Bündel von Maßnahmen unter anderem eine Hämatokritkonzentration
von ≥ 30 % angestrebt wurde, mit einer reduzierten Mortalität einhergeht. Bei erniedrigten
Werten der zentralvenösen Sättigung und Unterschreiten der angestrebten Hämatokritkonzentrationen
in der Behandlungsgruppe wurden Erythrozytenkonzentrate transfundiert. Eine Begründung
für das Auswählen speziell dieses Transfusionstriggers gaben die Autoren in der Publikation
nicht. Rasch wurde dennoch für die nächsten 10 Jahre in alle wichtigen internationalen
und nationalen Sepsisleitlinien dieser Transfusionstrigger von Hkt ≥ 30 % in die Empfehlungen
für die frühe Behandlung der schweren Sepsis und des septischen Schocks aufgenommen
[3]
[4]
[5]
[6]. In den vergangenen letzten 18 Monaten haben dann aber 3 große multizentrische Studien
keine Vorteile dieser ‚Early goal directed therapy‘ zeigen können [7]
[8]
[9]. Sehr wahrscheinlich wird mit diesen Ergebnissen auch die Empfehlung für das sehr
hohe Hämatokritziel bei der frühen Behandlung der Sepsis fallen. Nicht nur im Spezialfall
der initialen Behandlung der schweren Sepsis, sondern auch für viele andere intensivmedizinische
Szenarien gab es in den letzten Jahren erneut gute Evidenz, an der restriktiven Transfusionsstrategie
festzuhalten. So wurden z. B. im großen skandinavischen TRISS Trial fast 1000 Patienten
mit septischem Schock entweder einer restriktiven Transfusionsgruppe mit einem Transfusionstrigger
von 7 g/dl oder einer liberalen Transfusionsgruppe mit einem Transfusionstrigger von
9 g/dl zugeordnet [10]. Zwischen den beiden Gruppen fanden sich keinerlei Unterschiede in Bezug auf die
90-Tage-Mortalität und die Häufigkeit ischämischer Komplikationen. Die Patienten der
liberalen Transfusionsgruppe erhielten aber ca. die vierfache Menge an Transfusionen.
Anders als die deutlichen Ergebnisse bei kritisch kranken Patienten konnten die Vorteile
einer restriktiven Transfusionsstrategie im perioperativen Setting nicht immer bestätigt
werden, so ergab z. B. eine aktuelle, lebhaft diskutierte, multizentrische Studie
bei kardiochirurgischen Patienten, dass eine restriktive postoperative Transfusionsstrategie
im Vergleich zu einer liberaleren Strategie sogar mit einer erhöhten Mortalität einhergehen
kann [11]. Selbst unterschiedliche Metaanalysen der bislang vorliegenden, weitestgehend gleichen
Studien zum Thema ‚Transfusionstrigger‘ ergaben divergente Ergebnisse, mal war eine
perioperative restriktive Transfusionsstrategie positiv und mal nicht [12]
[13]. Für die kritisch kranken intensivpflichtigen Patienten sind aber die Ergebnisse
der Metaanalysen eindeutig: Diese Patienten profitieren von einer restriktiven Transfusionsstrategie.
Die Querschnittsleitlinien der Bundesärztekammer haben das in ihren Empfehlungen schon
lange berücksichtigt.
Hans-Georg Bone