ergopraxis 2016; 9(01): 14-15
DOI: 10.1055/s-0041-109042
wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Von wegen »grau« – Theorien in der Ergotherapie

Florence Kranz

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Publication Date:
08 January 2016 (online)

 

Bei der Arbeit mit unseren Klienten haben wir jede Menge theoretischer Vorstellungen im Kopf. Zum Leben erwecken wir diese, sobald wir sie mit unserem Berufsverständnis vereinbaren und in die Praxis umsetzen.


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Florence Kranz

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Florence Kranz, Ergotherapeutin BcOT und M.A. Gesundheitsmanagement, arbeitet freiberuflich als Journalistin, Redakteurin und Dozentin.

Wie entsteht menschliches Handeln und wodurch lässt es sich beeinflussen? Wie kann ich meine Kommunikation mit dem Klienten angemessen gestalten? Und wie funktioniert die Neurokognitive Rehabilitation nach Professor Perfetti? Die Antworten auf diese Fragen finden Ergotherapeuten in vielfältigen Theorien. Idealerweise können diese Theorien Sachverhalte beschreiben, erklären und vorhersagen. Dazu fassen sie bewährte Hypothesen, Konstrukte und Konzepte zusammen [1–3].

Theorie ist nicht gleich Theorie

In ihrer Arbeit greifen Ergotherapeuten auf Wissen unterschiedlichster Disziplinen zurück und kombinieren es mit ihren ergotherapeutischen Theorien und Praxiserfahrungen [4]. So vielfältig die genutzten Theorien auch sein mögen, sie verfolgen in der Regel alle das gleiche Ziel: einen bestimmten Aspekt der menschlichen Erfahrung zu erklären [2]. Zum Beispiel, wie Menschen ihr Handeln strukturieren, wie motorisches Lernen funktioniert oder welche Entwicklungsstufen ein Kind durchläuft. Die Aussagekraft kann allerdings variieren. Einfache Theorien begnügen sich damit, einen Sachverhalt zu beschreiben. Eine „gute” Theorie geht darüber hinaus und besitzt auch einen prognostischen Wert. Das heißt, sie beschreibt und erklärt einen Sachverhalt nicht nur, sondern erlaubt auch konkrete Vorhersagen [1, 2]. Wie die sozialkognitive Theorie von Bandura zu der Frage, ob ein Klient sein ergotherapeutisches Heimprogramm regelmäßig durchführen wird. Demnach wird der Klient das gewünschte Gesundheitsverhalten eher zeigen, wenn es seinen persönlichen Zielen entspricht. Eine Schlüsselrolle spielt zudem seine Überzeugung, das Programm selbstwirksam durchführen zu können. Erwartet er gleichzeitig positive Ergebnisse – etwa eine verbesserte Alltagsperformanz –, kann dies seine Motivation zusätzlich stärken [5, 6].

» Das zeitgenössische Paradigma macht die Ergotherapie als eigenständige Profession greifbar. «


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Auf dem Prüfstand

Theorien sind nicht absolut „wahr”. Sie zielen vielmehr darauf ab, den aktuellen Forschungsstand angemessen wiederzugeben. Dabei sollte eine „gute” Theorie

  • → logisch und schlüssig sein, also keine Widersprüche aufweisen,

  • → gehaltvoll bzw. informativ sein und damit prinzipiell widerlegbar (falsifizierbar),

  • → sparsam sein, indem sie viele Befunde in wenigen Annahmen erklärt und

  • → bewährt sein, also verschiedenen Tests standgehalten haben [1].

Die Gültigkeit einer Theorie hängt also davon ab, wie gut sich die zugrunde liegenden Hypothesen in der Praxis bewähren. Um dies zu überprüfen, erscheint die quantitative Forschung besonders geeignet. Dabei gilt für Theorien (fast) das Gleiche wie für Wirksamkeitsnachweise: Je hochwertiger eine Studie, desto größer ihre Beweiskraft [1–3]. Die qualitative Forschung spielt in der Ergotherapie aber ebenso eine wichtige Rolle. Vor allem, wenn es darum geht, Einblicke in das subjektive Erleben der Teilnehmer und ihre individuellen Kontexte zu gewinnen. Das erhobene Datenmaterial kann als Basis dienen, um neue Theorien zu entwickeln. Beispielsweise zu der Frage, wie bestimmte Klientengruppen ihre Handlungseinschränkungen im Alltag erleben [3]. Oder wie Ergotherapeuten ihre kulturellen Kompetenzen entwickeln [7]. Solche induktiv gewonnenen Theorien lassen sich anschließend wieder deduktiv überprüfen. Insbesondere um zu beleuchten, ob sie der Praxis standhalten [2, 3].


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Von der Theorie zum Paradigma

Handelt es sich um eine sehr umfassende, komplexe und weithin akzeptierte Theorie – eine Art Weltsicht –, kann man von einem Paradigma sprechen [1, 2]. Das zeitgenössische Paradigma der Ergotherapie repräsentiert gewissermaßen eine solche übergreifende Theorie, die das menschliche Handeln bzw. Betätigen in den Fokus rückt [8–10]. Demnach beruht das Handeln auf der Interaktion zwischen einer Person, ihrer Handlung und der Umwelt. Es stellt ein besonderes Merkmal des Menschen dar, das seine Gesundheit und sein Wohlbefinden entscheidend beeinflusst. Gleichzeitig lässt es sich strukturieren, beeinflussen und nutzen, um Handlungsdysfunktionen zu beseitigen und die Handlungskompetenz zu verbessern [8, 9]. Das ist eine grundlegende Erkenntnis, die die Ergotherapie als eigenständige Profession greifbar macht. Und das unabhängig davon, in welchem Fachbereich, mit welcher Klientel oder in welchem Setting Ergotherapeuten tätig sind. Denn sie verfolgen eine handlungsbasierte Praxis und stellen die Handlungsanliegen ihrer Klienten in den Mittelpunkt der Intervention [9]. Damit trägt das zeitgenössische Paradigma dazu bei, die Identität der Ergotherapeuten auszubilden und nach außen darzustellen [8, 9]. Gleichzeitig prägt es den Blickwinkel, aus dem heraus Ergotherapeuten ihre Klienten, deren Handeln und auch weitere relevante Theorien betrachten [10–12].


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Der Transfer in die Praxis

Mit Theorien können Ergotherapeuten ihre Praxis untermauern. Sie alleine gewährleisten aber noch nicht, dass ihre praktische Arbeit tatsächlich gelingt [4]. Ergotherapeutische Modelle oder Rahmenwerke wie das Model of Human Occupation (MOHO), Canadian Model of Occupational Performance and Engagement (CMOP-E) oder das Occupational Therapy Practice Framework (OTPF) unterstützen Ergotherapeuten darin, relevante theoretische Zusammenhänge zu verstehen und in die Praxis zu übertragen (ERGOPRAXIS 7-8/15, S. 12). Und das ganz im Sinne des zeitgenössischen Paradigmas [9, 12]. Dabei zeigen sie ihnen auch mögliche Ansatzpunkte für ihre Interventionen. Eines können sie aber nicht bieten: Patentrezepte.

» Modelle helfen Ergotherapeuten, ihre Theorien in die Praxis umzusetzen. «

Deshalb sind Ergotherapeuten bei jedem Klienten aufs Neue gefordert, mithilfe ihrer Reasoning-Prozesse ein geeignetes methodisches Vorgehen zu entwickeln (ERGOPRAXIS 4/15, S. 18). Hierzu müssen sie jeweils herausfinden, wie sich Handlungsdysfunktion und -funktion voneinander unterscheiden, wie sich der Klient zwischen den beiden Polen bewegt und wie sie diesen Prozess beeinflussen können [4]. Dazu greifen sie manchmal auch auf die Bezugswissenschaften zurück: bei einer Klientin mit Burnout-Symptomatik zum Beispiel auf Theorien zur Stressentwicklung und -prävention, in der Arbeit mit Kindern etwa auf Theorien der Entwicklungspsychologie. Spätestens dann kommen ihre ergotherapeutischen Modelle oder Rahmenwerke aber wieder ins Spiel. Denn diese helfen ihnen, die genutzten Theorien sinnvoll einzuordnen, zu verknüpfen und nutzbar zu machen [12]. Immer aus einem ergotherapeutischen Blickwinkel heraus. Und mit dem Ziel, den Klienten bestmöglich in seinen individuellen Handlungsanliegen zu unterstützen.


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Florence Kranz, Ergotherapeutin BcOT und M.A. Gesundheitsmanagement, arbeitet freiberuflich als Journalistin, Redakteurin und Dozentin.