Fallvorstellung
Eine 21-jährige Patientin stellte sich in der Notaufnahme mit Erbrechen und krampfartigen abdominalen Schmerzen vor. Im Aufnahmelabor zeigte sich lediglich eine leichte Leukozytose (16 000 /l); die zunächst durchgeführte Sonografie ergab eine massive Auftreibung der Magenwand sowie freie Flüssigkeit im Abdomen. Aufgrund der ausgeprägten klinischen Beschwerden wurde im Anschluss an die Ultraschall-Untersuchung eine CT des Abdomens durchgeführt (Abb. [1], Abb. [
2
]).
Bildanalyse
Die CT des Abdomens zeigte eine am Rand relativ scharf begrenzte, massive Wandschwellung im distalen Magen (Abb. [1]) und Duodenum (Abb. [2]) sowie vermehrte intraluminale Flüssigkeit im Duodenum und proximalen Jejunum. Außerdem bestätigte sich die in der Sonografie beschriebene freie Flüssigkeit insbesondere im Oberbauch.
Diagnose und Verlauf
Diagnose. Nach der Untersuchung erwähnte die Begleitperson der Patientin eine „Stoffwechselerkrankung“: In früheren Laboruntersuchungen war eine Erniedrigung des C1-Esterase-Inhibitors nachgewiesen worden. Die Befunde wurden daher als abdominale Manifestation bei hereditärem Angioödem interpretiert.
Auf spezifische Nachfrage berichtete die Patientin über vereinzelte frühere Episoden mit Ödemen an den Händen und Füßen. An eine abdominale Manifestation konnten sich jedoch weder die Patientin noch die Begleitperson erinnern. Sowohl der Vater als auch die Schwester der Patientin waren ebenfalls an C1-Esterase-Inhibitormangel erkrankt.
Verlauf. Unter symptomatischer Therapie besserten sich die Beschwerden, eine Gastroskopie ergab geringe Erosionen der Magenschleimhaut, die Biopsie zeigte lediglich ein Wandödem. Die Patientin konnte nach 3 Tagen unter symptomatischer Therapie beschwerdefrei entlassen werden.
Diskussion
Krankheitsbild
HAE. Das hereditäre Angioödem (HAE) ist eine seltene autosomal-dominant vererbte Erkrankung. Die Prävalenz beträgt etwa 1 : 50 000 mit einer beobachteten Spannbreite von 1 : 10 000 bis 1 : 150 000. Das HAE zeigt keine Geschlechtspräferenz, auch liegt kein Anhalt für Prävalenzunterschiede in unterschiedlichen ethnischen Gruppen vor. Bei 40 % der Patienten kommt er zu einer Erstmanifestation vor dem 5., bei 75 % vor dem 15. Lebensjahr. Wiederholte Manifestationen sind bei präpubertären Kindern selten; i. d. R. kommt es erst nach der Pubertät zu einer erhöhten Anfallsfrequenz, sodass die Diagnose zumeist nicht vor dem 2. oder 3. Lebensjahrzehnt gestellt wird [1].
AAE. Das erworbene Angioödem (AAE) ist extrem selten, sodass keine belastbaren Daten zur Inzidenz vorliegen. Typisch ist eine deutlich spätere Manifestation, i. d. R. im 4. Lebensjahrzehnt oder später. Es liegt i. d. R. eine begleitende lymphoproliferative, maligne oder Autoimmunerkrankung vor [2].
Pathophysiologie. Das HAE basiert auf einem quantitativen oder funktionellen Mangel an C1-Esterase-Inhibitor. Dieser spielt eine entscheidende Rolle in der Inhibierung des Komplementsystems, insbesondere der von aktiviertem C1 vermittelten Komplementkaskade. Diese führt über die Aktivierung weiterer Komplementfaktoren zu einer erhöhten Kapillarpermeabilität und in der Folge zu Ödemen. Über eine Hemmung des Kallikrein-Kinin-Systems – und damit der Bradykinin-Produktion – wird eine Ödembildung über die resultierende Vasodilatation ebenfalls gefördert [3].
Klinik. Klinisch manifestiert sich die Erkrankung in wiederkehrenden Episoden mit lokal begrenzten Ödemen ohne begleitenden Juckreiz. Manifestationsorte sind insbesondere die Haut, aber auch viszerale Organe, häufig sind Atmungs- und Verdauungstrakt betroffen. Vom Manifestationsort hängt auch das klinische Erscheinungsbild ab:
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Kutane Manifestationen betreffen häufig die Extremitäten, das Gesicht und die Genitalien, prinzipiell können sie aber überall auftreten. Die betroffenen Hautareale sind häufig schmerzhaft.
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Manifestationen im Atmungstrakt können durch Asphyxie lebensbedrohlich werden. Häufig ist der Larynx betroffen, entweder alleine oder mit begleitenden Schwellungen von Lippen, Zunge, weichem Gaumen und Uvula.
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Abdominale Manifestationen gehen mit Koliken, Übelkeit und Erbrechen unterschiedlicher Intensität einher, eine begleitende Diarrhö kann vorkommen [4]. Eine Leukozytose ist bei abdominalen Manifestationen häufig [5].
Ödemattacken bei HAE treten meistens spontan auf, können aber auch durch äußere Einflüsse ausgelöst werden, wie z. B. durch Traumen oder Operationen, insbesondere im Mund-Hals-Bereich. Auch emotionaler Stress oder Infektionen können Ödemattacken verursachen. ACE-Hemmer und östrogenhaltige Kontrazeptiva oder Präparate können die Attackenfrequenz verstärken.
Diagnostik
Abdominale Manifestationen sind bei HAE relativ häufig [6] und treten bei ca. 25 % der Patienten als dominante Manifestation auf [7]. Da das HAE aber insgesamt sehr selten ist, sind die damit einhergehenden Symptome ein diagnostisches Problem, wenn keine kutanen Ödeme vorliegen und die anamnestischen Informationen nicht auf die Erkrankung hinweisen.
Oft präsentieren sich die Patienten mit der Symptomatik eines akuten Abdomens, auch laparoskopische Abklärungen können vorkommen.
Die Verdachtsdiagnose eines HAE sollte bei rezidivierenden Schwellungen der Haut, bei rezidivierenden abdominellen Schmerzattacken oder bei einem Larynxödem (oder bei Kombinationen dieser Symptome) erwogen werden, insbesondere bei positiver Familienanamnese. Die Diagnose wird laborchemisch durch Bestimmung von C1-INH-Konzentration und ‑Aktivität sowie der C4-Konzentration gesichert. Eine genetische Testung ist möglich und hat eine Sensitivität von ca. 90 – 95 % [8].
Therapie
Symptomatisch kommen eine Analgesie und die Substitution von Flüssigkeit in Betracht. Eine spezifische Therapie steht mit C1-INH-Konzentrat oder Icatibant, einem Bradykinin-Antagonisten, zur Verfügung. Diese wird aufgrund der hohen Kosten allerdings nur bei entsprechender Dringlichkeit durchgeführt.
Epikrise
Im aktuellen Fall präsentierte sich die Patientin mit ausgeprägter abdominaler Symptomatik und machte zunächst keine Angaben zum bekannten C1-Esterase-Inhibitormangel oder zur bekannten familiären Belastung. Die Sonografie war nicht eindeutig; das in der abdominellen CT dargestellte massive Wandödem führte dann zusammen mit den inzwischen vorliegenden anamnestischen Angaben zur Diagnose einer rein abdominalen Manifestation bei HAE. Bei Symptomregredienz unter symptomatischer Therapie war keine spezifische Therapie erforderlich. Die Patientin konnte nach wenigen Tagen beschwerdefrei entlassen werden und wurde anschließend durch eine externe spezialisierte Ambulanz weiterbetreut.