Pneumologie 2016; 70(01): 13-14
DOI: 10.1055/s-0041-111406
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Statements des Collegium Ramazzini 2016 – Weltweites Asbestverbot und anhaltende Probleme der Entschädigung der Asbestopfer

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Publication Date:
20 January 2016 (online)

 

Nach neuesten Schätzungen liegt die aktuelle Mortalität asbestbedingter Erkrankungen z. Z. bei nahezu 200 000 Fällen pro Jahr. Es ist davon auszugehen, dass bis zu einem globalen Ende der Asbestanwendung insgesamt über 10 Mio. Menschen diesem „Material der 1000 Möglichkeiten“ (seinerzeit ein geflügelter Werbespruch der Asbestindustrie) zum Opfer gefallen sind. Bezogen auf den Asbestverbrauch ergibt sich nach einer mittleren Latenzzeit von 35 bis 40 Jahren ein Todesfall auf 48 Tonnen abgebauten bzw. verarbeiteten Asbest [ 1 ].

Die Zahl der 2013 offiziell anerkannten asbestbedingten Berufskrankheiten betrug in Deutschland 3722, wobei 978 auf das Mesotheliom, 794 auf den Lungen- oder Kehlkopfkrebs (Verhältnis der letzten 2 hierzulande 1:0,81) und 1926 auf die Asbestose und asbestbedingte Pleuraplaques entfielen [ 2 ]. Im Vordergrund der Mortalität und Kompensation stehen Lungenkrebs und Mesotheliom. Nach neueren Auswertungen besteht im Gegensatz zur hiesigen Anerkennungspraxis zwischen diesen beiden, großteils tödlich verlaufenden Erkrankungen im Mittel ein Verhältnis von 3,5:1 [ 1 ]. Deren 5-Jahresüberlebensraten betragen nur 37 bzw. 7 %. Aber auch die sog. benignen asbestbedingten Erkrankungen sind mit einer nicht unerheblichen Mortalität verbunden; ihre Anerkennungsquote ist mit 53 % ebenfalls auffallend niedrig. Dabei gehen R. T. Lin et al. [ 3 ] mit gutem Grund davon aus, dass eine erhebliche Dunkelziffer besteht und die tatsächlichen Zahlen etwa doppelt so hoch sind. Die derzeitige Morbidität und Mortalität asbestbedingter Erkrankungen ergibt sich für Deutschland aus ‣ Tab. [ 1 ]. Weltweit wird die Zahl der krankheitsbedingten Lebensjahre (disability-adjusted life-years, DALYS) auf 3,4 Mio. veranschlagt.

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Tab. 1 Asbestbedingte Berufskrankheiten in Deutschland in den Jahren 2012 (obere Zahl) und 2013 [ 2 ].

Die finanziellen Aufwendungen für diese Erkrankungen sind immens. Nach einer kürzlich erfolgten Veröffentlichung der WHO sind allein für die Mesotheliom-Erkrankungen in 15 europäischen Ländern 1,6 Mrd. Euro jährlich aufzubringen [ 4 ] Wir haben es also mit einer globalen Pandemie, verbunden mit enormen Herausforderungen der öffentlichen Gesundheitseinrichtungen zu tun. In Abhängigkeit vom Zeitpunkt des Asbestverbotes (ein solches haben erst 53 Länder ausgesprochen) unterscheidet sich bei gegebenen Dosis-Wirkungsbeziehungen das aktuell erreichte Stadium der Pandemie von Land zu Land. So gibt es in Ländern mit einem frühen Asbestverbot wie Norwegen inzwischen nur noch wenige Neuerkrankungen (S. Langard, persönliche Mitteilung), während in Schwellenländern der Peak der Erkrankungen erst in Jahren oder Jahrzehnten zu erwarten ist.

Collegium Ramazzini

Vor dem Hintergrund dieser unzähligen menschlichen Tragödien und der selbst unter wirtschaftlichen Aspekten als unverantwortliche und kurzsichtige Fehlentwicklungen einzustufenden weiteren, z. T. sogar zunehmenden Asbestanwendung in vielen Schwellenländern, schließt sich das Collegium Ramazzini mit einem Statement den Kampagnen der WHO zum weltweiten Asbestanwendungs- und -produktionsverbot und somit langfristig der Eliminierung asbestbedingter Erkrankungen an [ 5 ]. Das Collegium Ramazzini ist eine internationale unabhängige Vereinigung von 180 Wissenschaftlern und Klinikern aus 35 Ländern, welche sich dem Gesundheitsschutz bei der Arbeit und in der Umwelt widmet. Seit seiner Gründung durch Prof. Irving Selikoff, Mount Sinai Hospital, New York/USA, und Prof. Cesare Maltoni, Bologna/Italien, im Jahre 1982 stehen dabei die Gesundheitsgefahren durch Asbest im Fokus.

Dass Collegium Ramazzini veröffentlichte kürzlich ein weiteres Statement, welches sich mit der Verursachung des ma-lignen Mesothelioms durch eine kumulative Asbestbelastung befasst. Dabei wird die Forderung bestimmter Kreise der früher Asbest anwendenden und nun zur Kompensation von dadurch verursachten Berufskrankheiten aufgeforderten Industrie, wonach ausschließlich die initialen, also die besonders lange zurückliegenden Asbestexpositionen zur Entstehung eines Mesothelioms beitragen, als falsch und wissenschaftlich nicht zu begründen zurückgewiesen. Die durchsichtige Argumentation der Beklagten, untermauert mit Daten von ihr bezahlter Wissenschaftler [ 6 ] und in mehreren eingehenden Arbeiten widerlegt [ 7 ], [ 8 ], führt insbesondere in Italien häufig zur Ablehnung der Anerkennung als Berufskrankheit, wenn der initiale asbestverarbeitende Arbeitgeberbetrieb nicht mehr existiert. Das Collegium Ramazzini zeigt sich tief besorgt darüber, dass die Annahme dieser fehlerhaften Aussage zur ungerechtfertigten Verweigerung der Entschädigung von Asbestopfern beiträgt und dadurch auch die Bemühungen zur Diagnose und Prävention untergraben werden [ 9 ].

Aus gegebenem Anlass und basierend auf neuen wissenschaftlichen Veröffentlichungen hat das Collegium Ramazzini schließlich häufig angewandte, willkürlich erscheinende restriktive Pathologie-Kriterien für die Diagnose asbestbedingter Berufskrankheiten kritisch beleuchtet [ 10 ].


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Helsinki Consensus Report

Im Zentrum steht dabei der Helsinki Consensus Report 2014 [ 11 ] über asbestbedingte Erkrankungen, der auf das Treffen eines Expertenkomitees im Finnish Institute of Occupational Health zurückgeht. Dabei galt es, die Helsinki-Kriterien aus den Jahren 1997 und 2000 über Asbest, Asbestose und Krebs zu aktualisieren. Das Collegium Ramazzini bringt seine Anerkennung dieses Updates zum Ausdruck, äußerst andererseits ernste Besorgnis über Abschnitte des Helsinki-Reports, die sich auf die Pathologie-Kriterien beziehen. Im Einzelnen werden dort kritisiert:

  • die Überbetonung des Nachweises von Asbestkörpern im Lungengewebe als Indikatoren einer früheren Asbestexposition,

  • die Überbetonung der Asbestfaserzahl im Lungengewebe als Indikator einer früheren Asbestexposition,

  • die Verwendung des Rasterelektronenmikroskops mit geringer Vergrößerung als ein Werkzeug für die Bewertung einer asbestbedingten Erkrankung,

  • die fehlende Berücksichtigung, dass Weißasbest (Chrysotil) die vorherrschende Asbestfaserart im pleuralen Mesotheliomgewebe ist,

  • die verzerrte Widergabe der Dosis-Wirkungsbeziehung des asbestbedingten Lungenkrebses.

Vorgenannte Fehleinschätzungen führen zur ungerechtfertigten Ablehnung asbestbedingter Berufskrankheiten lediglich anhand von Untersuchungen mit Mitteln der Pathologie. Dies gilt speziell dann, wenn solche Diagnosen einer gründlich erhobenen Arbeitsvorgeschichte widersprechen. Der Goldstandard der Expositionserfassung und damit auch eine Entscheidungsbasis für die Diagnosestellung ist nicht – wie unter den Pathologie-Kriterien im Helsinki Consensus Report 2014 dargestellt – die Asbestköperzahl im Lungengewebe, sondern die eingehend erhobene Arbeitsanamnese. Das Collegium Ramazzini kommt daher zu dem Schluss, dass die Anwendung der Empfehlungen der Pathologie-Kriterien im Helsinki Report zur Nichterkennung asbestbedingter Erkrankungen, zum Versagen der Unfallversicherungssysteme in Bezug auf eine sachgerechte Entschädigung und schließlich zu verpassten Chancen führen wird, asbestbedingte Gesundheitsrisiken richtig einzuschätzen und entsprechende Erkrankungen zu verhindern [ 12 ].

In einer in Vorbereitung befindlichen Ergänzung wird vertiefend auf eine weitere gravierende Änderung im Helsinki Consensus Report eingegangen: der Empfehlung einer restriktiven Definition der beginnenden Asbestose (CAP/PPS- oder Roggli-Pratt-Modifikation), anstelle der bisher gültigen und von unabhängigen Pathologen weiterhin angewendeten CAP/NIOSH-Definition von 1982 [ 13 ]. In dieser modifizierten, hierzulande vielfach angewendeten Fassung werden ohne Begründung und ohne eine wissenschaftliche Basis frühe pathologische Veränderungen in den peripheren Atemwegen nun nicht mehr dem Grad 1, sondern dem Normalbefund Grad 0 zugeordnet [ 14 ].

Prof. Xaver Baur, Berlin


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Tab. 1 Asbestbedingte Berufskrankheiten in Deutschland in den Jahren 2012 (obere Zahl) und 2013 [ 2 ].