Z Geburtshilfe Neonatol 2016; 220(04): 155-165
DOI: 10.1055/s-0041-111634
Übersicht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Bedeutung der Latenzphase der Geburt – eine historische Analyse

The Meaning of the Latent Phase of Labour – A Historical Analysis
A. Krahl
1   Faculty of Business Management and Social Sciences, University of Applied Sciences, Osnabrueck
,
W. Schnepp
2   Faculty of Health, Department Nursing Science, University Witten/Herdecke, Witten
,
F. zu Sayn-Wittgenstein
1   Faculty of Business Management and Social Sciences, University of Applied Sciences, Osnabrueck
2   Faculty of Health, Department Nursing Science, University Witten/Herdecke, Witten
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Korrespondenzadresse

Astrid Krahl
Faculty of Business Management and Social Sciences
University of Applied Sciences
Caprivistraße 30a
49076 Osnabrueck
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Fax: +49/541/9693 765   

Publication History

eingereicht 02 July 2015

angenommen nach Überarbeitung 10 December 2015

Publication Date:
15 July 2016 (online)

 

Zusammenfassung

Die Begriffe Latenzphase und aktive Eröffnungsphase gliedern die Eröffnungsperiode und gehen zurück auf die Arbeiten des US-amerikanischen Gynäkologen Emanuel A. Friedman aus den 1950er Jahren. Seither gehört diese Differenzierung der Eröffnungsperiode international sowohl in wissenschaftlichen Untersuchungen als auch in der klinischen Praxis zum üblichen Vorgehen. Auch wenn die Wurzeln für die detaillierte Betrachtung und Bewertung der ersten Geburtsphase im deutschsprachigen Raum liegen, hat sie sich in Deutschland bislang nicht flächendeckend durchgesetzt. In dieser Analyse ausgewählter Hebammenlehrbücher und geburtshilflicher Lehrbücher aus 5 Jahrhunderten sowie historischer als auch aktueller wissenschaftlicher Publikationen werden Merkmale und Verlauf der Phasen beschrieben und diskutiert. Die Differenzierung der Eröffnungsperiode in Latenzphase und aktive Geburtsphase ermöglicht Hebammen und ärztlichen Geburtshelfern und -helferinnen eine spezifische und individuelle Geburtsleitung und Betreuung der Gebärenden während der gesamten Geburt.


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Abstract

The division of the first stage of labour into the latent phase and active labour is based on the work of the Boston gynaecologist Emanuel A. Friedman in the 1950s. Since then international research and clinical practice have normally differentiated between the two. However, these concepts are not generally accepted in Germany, even though the basis for Friedman’s work is to be found in the German speaking area. In an analysis of selected current and historical sources covering five centuries, the characteristics of the phases and the course of labour are described. Dividing the first stage of labour into a latent and active phase allows midwives and obstetricians to create a more specific labour management and care of women in labour.


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Hintergrund

In der internationalen geburtshilflichen Literatur erfährt aktuell die Betreuung von Frauen während der frühen Phase der Geburt verstärkte Aufmerksamkeit [1] [2] [3] [4] [5] [6]. Hintergrund dieser Publikationen ist die Erkenntnis, dass Frauen, die bereits in der frühen Eröffnungsperiode in den Kreißsaal aufgenommen werden, häufiger die Diagnose Geburtsdystokie (protrahierte Eröffnungsperiode, Geburtsstillstand in der Eröffnungsperiode, sekundäre Wehenschwäche) [5] [7] [8], Oxytocin oder eine Sectio caesarea erhalten [5] [7] [9] [10] [11] [12] [13]. Die Frage, warum der Aufnahmezeitpunkt einen so weitgehenden Einfluss auf das Geburtsgeschehen nehmen kann, ist bis heute nicht abschließend beantwortet. Diskutiert werden verschiedene Aspekte, die unter Umständen als Circulus vitiosus wirken. So könnten die Sensibilität der frühen Geburtsphase gegenüber äußeren Einflüssen, bspw. eine vorübergehend nachlassende Wehentätigkeit bei Stress durch den Ortswechsel, und eine verunsicherte oder möglicherweise ängstliche Frau [14] [15] zusammen mit einem Geburtsmanagement, das zeitlich engen Maßgaben folgt und einen eindeutigen Geburtsfortschritt innerhalb von 2 Stunden verlangt [16] [17], dazu führen, dass vorzeitig medizinische Maßnahmen eingeleitet werden.

In den erwähnten Studien findet sich eine Unterteilung der Eröffnungsperiode in eine Latenzphase (latent phase of first stage) und eine aktive Geburtsphase (active phase of first stage), die jeweils durch unterschiedliche Eröffnungsgeschwindigkeiten gekennzeichnet sind. Diese Form der Einteilung gehört bis heute insbesondere in Nordamerika, Skandinavien und Großbritannien zum üblichen Vorgehen [18] [19] [20]. Die Differenzierung der Eröffnungsperiode in Unterphasen geht auf die Mitte des 20. Jahrhunderts beginnende, langjährige Forschung des US-amerikanischen Gynäkologen und Geburtshelfers Emanuel A. Friedman zurück [21] [22]. Die Grundlagen seiner Forschung liegen nach eigener Auskunft [23] in verschiedenen Ansätzen einer grafischen Aufzeichnung des Geburtsverlaufes, die wenige Jahre zuvor von den aus Deutschland und der Schweiz stammenden Gynäkologen Wolf [24], Zimmer [25], Koller und Abt [26] sowie der Gynäkologin Deuel-Zogg [27] publiziert worden waren. Die Erkenntnisse von Wolf und Zimmer legten eine differenzierte Betrachtung des Geburtsverlaufs nahe, die jedoch in Deutschland nicht weiter verfolgt wurde.

Mit der zunehmenden Etablierung einer evidenzbasierten Praxis, erwächst gegenwärtig die Notwendigkeit, das international häufig angewendete Konzept der Differenzierung der Eröffnungsperiode zu berücksichtigen, da sich auf diese Weise Forschungsergebnisse zu normalen und protrahierten Geburtsverläufen vergleichen und in der hiesigen Praxis anwenden lassen.

Ziel dieser Publikation ist es, die historische Entwicklung der Einteilung der Geburt in Phasen vom 16. Jahrhundert bis zum heutigen Verständnis nachzuvollziehen. Inhaltlich im Fokus stehen dabei die frühe Phase der Geburt und die Latenzphase nach Friedman. Auch wenn der Latenzphase nicht primär eine klinische Relevanz in der Form zugeschrieben wird, die eine Überwachung im Kreißsaal indizieren würde, ist sie für die gebärenden Frauen und für die geburtshilfliche Betreuung eine Phase von großer Relevanz. Denn mehr als die Hälfte aller Frauen (ohne primäre Sectio) werden zu einem frühen Zeitpunkt der Geburt mit einer Muttermundsweite bis zu 2 Zentimetern stationär aufgenommen [28] und wünschen sich eine kompetente Unterstützung während dieser frühen Phase der Geburt.

Die Fragestellungen, denen im Folgenden nachgegangen wird, sind:

  1. Welche Entwicklungen der Einteilung der Geburt in einzelne Phasen lassen sich für den deutschsprachigen Raum historisch beschreiben?

  2. Wie werden die Geburtsphasen Latenzphase und aktive Geburtsphase definiert?

  3. Welche spezifischen Merkmale werden für die Geburtsphasen Latenzphase und aktive Geburtsphase beschrieben?

  4. Welche Aspekte sind bei einer Berücksichtigung der Konzepte Latenzphase und aktive Geburtsphase in der geburtshilflichen Praxis zu berücksichtigen?


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Methodisches Vorgehen

Die vorliegende Publikation basiert auf einer Analyse aktueller und historischer Literatur. Recherchiert wurde in einschlägigen Datenbanken (Pubmed, MedPilot, CINAHL), der Deutschen Nationalbibliothek, den Bibliothekskatalogen der Universitäten Münster und Osnabrück sowie Google Books. Für die Darstellung der historischen Entwicklung der Konzepte Geburtsbeginn und Geburtsphasen wurden ausschließlich deutschsprachige Originaltexte genutzt. Für den Zeitraum vor dem 20. Jahrhundert bot sich eine Vielzahl an Hebammenlehrbüchern, Enzyklopädien und Jahresberichten der Medizin sowie Veröffentlichungen universitärer Vorlesungen an, aus denen eine repräsentative Auswahl getroffen wurde. Einige Bücher stammen aus Privatbesitz. Die Auswahl erfolgte nach Einschätzung ihrer Eignung zur exemplarischen Abbildung der Entwicklung der Geburtsphasen. Für die Darstellung der grafischen Analyse der Geburtsphasen wurden Originalpublikationen Friedmans et al. gewählt [21] [22] [23] [29] [30] [31] [32] [33] [34] [35] [36] [37] [38] [39] [40]. Friedmans Ergebnisse werden um Untersuchungen aus den vergangenen 3 Jahrzehnten zum Verlauf der Latenzphase ergänzt und diskutiert.


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Entwicklung des Verständnisses von Geburtsphasen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert

Für die im folgenden Abschnitt dargestellte historische Entwicklung des Verständnisses von Geburtsphasen und deren Einteilungskriterien, wurden Quellen aus der Zeit seit 1513 ausgewertet. Als erster Schritt in die Richtung einer systematischen Erfassung und Einteilung der Geburtsphasen kann die Beschreibung verschiedener Arten und Qualitäten von Wehen im 16. Jahrhundert angesehen werden [41] [42]. Ab dem 19. Jahrhundert wird die Veränderung der Wehenqualität differenzierter beschrieben und verschiedenen Wirkweisen zugeordnet. Die daraus abgeleiteten 5 Geburtsperioden werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf die auch heute noch gültigen 3 Einteilungen reduziert. Zugleich wurde in diesem Prozess der Zusammenführung der Perioden eine bestimmte Zeit des Übergangs bis zu den „wahren Wehen“ (Sellheim, 1913, S. 9) [43] zunächst als der Geburt zugehörig betrachtet. Spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde diese Periode endgültig als eine der Geburt voranstehende Vorbereitungszeit gewertet [44] [45].

Von „wilden und rechten“ Wehen – Der Geburtsbeginn

Zu den ersten deutschsprachigen geburtshilflichen Aufzeichnungen gehören die Hebammenlehrbücher des Apothekers und Stadtarztes Eucharius Rößlin (1513) [46], der Hof-Wehemutter (Hebamme) Justine Siegemund (1690) [41] sowie der Ärzte Hendrik van Deventer (1717) [42] und Peter Samuel de Chaufepié (1758) [47]. In diesen Werken wird noch nicht eine Einteilung in Geburtsphasen vorgenommen, doch werden Merkmale aufgezählt, die der Bestimmung des „rechten Geburtsbeginns“ dienen sollten (Deventer, 1717, S. 104 ff.) [42]. Dies war aus zweierlei Gründen von großer Bedeutung. Zum einen wussten Frauen nicht immer, in welchem Schwangerschaftsmonat sie sich befanden, und es wurde befürchtet, dass vorzeitiges Forcieren der Geburtsarbeit zu einer Frühgeburt führen könnte. Zum anderen sollten Hebammen davon abgehalten werden, Frauen, auch nach regelrechter Schwangerschaftsdauer, vorzeitig zu aktiver Geburtsarbeit anzutreiben und damit unnötig zu erschöpfen [42].

Als wichtigstes Kennzeichen des Geburtsbeginns wurde bereits damals das Vorhandensein einer Wehentätigkeit erachtet. Betont wurde dabei die Notwendigkeit, „wilde von rechten Wehen“ zu unterscheiden (Siegemund, 1690, S. 225; Deventer, 1717, S. 104; Chaufepié, 1758, S. 33) [41] [42] [47]. Siegemund, Deventer und Chaufepié empfahlen, dies durch eine Untersuchung des Muttermundes zu verifizieren. Auch Schmerzlokalisation und -qualität sowie die Reaktionen der Frau wurden ausführlich beschrieben. „Unrechte“ oder „wilde“ Wehen seien zuweilen sehr schmerzhaft und quälend, jedoch nicht bis zur Geburt anhaltend. Deventer regte an, diese Wehen mit der Gabe einer „wohlbereiteten Ruhe- oder Lindpille“, einer selbst zubereiteten Opiummixtur, zu behandeln (Deventer, 1717, S. 105) [42]. Siegemund lehrte ihre Schülerinnen, dass während „unrechter“ Wehen der Muttermund sich zusammen- und hochziehen und nur durch „rechte“ Wehen weiten würde (1690, S. 224) [41]. Chaufepié (1758) erwähnte die Beurteilung der Wehen auch nach ihrer Regelmäßigkeit, führte diese jedoch nicht näher aus [47].


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Geburtszeiten im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Mit Beginn des 19. Jahrhunderts findet eine Einteilung der Geburt in „Geburtsperioden“ (Siebold, 1810, S. 275; Siebold, 1824, S. 320) [48] [49], „Geburtszeiten“ oder „Zeiträume“ (Schmidt, 1850, S. 93) [50] weite Verbreitung. Zumeist wurden 5 Einteilungen vorgenommen. Von Siebold beschrieb 5 Gattungen von Wehen, denen 5 Geburtsperioden zugeordnet wurden. Die erste Geburtsperiode wurde demnach durch die oft noch aussetzenden und leichten, vorhersagenden Wehen, die Dolores praesagientes, angezeigt, die von Hebammen bezeichnenderweise „Rupfer“ oder „Kneiper“ genannt wurden und die das Verstreichen der Cervix und die Eröffnung des inneren Muttermundes bewirkten (Siebold, 1824, S. 320) [49]. Als deutlich stärker wurden die vorbereitenden oder Wasserwehen der zweiten Geburtsperiode, die Dolores praeparantes, eingestuft. Ihre Wirkung liegt nach Siebold darin, den äußeren Muttermund vollständig zu eröffnen und die Fruchtblase bis zur Springfähigkeit zu spannen. Äußeres Zeichen der Phase sei eine leichte Blutung, die Zeichnung. Sei die Fruchtblase gesprungen, läuteten die Dolores ad partum die dritte Geburtsperiode ein – die sogenannten „Wehen zur Geburt“ oder „Treibwehen“, mit denen das Kind in die „Beckenhöhle bis an den Ausgang getrieben“ werde. Die Geburt des Kindes, als vierte Geburtsperiode, erfolge mithilfe der Dolores conquassantes oder Schüttelwehen und ende mit der fünften Geburtsperiode, mit den Dolores ad partum secundinarum und der Geburt des „Mutterkuchens“ (Siebold, 1824, S. 320) [49]. Im Preußischen Hebammen-Buch werden ebenfalls verschiedene Wehenqualitäten beschrieben, jedoch stehen sie bei der Beschreibung der „Geburtszeiten“ nicht im Mittelpunkt. Nach dem Lehrbuch lösten sich während der Geburt 3 sogenannte „Eitheile“ von der „Mutter“: das Fruchtwasser, das Kind und die Nachgeburt, die wiederum 2 Passagen überwinden müssten – den äußeren Muttermund und die „äußeren Geschlechtstheile“ – und somit insgesamt 5 „Geburtszeiten“ voneinander abgrenzten (Schmidt, 1850, S. 93) [50]. Ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich insbesondere den Beginn der ersten Geburtsperiode betreffend etwas unterschiedliche Beschreibungen. In den Ausführungen von Siebolds und Krauses waren es die noch unkoordinierten „vorhersagenden“ Wehen, die die erste Periode einläuteten. Sie könnten sehr kurz sein und in Abständen zwischen 15 und 30 min auftreten [49] [51]. Schmidt beschrieb den Beginn mit Auftreten der „eigentlichen Geburtsschmerzen“ (Schmidt, 1850, S. 93) [50] und Martin mit Auftreten regelmäßiger Wehentätigkeit [52].

Für die einzelnen Geburtszeiten wurden Mitte des 19. Jahrhunderts zeitliche Spielräume benannt ([Tab. 1]), die mit der heutigen Erkenntnis übereinstimmen, dass der Prozess des Ausreifens der Cervix und der Koordinierung der Wehentätigkeit einen wesentlich längeren Zeitraum beansprucht als die nachfolgende zweite Geburtszeit der reinen Eröffnung des vorbereiteten Muttermundes. Zeiten, die außerhalb dieser Spielräume lagen, wurden der übereilten oder verzögerten Geburt zugeordnet [50].

Tab. 1 Zeitliche Spielräume der 5 Geburtszeiten.

Zeiträume

Zeitangaben für Erstgebärenden

Erste Geburtszeit

4–12 Std.

Zweite Geburtszeit

3,5–7 Std.

Dritte Geburtszeit

1–6 Std.

Vierte Geburtszeit

20 min – 1 Std.

Fünfte Geburtszeit

10 min – 1 Std.

Gesamte Geburt

9–27 Std.

Quelle: Eigene Darstellung nach Angaben von Schmidt JH. Preußisches Hebammen-Buch, 1850, S. 103

Naegele und Grenser wiesen 1872 auf die Vielfalt der von Geburtshelfern beschriebenen Geburtszeiten hin, die zwischen 2 und 6 Einteilungen lägen und eine Vereinheitlichung erfahren sollten, um Missverständnisse zu vermeiden [53]. Ausgehend von der Variante der 5 Geburtszeiten, die am häufigsten Anwendung fand, schlugen die beiden Autoren eine Reduzierung auf 3 Perioden vor: Eröffnungs-, Austreibungs- und Nachgeburtsperiode. Unter diese 3 Perioden subsumierten sie die 5 Geburtszeiten: Die Eröffnungsperiode setze sich aus der ersten und zweiten Geburtszeit und die Austreibungsphase aus der dritten und vierten zusammen.

Auch Sellheim befürwortete eine Dreiteilung der Geburt, doch wird in seinen Beschreibungen die Zeit der vorhersagenden Wehen nicht in die Eröffnungsperiode integriert [43]. Nach seiner Einschätzung stellten sie einen Teil der Vorboten der Geburt dar. Die „eigentliche“ Geburt, so Sellheim, würde mit regelmäßigen Wehen und der stetig zunehmenden Erweiterung des Muttermundes beginnen (1913, S. 10) [43]. In der Eröffnungsperiode erfolge, neben der vollständigen Eröffnung des Muttermundes, die Geburt des Wassers. Insbesondere dem Verhalten und dem Status der Fruchtblase schrieb Sellheim eine maßgebliche Rolle bei der Eröffnung des Muttermunds zu.

Die detaillierten Betrachtungen und Einteilungen verlieren sich mit Beginn des 20. Jahrhundert allmählich. In den nachfolgenden geburtshilflichen Lehrbüchern aus den Jahren 1917–1956 sind zumeist die bis heute üblichen 3 Perioden der Geburt beschrieben [54] [55] [56]. Die Unterteilungen der Perioden sind, bis auf die Definition des Beginns der Eröffnungsperiode, einheitlich. Nach Ausschluss der unkoordinierten vorhersagenden Wehen wurde der Geburtsbeginn entweder mit dem Beginn regelmäßiger Wehentätigkeit in Abständen von 30 min [44] oder 10–15 min [45] oder, wie bis heute üblich, mit dem Beginn regelmäßiger, cervix- oder muttermundwirksamer Wehentätigkeit gleichgesetzt [57] [58]. Diese unterschiedlichen Definitionen müssen bei der Beurteilung der jeweiligen Angaben zur durchschnittlichen Dauer der Eröffnungsperiode, die sich im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer weiter verkürzen, Berücksichtigung finden.


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Erste grafische Analysen des Geburtsfortschritts

Für Geburtshelfer und Geburtshelferinnen stellte die große Varianz der Geburtslängen ein Rätsel dar, dessen Lösung einen Weg zur Vorausberechnung der Geburtsdauer versprach [59]. Insbesondere der Frage nach den biologischen Kräften sowie der Rolle der Fruchtblase und der Varianten des Blasensprungs auf den Geburtsverlauf wurde von Sellheim (1913) [43], Wolf (1946) [24], Deuel-Zogg (1948) [27], Koller & Abt (1950) [26], Zimmer (1951) [25], Schildbach (1954) [60] und anderen nachgegangen.

In dem Voranschreiten der Geburt einen mechanischen Vorgang zu sehen und physikalische Gesetzmäßigkeiten darauf anzuwenden, eröffnete seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, die Geburt als einen dynamischen Prozess zu verstehen. Diese Geburtsdynamik, die die Einwirkungen der Wehenkräfte, des cervikalen Widerstands und des Blasensprungs auf den Geburtsverlauf betrifft, wurde zum Gegenstand diverser Untersuchungen [24] [27] [61]. Zimmer (1951, S. 495) verwies auf Arbeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die die seit Sellheim (1913) bestehende Lehrmeinung über den Mechanismus der Muttermundseröffnung, vor allem der Keilwirkung der Fruchtblase auf die Erweiterung, widerlegten. Bspw. stellte sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob und inwiefern die Cervix ein eigenständiges Organ mit eigenem physiologischen und pathologischen Verhalten sei. Eine von einigen Geburtshelfern seiner Zeit der Cervix zugeschriebene eigene Motorik, die sie völlig unabhängig von der Wehentätigkeit des Corpus uteri machen würde, erschien Zimmer jedoch als zu weitgehend [25].

Wolf (1946) schlug mit seinen Untersuchungen zur Geburtsdynamik einen gänzlich neuen Weg ein. Er stellte sogenannte „Teileröffnungszeiten“ grafisch in einem Diagramm dar [24]. Als Teileröffnungszeit galt die Geburtsdauer von einer bestimmten festgestellten Muttermundsweite bis zum Beginn der Presswehen, also die Zeitspannen zwischen 1–10, 2–10 bis 10–10 cm. Daraus ergab sich im Diagramm die scheinbar rückläufige Bewegung ([Abb. 1]). Im Unterschied zu Koller und Abt [26] [61] und deren Kollegin Deuel-Zogg (1948) [27], maß er die Muttermundsweite erstmalig in Zentimetern, einer Maßeinheit, die wegen ihrer Abstraktheit für die Praxis als wenig geeignet angesehen wurde [62] und als ein rein wissenschaftliches Vorgehen verstanden werden kann. Bis in die 1960er Jahre wurden stattdessen in der Regel gegenständliche Analogien wie Fingerbreite, Damen-/Herrenuhr, verschiedene Münzgrößen oder Handtellergröße für die Ermittlung der Eröffnungsweite genutzt [56], die nicht auf eine gleichmäßige Beurteilung abzielten. Deuel-Zogg und Koller bspw. wiesen dem Blasensprung auf einem Diagramm den Nullpunkt zu und maßen den Geburtsverlauf in 6 Größenordnungen mit unterschiedlichen Intervallen (1–2,5 cm, kleiner Handteller, Handteller, vollständig und Geburt). In dem Diagramm von Wolf wurden die Teileröffnungszeiten des Muttermundes von „Geburtsbeginn bis zum Beginn des Pressens“ bei 500 Erst- und 500 Mehrgebärenden (Linie ausgezogen/gestrichelt) mit einem Einling in Hinterhauptslage und einem Geburtsgewicht von 2 500–4 000 Gramm, die keine Probleme im Bereich des Beckens aufwiesen, dargestellt ([Abb. 1]). Wolf konnte für alle untersuchten Kurven einen „[…] mehr oder weniger stark zum Ausdruck kommenden Knick zwischen der Muttermundsweite 3 und 5 cm“ nachweisen (Wolf, 1946, S. 104) [24]. Dass die Erweiterung des Muttermundes von 5 auf 6 Zentimeter wesentlich mehr Zeit als die Eröffnung von 6 auf 7 Zentimeter beanspruchte, war für Wolf ein „[…] erstaunliches Resultat, das genau umgekehrt ausfallen müsste, wenn die Cervix uteri nur ein lebloser elastischer Ring wäre“ (Wolf, 1946, S. 104). Er interpretierte das Ergebnis als Hinweis darauf, dass bei der Geburt noch andere außer den dynamischen Kräften beteiligt seien. Ein Geburtseintritt, so Wolf, könnte erst erfolgen, wenn die Cervix nach ausreichender Vorbereitung den in den letzten Schwangerschaftswochen in genügender Stärke vorhandenen dynamischen Geburtskräften die Eröffnung gestatten würde [24].

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Abb. 1 Diagramm der Teileröffnungszeiten. Quelle: Wolf W. Klinik des unzeitigen Blasensprungs: Ursache, Bedeutung, Behandlung, 1946, S. 103.

Zimmer (1951) [25] wandte eine veränderte Form der grafischen Darstellung an ([Abb. 2]). Nullpunkt der Abszisse war der Beginn regelmäßiger Wehentätigkeit. Die Skalierung erfolgte in Stunden. Die Muttermundsweite wurde, wie bei Wolf, in Zentimetern auf der Ordinate gemessen. Der fortschreitende Bewegungsablauf wurde erzielt, indem die Differenz aus Gesamteröffnungszeit und der Teileröffnungszeit in das Diagramm übertragen wurde. Zimmer nutzte Daten von 1 814 erst- und 1 299 mehrgebärenden Frauen nach Spontangeburt am Termin. Berücksichtigung fanden ausschließlich Geburten, die ohne medikamentöse oder operative Beeinflussung abgelaufen waren. Der Geburtsverlauf wurde getrennt nach Alter, Parität und Art des Blasensprungs untersucht. Anhand der Grafiken formulierte er die Erkenntnis, dass nach einem langsamen Eröffnungsverlauf bis zu einer Muttermundseröffnung von 3 bis 4 Zentimetern die Geburtsverläufe unabhängig vom Alter der Mutter oder der Art des Blasensprungs in fast gleicher Geschwindigkeit ablaufen würden, und dass der vorzeitige Blasensprung allein auf die Phase bis zum „Knick“, so seine Bezeichnung der Veränderung in der Eröffnungsgeschwindigkeit, Einfluss nehme. Zwar laufe, so Zimmer, die Erweiterung des Muttermundes bei Mehrgebärenden schneller ab, der Eröffnungsmechanismus jedoch sei bei Erst- und Mehrgebärenden der gleiche (1951, S. 511) [25]. Die Beschleunigung im Eröffnungsverlauf ab 3 bis 4 Zentimetern kann in den grafischen Aufzeichnungen von ihm und Wolf eindrucksvoll nachvollzogen werden. In [Abb. 2] sind die Werte von Wolf in die Skalierung von Zimmer übertragen worden, um einen Vergleich mit Zimmers Verlaufsdarstellung zu ermöglichen. Die Schraffierung um die Kurve der Ergebnisse Zimmers herum gibt die Fehlerbreite (mittlerer quadratischer Fehler) wieder. Der deutliche Unterschied in der zeitlichen Dauer der frühen Geburtsphase bis zur Muttermundseröffnung von zirka 4 Zentimetern kann möglicherweise auf unterschiedliche Definitionen des Geburtsbeginns zurückzuführen sein. Wolf definiert den Geburtsbeginn nicht näher. In verschiedenen Lehrbüchern zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird ein Geburtsbeginn mit regelmäßigen Wehen im Abstand von 30 oder 10–15 min angegeben. Die Gleichsetzung des Zeitpunktes des Pressbeginns mit einer Eröffnung des Muttermundes auf 10 Zentimetern kann zu einer Verlängerung der Dauer der Eröffnungsphase geführt haben.

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Abb. 2 Vergleichende Darstellung der Teileröffnungszeiten nach Wolf und des Wegzeit-Diagramms nach Zimmer bei Erstgebarenden. Quelle: Modifizierte Darstellung nach Wolf W. Klinik des vorzeitigen Blasensprungs: Ursache, Bedeutung, Behandlung, 1946, S. 103 und Zimmer K. Die Muttermundseröffnung bei den Schädellagen im Wegzeit-Diagramm. Archiv für Gynäkologie 1951; 179: 511

Die Übereinstimmung der Beschleunigung des Geburtsfortschritts bestätigt die Beobachtungen von Geburtshelfern des 19. Jahrhunderts, die das 5-gliedrige Geburtszeitensystem beschrieben hatten, von unterschiedlichen Prozessen in der frühen und späten Eröffnungsperiode. Die zuvor übliche Einteilung der Geburt in 5 Phasen, die aus Beobachtungs- und Erfahrungswissen heraus vorgenommen worden war, hätte durch die Erkenntnisse von Wolf und Zimmer wissenschaftlich fundiert eine Renaissance erfahren können. Doch ist dieser Faden nachfolgend in Deutschland nicht weiter aufgenommen worden.


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Friedmans grafische Analysen des Geburtsfortschritts

Die grafischen Analysen des Geburtsfortschritts beruhen im Wesentlichen auf der Forschung von Dr. Emanuel A. Friedman, der 1926 in New York geboren wurde und zwischen 1969 und 1990 Professor an der Harvard Medical School in Boston, USA war. Mit Beginn seiner Karriere ab den frühen 1950er Jahren widmete er sich dem Ziel, objektive Kriterien zur Diagnostik prolongierter Geburtsverläufe oder eines Geburtsstillstands, der Prognose des weiteren Geburtsverlaufes sowie der Wahl der angemessenen therapeutischen Maßnahmen zu entwickeln. Die objektiven Kriterien sollten zudem der zukünftigen wissenschaftlichen Forschung als einheitliche Basis dienen [21] [22] [23]. Seine Analysen beruhen auf unterschiedlichen Teildatensätzen zweier Kohortenstudien. Im Folgenden werden aus den zahlreichen Veröffentlichungen von Friedman et al. zwischen 1954 und 1989 vor allem die Ergebnisse genutzt, die der Beschreibung der Latenzphase bei Erstgebärenden dienen. Auch wenn Friedman zahlreiche weitere Untersuchungen zu Geburtsverläufen von Mehrgebärenden publiziert hat, wird zugunsten der Übersichtlichkeit auf die Darstellung dieser Ergebnisse verzichtet, obschon Frauen, nach heutigem Wissensstand, auch bei zweiten und mehreren Geburten eine, wenn auch deutlich kürzere, Latenzphase haben [63].

Die Veröffentlichungen Friedmans beziehen sich auf 2 große Datensätze. Zum einen nutzte er Teildatensätze von insgesamt 28 750 Frauen aus einer prospektiven Kohortenstudie am Sloane Hospital for Women of the Columbia-Presbyterian Medical Center in New York aus den Jahren 1953–1959. In der ersten Analyse wurden die Daten der ersten 100 [21] und für folgende Analysen die der ersten 500 Erstgebärenden [22] [33] [37] [38] [39] [40] oder die Daten von Subgruppen, bspw. von Frauen mit prolongierter Latenzphase [35], verwendet. Analysen ab 1969 beruhen auf Daten, die im Rahmen der Collaborative Study of Cerebral Palsy, Mental Retardation and other Neurological and Sensory Disorders of Infancy and Childhood von 1959 bis 1965 aufgenommen wurden [34]. An diesem Projekt hatten neben dem Sloan Hospital 11 weitere Kliniken mit insgesamt 58 831 Frauen teilgenommen.

Bei den Frauen wurden rektale oder vaginale Untersuchungen in regelmäßigen Abständen von ein bis 2 Stunden, in manchen Fällen (rascher Geburtsfortschritt) halbstündlich und kürzer durchgeführt. Die Untersuchungen erfolgten jeweils auf dem Höhepunkt der Wehe, um die Vergleichbarkeit der Messergebnisse zu erhöhen. In einer Untersuchung testete Friedman die Anwendung eines Cervimeters an 25 Frauen. Hierzu wurde ein Instrument, ähnlich einer Kornzange, an 2 Stellen des Muttermunds befestigt. An der nach außen ragenden Seite wurde das Messergebnis abgelesen [29]. Im Unterschied zu dem retrospektiven Vorgehen Wolfs und Zimmers wurden alle Befunde und Interventionen während des Geburtsverlaufs auf dem von ihm entwickelten Diagramm notiert.

Friedmans Arbeiten basieren nach eigenen Angaben [23] insbesondere auf den Erkenntnissen von Wolf (1946) [24] und Zimmer (1951) [25]. Ähnlich wie bei Zimmer wurden die Eröffnung des Muttermundes in Zentimetern auf der Y-Achse und die Zeit auf der X-Achse auf einem Diagramm mit quadratischer Einteilung eingetragen. Als Nullpunkt legte er den Geburtsbeginn fest, den er als den von der Frau angegebenen Zeitpunkt des Beginns regelmäßiger, zur Geburt führender Wehentätigkeit definierte.

Der normale Verlauf der Eröffnungsphase ist S-förmig

Anhand der grafischen Analysen des Geburtsfortschritts stellte Friedman normale und abweichende Kurvenverläufe dar. Nach seinen Erkenntnissen bildete das grafische Muster von Geburten, die im normalen Rahmen verliefen, im Einzelfall zwar eine sehr variable, jedoch immer S-förmige Kurve ab [21] [22] [32]. Die grafische Normkurve ([Abb. 3]) nutzte er als Matrix, um normale von gestörten Verläufen abzugrenzen und Störungen zu spezifizieren. Entlang des S-förmigen Verlaufs definierte er eine Latenzphase (latent phase) und eine aktive Geburtsphase (active phase). Die aktive Phase unterteilte er nochmals in Akzelerationsphase, Phase des maximalen Anstiegs (maximum slope) und Dezelerationsphase ([Abb. 3]). Anhand der Berechnungen von Mittelwert, Standardabweichung, Standardfehler und statistischem Limit (95. Perzentile) leitete Friedman normale und prolongierte Geburtslängen für die einzelnen Phasen ab ([Tab. 1]). Darüber hinaus beschrieb er den Einfluss zahlreicher Faktoren, bspw. von Medikamenten, der Art des Blasensprungs, der Muttermundsweite oder des Höhenstands des fetalen Kopfes bei Geburtsbeginn, auf den Geburtsverlauf. Abweichungen vom sigmoiden Kurs stellte er nach Ätiologie, therapeutischen Optionen und ihrer Prognose dar [30].

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Abb. 3 Kombinierte grafische Verläufe der durchschnittlichen Muttermundseröffnungsrate (cm/Std.) und des Tiefertretens des vorangehenden Kindsteils bei 421 nicht selektierten Erstgebärenden. Quelle: modifizierte Darstellung nach Friedman EA, Sachtleben MR. Station of the fetal presenting part. I. Pattern of decent. American Journal of Obstetrics & Gynecology 1965; 93: 526.

Die Analyse des Geburtsverlaufs erfolgte innerhalb der einzelnen Phasen: Latenzphase und aktive Phase. Diese Phasen konstituierten sich, als er die einzelnen Cervixbefunde miteinander durch gerade Linien verband. Zur mathematischen Vereinfachung nahm er Einteilungen anhand der grafisch sich abzeichnenden Logik von linearen Abschnitten (Latenzphase, Phase des maximalen Anstiegs) und Kurven (Akzelerationsphase, Dezelerationsphase) vor [21]. Außerdem teilte er den gesamten Geburtsverlauf in funktionale Einheiten auf [21] [31].

In den Veröffentlichungen von 1954 und 1955 finden sich Angaben zu einem normalen als auch zu einem idealen Eröffnungsverlauf. In die Analyse des durchschnittlichen oder normalen Geburtsverlaufs wurden Geburtsverläufe der ersten 100 [21] und in der folgenden Publikation der ersten 500 Erstgebärenden [22] der laufenden Kohortenstudie einbezogen. Einschlusskriterien waren eine termingerechte Geburt und eine ausreichend vollständige und akkurate Datenlage. In der Stichprobe befanden sich Frauen zwischen 13 und 42 Jahren, 4 Frauen erwarteten Zwillinge, 14 Kinder lagen in Beckenendlage. 55% der Frauen wurden per Forceps und 1,8% per Sectio entbunden. 40,4% der Frauen haben ihr Kind spontan geboren. Unter den 500 Geburten waren 4 Totgeburten, es verstarb keine der Frauen im Zusammenhang mit der Geburt. Das Geburtsgewicht lag zwischen 2 080 und 4 710 Gramm. Oxytocin wurde bei 69 Frauen (13,8%) angewendet, davon wurden 22 Frauen eingeleitet und 47 erhielten das Mittel während der Geburt. Eine Kaudalanästhesie wurde in 8,4% der Geburten genutzt. Für die Berechnung der Idealkurve wurden aus den vorhandenen 500 Datensätzen 200 Geburten mit spontanem Geburtsbeginn, normalgewichtigem Einling in Schädellage und ohne Geburtsrisiken oder geburtshilfliche Interventionen ausgewählt. Leichte und moderate Sedierung (69%) und Entbindungen durch „prophylaktischen“ Forceps (51,2%) gehörten wegen ihres häufigen Vorkommens nicht zu den Ausschlusskriterien (Friedman, 1955, S. 568). Die Normalkurve bildet demnach den Verlauf der Geburten des Sloan Hospitals in den 1950er Jahren ab. Die Idealkurve den Verlauf zügiger, unkomplizierter Geburten, häufig nach leichter bis moderater Sedierung der Frau oder einer vaginal-operativen Geburt durch Beckenausgangsforceps.

Im weiteren Verlauf seiner Arbeit kombinierte Friedman die Verlaufskurve der Eröffnung mit dem Verlauf des tiefertretenden Kopfes [39]. Nach seinen Ergebnissen lässt sich dieser Prozess, ähnlich wie beim Eröffnungsverlauf, in eine Latenzphase, Akzelerationsphase und Phase der maximalen (negativen) Steigung unterteilen. In das kombinierte Kurvendiagramm nahm er zudem seine Erkenntnisse zur durchschnittlichen Muttermundsweite bei Geburtsbeginn auf und begann die Aufzeichnung mit dem Durchschnittswert von knapp unter 2 Zentimetern. Zeitlich frühere Kurven beginnen bei null Zentimetern. In dem kombinierten Kurvendiagramm von 1965 vereinte Friedman seine umfassenden Erkenntnisse aus elfjähriger Forschung ([Abb. 3]).


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Latenzphase – Individuelle Geburtsphase

Nach Definition Friedmans beginnt die Latenzphase mit regelmäßiger, voranschreitender Wehentätigkeit (Geburtsbeginn) und endet nach Verstreichen der Cervix und anfänglicher Eröffnung des Muttermunds mit der Beschleunigung der Eröffnungsrate, der sogenannten Akzelerationsphase. Für den Zeitraum der Latenzphase berechnete Friedman in der ersten Auswertung eine Dauer von 1,7–15 Stunden (Mittelwert 7,3; SD 5,5). Etwas längere Zeiten ergaben sich aus der nachfolgenden Analyse der Daten von 500 Erstgebärenden. Hier zeigten sich Werte zwischen 1–44 Stunden (Mittelwert 8,6; SD 6,0). Die Steigung der Eröffnungsrate in der Latenzphase erscheint flach und linear. Sie liegt im Durchschnitt bei 0,35 cm/Std. (SD 0,20) [22]. Tabelle 2 gibt eine Übersicht zu den gemessenen Geburtslängen des normalen und idealen Verlaufs ([Tab. 2]).

Tab. 2 Geburtslängen der normalen und idealen Geburt.

Geburtsphasen

Mittelwert normal (ideal)

Median normal (ideal)

SD*normal (ideal)

Spannweite normal (ideal)

Statistisches Maximum normal (ideal)

Latenzphase  a

8,6 (7,1)

7,5 (7,0)

6,0 (4,0)

1,0–44 (1,0–24)

20,6 (15,0)

Aktive Geburtsphase  a

4,9 (3,4)

4,0 (3,3)

3,4 (1,5)

0,8–34 (0,8–11)

11,7 (6,4)

Maximale Eröffnungsrate  b

3,0 (3,5)

2,7 (3,0)

1,9 (1,9)

12–0,4 (8,0–1,0)

6,8 (7,3)

Ges. 1. Geburtsphase  a

13,3 (10,6)

12,0 (10,3)

7,6 (4,6)

2,0–58 (2–28,5)

28,5 (19,8)

a (Stunde), b (cm/Std.), Idealwerte in kursiv, * SD=Standardabweichung,

Quelle: Modifizierte Darstellung nach Friedman EA. Primigravid Labor. Obstetrics & Gynecology 1955; 6: 567–589

Nach den Beobachtungen Friedmans werden in der Latenzphase die Wehen eindeutiger und koordinierter, die Cervix wird weicher und verstreicht. Die Phase erwies sich in seinem Kollektiv als sensitiv gegenüber verschiedenen Interventionen. Starke Sedierung (Pethidin) wurde mit einer Verlängerung und Wehenstimulation (Oxytocin) mit einer Verkürzung der Phase in Verbindung gebracht [22]. Einen Zusammenhang zwischen der Dauer der Latenzphase und der Dauer anderer Geburtsphasen konnte Friedman nicht feststellen. So wiesen 63% der Geburtsverläufe mit prolongierter Latenzphase keine Auffälligkeiten im weiteren Geburtsverlauf auf. Friedman zog zwar die Grenze für die Dauer einer normalen Latenzphase bei 20,6 Stunden (95. Perzentile), wies jedoch zugleich darauf hin, dass, wegen der wenigen Fälle und der möglichen Fehldiagnose des Geburtsbeginns, allein durch Überschreiten der Stundenzahl keine Diagnose für eine primäre Wehenschwäche abgeleitet werden könne [35].

Die stark unterschiedliche Dauer der Latenzphase (1–44 Stunden) gab Friedman einen Hinweis darauf, dass der Prozess des Reifens der Cervix und der Vorbereitung auf die Eröffnung offenbar sehr individuell verläuft, insgesamt jedoch wenig prognostische Aussagekraft besitzt. Einen signifikanten Einfluss auf die Dauer der Latenzphase konnte Friedman für den frühzeitigen Blasensprung [22], den Höhenstand des vorangehenden Kindsteils [39] und die Cervixreife, insbesondere die Muttermundsweite bei Geburtsbeginn [36] nachweisen. Höhenstand und Muttermundsweite stehen dabei in einer engen wechselseitigen Beziehung [40], die Friedman et al. dazu führte, einen gewichteten Score zur Einschätzung einer erfolgreichen Geburtseinleitung zu entwickeln [33]. Den größten Einfluss auf die Dauer der Latenzphase konnte der Muttermundsweite bei Geburtsbeginn zugeschrieben werden. Je nach Ausgangsbefund wurden Mittelwerte von 4,5 Stunden (MM≥4 cm) oder 11,6 Stunden (MM≤0,5 cm) berechnet. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass auch bei einem Anfangsbefund von mehr als 4 Zentimetern in der Regel zunächst eine Latenzphase durchschritten wird. Da auch die Akzelerationsphase vom Ausgangsbefund beeinflusst wird, ergeben sich große Unterschiede in der durchschnittlichen gesamten Geburtszeit von 7,6 bis 18 Stunden [36]. Die Durchschnittszeiten des normalen Geburtsverlaufes finden sich in der Gruppe Frauen wieder, die eine Eröffnung von ein bis 2 Zentimetern bei Geburtsbeginn aufwies. Analysen zu wechselseitigen Effekten von Höhenstand (nach DeLee) und Muttermundsweite zu Geburtsbeginn zeigen, dass ein hochstehender Kopf (IE -3/-1) und geringe Eröffnung (0–1 cm) einen verlängernden Einfluss (Ø 12,8 Std.) haben und ein tiefstehender Kopf (IE 0 und tiefer) mit einer Eröffnung von≥2 cm einen verkürzenden Einfluss (Ø 7,9 Std.). Anhand der Ergebnisse konzipierten Friedman und seine Kollegin Sachtleben ein Nomogram zur Kalkulation einer annähernden Länge der Latenzphase für Erstgebärende [40].

Friedman und Sachtleben resümierten, dass Geburten mit prolongierter Latenzphase weniger gefährdet seien, einen „echten“ Geburtsstillstand (secondary arrest) zu entwickeln als erwartet. Wegen der geringen Inzidenz langer Latenzphasen unter den gestörten Geburtsverläufen sei sie weder ein ausschlaggebendes noch ein prognostisches Element [35].


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Aktive Geburtsphase – Phase mit „klinischer Relevanz“

Mit Beginn der Akzelerationsphase tritt die Geburt in die aktive Geburtsphase ein. Die grafischen Aufzeichnungen weisen nach dem Aufschwung der Akzelerationsphase ein Stück linearen Anstiegs auf, der sich über den Abschnitt zervikaler Eröffnung von zirka 3–4 cm bis zu 8,5–9 cm erstreckt und als Phase des maximalen Anstiegs (maximum Slope) auch die maximale Eröffnungsrate aufweist ([Abb. 3]). Diese Phase ist nach Friedmans Erkenntnissen besonders geeignet, kurzfristige Effekte von Interventionen zu beobachten (Friedman, 1954). Die sich gegen Ende der aktiven Geburtsphase vollziehende Verlangsamung der Eröffnungsgeschwindigkeit bezeichnete er als Dezelerationsphase. Sie gehört, ebenso wie die Akzelerationsphase, zur aktiven Geburtsphase.

Die durchschnittliche Dauer der aktiven Geburtsphase wird mit 4,9 Stunden angegeben. In der Phase der maximalen Eröffnungsrate wird eine durchschnittliche Steigung von 3,0 cm/Std. und das statistische Limit (95. Perzentile) mit 1,2 cm/Std. für Erstgebärende und 1,5 cm/Std. für Mehrgebärende angegeben. Geburtsverläufe, die unterhalb des statistischen Limits liegen, werden als protrahiert angesehen [31] [32].

Dem Anstieg der Akzelerationsphase kommt die Wirkung einer Stellschraube für den weiteren Verlauf zu. Da die folgende Phase des maximalen Anstiegs sich darauf aufbaut und linear verläuft, wird hier der weitere Fortschritt determiniert [21]. Eine flachere Akzeleration würde demnach eine geringere maximale Steigung voraussagen und damit eine potentiell prolongierte Geburt. Aus dieser wechselseitigen Beziehung entwickelte Friedman prognostische Aussagen. Friedman betonte, es könne einen falschen Eindruck über die uterine Leistung vermitteln, wenn die Zeitspanne der Latenzphase mit in die Beurteilung einer Störung des Geburtsverlaufes einbezogen werden würde. Zudem könne kein Vergleich zu anderen Geburtsverläufen gezogen werden, da sich eine 24-stündige Geburt aus einer sehr langen Latenzphase und einer sehr kurzen aktiven Geburtsphase zusammensetzen könne oder aber aus einer kurzen Latenzphase und einer prolongierten aktiven Geburtsphase. Diese Varianten miteinander zu vergleichen sei ein Fehler, so Friedman weiter, da sie unterschiedlichen Prognosen und Therapieoptionen unterlägen [21]. Aus dieser Erkenntnis leitete er für die geburtshilfliche Diagnostik die Empfehlung ab, den Geburtsbeginn erst mit Beginn der aktiven Geburtsphase zu messen und klinisch zu befunden [21].

Insgesamt bilden die Daten stark variierende Geburtsverläufe ab. Wird die aktive Geburtsphase jedoch isoliert betrachtet, reduzieren sich die Abweichungen und es zeigt sich ein homogeneres Bild. Dies impliziert die Notwendigkeit, den Beginn der aktiven Geburtsphase möglichst genau festzustellen [21]. Die Erkenntnisse determinierten die geringe klinische Relevanz der Phase, wie sie ihr auch heute vielfach noch zugeschrieben wird. In den meisten wissenschaftlichen Untersuchungen zur Länge der Geburtsphase beziehen sich Forscher und Forscherinnen auf die aktive Geburtsphase. Da es unter Studienbedingungen schwer möglich ist, den Beginn der Akzelerationsphase zu erfassen, wird zumeist auf den Zeitpunkt und die Muttermundsweite bei Geburtsaufnahme oder eine definierte Muttermundsweite von 3, 4 oder 5 Zentimetern zurückgegriffen [64] [65] [66] [67] [68].


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Aktuellere Forschung zum normalen Verlauf der Latenzphase

Scheinbar hat Friedman [21] [22] mit seinen Untersuchungen eine Antwort auf die Frage nach einer erkennbaren Normalität innerhalb der Variabilität der Geburtsverläufe gegeben. Es gibt, so seine Erkenntnis, ein Geburtsmuster, das den normalen Geburtsverlauf repräsentiert und ihn gegenüber abweichenden oder pathologischen Verläufen, abgrenzen lässt. Demnach können Geburten, die einen S-förmigen Verlauf auf dem Geburtsdiagramm nehmen, als normal angesehen werden, wenn sie innerhalb bestimmter zeitlicher Grenzen ablaufen. Verschiedene Faktoren, wie frühzeitiger Blasensprung, Cervixstatus und Muttermundsweite bei Wehenbeginn oder der Höhenstand des kindlichen Kopfes, haben einen signifikanten Einfluss auf die Länge der normalen Latenzphase.

Peisner und Rosen [69] [70] bestätigen das Vorhandensein einer Latenzphase. Doch zeigen sie auf, dass nur 25% der untersuchten Frauen (Erst-/Mehrgebärende) mit 3 Zentimetern Muttermundseröffnung in die aktive Phase wechseln. Mit 4 Zentimetern sind es bereits 60% und mit 5 Zentimetern annähernd 90 Prozent der Frauen [69] [70]. Van Dessel et al. kommen durch Ultraschallmessungen in einer kleinen Stichprobe von 35 erstgebärenden Frauen zu ähnlichen Ergebnissen und zwar unabhängig davon, ob der Geburtsbeginn spontan erfolgte oder durch Oxytocin induziert war (spontaner Beginn: 4,5 cm; Oxytocin: 4,8 cm) [71]. Auch Zhang et al. [72] und Laughon et al. [73] weisen für den Beginn der aktiven Geburtsphase einen späteren Zeitpunkt als Friedman aus. Nach ihren Analysen findet ein Übertritt häufig zwischen 5 und 6 Zentimetern statt. Bei Erstgebärenden scheinen auch 7 Zentimeter nicht ungewöhnlich zu sein [68] [72] [73] [74]. Zudem wiesen zahlreiche Spontangeburten kein konsistentes grafisches Muster in dieser Phase auf [72]. Nach Berechnungen von Zhang et al. verkürzt sich die Zeitspanne zwischen der Eröffnung von einen auf den nächsten Zentimeter progressiv mit zunehmender Erweiterung. In der grafischen Darstellung wird der sigmoide Verlauf ersetzt durch eine sukzessiv steiler ansteigende Kurve. Laughon et al. verglichen Datensätze von 1959–1966 des Collaborative Perinatal Projects, die schon Friedman zur Verfügung standen, mit Datensätzen einer multizentrischen Kohortenstudie, die zwischen 2002–2008 (Consortium of Safe Labor, USA) durchgeführt worden ist. Neben den Veränderungen im Geburtsmanagement (Erstgebärende: Oxytocin 16/37%, Periduralanästhesie 5/60%, vag.-op. Geburt 66/10%, Sectio 3/16%) ist der Zeitraum, der im Mittel für die Eröffnung von 4 auf 10 Zentimeter benötigt wird, von 3,9 auf 6,5 Stunden gestiegen. Die Empfehlung von Zhang et al., eine Muttermundseröffnung von 6 Zentimetern als Grenzwert für die aktive Geburtsphase festzulegen und bis zu diesem Punkt nicht die Kriterien für einen gestörten Geburtsverlauf (Dystokie) anzulegen, wird in der aktuellen Konsensusleitlinie des American College of Obstetricians and Gynecologists aufgenommen. Dort wird zudem empfohlen, dass eine prolongierte Latenzphase (Erstgebärende>20 Std., Mehrgebärende>14 Std.) allein keine Indikation zur Sectio darstellen sollte [75].


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Geburtsbeginn und Latenzphase in der geburtshilflichen Arbeit

Relevanz der Feststellung des Geburtsbeginns

Die Einschätzung „wilder und rechter“ Wehen und die Differenzierung der Vorwehen von Geburtswehen ist historisch betrachtet Grundlage für eine fachkundige Geburtshilfe [41] [42]. Insbesondere die Parameter Regelmäßigkeit – der Wehenstärke als auch der Frequenz – sowie Nachweisbarkeit einer Wirkung auf den Gebärmutterhals und Muttermund werden traditionell als Kennzeichen für den Geburtsbeginn genutzt [76]. Der Nachweis einer Cervixwirksamkeit steht demgegenüber in Friedmans Definitionen nicht im Vordergrund. Der Geburtsbeginn wird definiert als der Zeitpunkt, zu dem Frauen den Beginn regelmäßiger, kontinuierlicher und progressiver Wehentätigkeit festgestellt haben. Eine Cervixwirksamkeit wird zwar vorausgesetzt, kann jedoch nach Friedmans Erkenntnissen erst im Laufe der Latenzphase nachgewiesen werden [21].

Physiologisch betrachtet verspricht der Begriff Geburtsbeginn als Demarkationslinie zwischen Schwangerschaft und Geburt mehr als er halten kann [2]. Geburt ist ein kontinuierlich sich entwickelnder und aufeinander aufbauender Prozess, dessen erste Weichen bereits früh in der Schwangerschaft gestellt werden. Verschiedene, biochemische Mechanismen in der Gebärmutter und der Cervix sowie hormonelle Steuerungen vonseiten der Mutter und des Fetus führen zu einer Entwicklung, an deren Ende die Geburt steht. Die Cervixreifung ist ein aktiver, biochemischer Prozess, die sich zunächst unabhängig von uterinen Kontraktionen vollzieht. Die Erweiterung des Muttermundes wird erst durch eine Wehentätigkeit in ausreichender Qualität erreicht [77]. Und dennoch, befragt man Frauen zum Beginn der Geburt, können mehr als 90% einen eindeutigen Zeitpunkt angeben. Dies trifft zum einen für die Frage nach dem Beginn regelmäßiger, kräftiger Wehentätigkeit zu [21] [78] und zum anderen, wenn Frauen beschreiben sollen, wie sie selbst ihren Geburtsbeginn erlebt haben [79]. Die Beschreibungen beinhalten häufig mehrere Aspekte, die zusammengenommen den Geburtsbeginn angezeigt hatten. Schmerzen in irgendeiner Form wurden von 59,8% [78] oder 81,5% [79] der Erstgebärenden genannt. Weitere genannte Anzeichen des Geburtsbeginns waren Abgang von Flüssigkeit, Zeichenblutung und in geringem Umfang auch gastrointestinale Symptome, Stimmungsveränderungen oder Schlafstörungen [79]. Bis auf Flüssigkeitsabgang als Zeichen des Geburtsbeginns hatte die Art und Weise, wie Frauen ihren Geburtsbeginn erlebt hatten keinen signifikanten Einfluss auf die Dauer der Geburt [80]. Die Geburtslänge differierte jedoch stark zwischen den von Hebammen und Frauen vorgenommenen Einschätzungen (7 Std. vs. 11,5 Std. bei Erstgebärenden, 4 Std. vs. 6,5 Std. bei Mehrgebärenden) [81]. Die Abweichungen waren am geringsten, wenn Frauen Flüssigkeitsabgang als Symptom nannten und am stärksten ausgeprägt, wenn sie Schlafstörungen angegeben hatten.

In der medizinischen Geburtshilfe mit Beginn des 20. Jahrhunderts dient die korrekte Bestimmung des Geburtsbeginns vornehmlich dazu, einen Ausgangspunkt für die weitere Prognose und Feststellung einer Geburtsstörung festzulegen [21] [78]. Dass der subjektiven Einschätzung der Frau immer weniger Gewicht beigemessen wird, ist nach Analysen von Groß und Keirse das Ergebnis eines Objektivierungsbestrebens in der geburtshilflichen Forschung und Medizin der letzten Jahrzehnte [82]. Der Nachweis einer Cervixwirksamkeit der Wehen zur Bestimmung des Geburtsbeginns schafft jedoch zugleich Raum für die Subjektivität der geburtshilflichen Fachkräfte. Wann eine Cervixwirksamkeit anzunehmen ist, hängt von der persönlichen Einschätzung der Hebamme, der Ärztin oder des Arztes ab. Auch wieweit der Zeitpunkt nach diesem Erweis zurückdatiert wird, ist subjektiver Art. Häufig wird der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme oder der Aufnahme in den Kreißsaal als entsprechender Referenzpunkt gewählt [83]. Friedmans Schlussfolgerung, dass erst die aktive Geburtsphase eine Diagnose gestörter Geburtsverläufe zulassen würde und der Geburtsbeginn ab diesem Zeitpunkt zu bewerten sei [21], hat insbesondere in Nordamerika und Großbritannien dazu geführt, dass Frauen erst zu diesem Zeitpunkt eine richtige Geburtsarbeit zugesprochen wird. Die gesamte Kreißsaalorganisation fokussiert auf die Betreuung von Frauen in „established labour“ [6] [84]. Dieser, rein medizinische Erfordernisse fokussierende Blick, schließt weite Teile des physiologischen als auch des subjektiv erfahrenen Geburtsprozesses aus und verhindert die Entwicklung fachkundiger, kontinuierlicher Betreuungskonzepte [84]. Auch in jüngster Zeit entwickelte Strategien zur Betreuung von Frauen in der Latenzphase, in Form von Hausbesuchen oder Telefontriagen, folgten weitestgehend dieser Logik. Vorrangiges Ziel der strukturierten Assessment- und Betreuungskonzepte war es, die Kreißsaalaufnahme zu verzögern in der Hoffnung, gebärende Frauen vor einer voreilig gestellten Diagnose einer Dystokie und den damit zusammenhängenden Interventionen zu bewahren [4] [5] [6]. Es stellt sich jedoch die Frage, ob es von Vorteil für Frauen ist, die Latenzphase möglichst lange zu Hause zu verbringen, um erst in einer fortgeschrittenen Geburtsphase die Klinik aufzusuchen.

Die Definition Friedmans zum Beginn der ersten Geburtsphase, d. h. den Beginn regelmäßiger Wehentätigkeit, anzuwenden würde die Latenzphase in den Geburtsprozess integrieren. Daraus resultierende längere Geburtsverläufe müssten differenziert nach Phase (latent/aktiv) eingeschätzt werden, um Frauen nicht unnötigerweise prolongierte Verläufe zu bescheinigen. Vorteil dieses Vorgehens wäre die Chance, den von Frauen wahrgenommenen Beginn regelmäßiger Wehentätigkeit als Geburtsbeginn anzuerkennen, ohne dass er von Fachpersonen verifiziert werden muss. Der Nachweis der Cervixwirksamkeit der Wehen würde erst innerhalb der Latenzphase erfolgen. Damit würde die frühe Eröffnungsphase, in der eine tatsächliche, wenn auch subtile, Geburtsarbeit geleistet wird, ein sichtbarer und kommunizierbarer Teil der Geburt. Eine weitere Dimension des Phänomens Geburtsbeginn betrifft den von Frauen selbst wahrgenommen Beginn der Geburt. Die Erkenntnis, dass Frauen Zeitpunkt und Anzeichen des Geburtsbeginns sehr genau beschreiben können, und dass letztere nicht immer Wehen oder Schmerzen in irgendeiner Form sind, lassen Groß et al. [79] einen Schritt weiter gehen. In ihrer Untersuchung mit 600 Teilnehmerinnen finden sie keinen Anhaltspunkt dafür, dass der selbst bestimmte Geburtsbeginn von Frauen weniger akkurat wäre als eine Diagnose durch Hebamme, Arzt oder Ärztin [79].

In dem sich entwickelnden und aufeinander aufbauenden Prozess der Geburt lässt sich eine Vielzahl an bedeutsamen Geschehnissen und Wendepunkten identifizieren, die jeweils unterschiedliche Bedürfnisse und Bedarfe bedingen. Bspw. verfolgt Groß zur Entwicklung einer effektiven Geburtsbetreuung einen prozessorientierten Forschungsansatz, der sich an den individuellen Gegebenheiten des Prozesses des Gebärens orientiert [85].


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Betreuung von Frauen während der frühen Geburtsphase

Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die frühe Phase der Geburt als eine im Privaten verortete individuelle Erfahrung betrachtet. Bis weit in die 1980er Jahre galt sie als eine passive Phase, die die Frau zu ertragen hätte und in der ihr kaum geholfen werden könne [86]. Allgemeiner als auch fachlicher Rat durch die Hebamme war es, leichte Hausarbeit fortzuführen oder zu Laufen und abzuwarten. Aus historischer Perspektive kann nachvollzogen werden, dass die Feststellung der Geburtsphase durch Arzt oder Hebamme eher am Rande dazu diente, den Geburtsfortschritt zu überwachen oder Unterstützung zu initiieren, als vielmehr den eigenen Arbeitstag zu planen [86]. Mit dem geburtsmedizinischen Trend der programmierten Geburt ab den 1960er Jahren wurde verstärkt in den Geburtsprozess eingegriffen. Unter Ausschöpfung aller geburtserleichternden Maßnahmen könne eine sogenannte erreichbare Geburtszeit (Median 5–6 Std.) (Martius, 1979, S. 191) [87] erzielt werden, die etwas weniger als die Hälfte der bisherigen Geburtslänge (Median 12,7 Std.) (Martius, 1948, S. 308) [55] ausmacht. Das Laufen und anderweitige Beschäftigungen wurden durch großzügige Sedierung ersetzt, da Bettruhe und etwas später die kontinuierliche CTG-Kontrolle durchgesetzt wurden.

Die heutige Betreuungskultur von Frauen in der frühen Eröffnungsperiode oder frühen Phase der Geburt spiegelt das Zusammenwirken traditioneller Sichtweisen, medizinischer Definitionen und klinischer Rahmenbedingungen wider. Die Organisation der Kreißsäle sieht eine Betreuung von Frauen in der frühen Phase der Geburt nicht vor. Häufig bemühen sich Hebammen, Frauen möglichst lange von der Kreißsaalroutine auszuschließen, damit sie nicht zu früh Kapazitäten im Kreißsaal binden und ihr Geburtsfortschritt nicht zu früh nach den engen zeitlichen Vorgaben gemessen und behandelt werden muss. Dabei geraten Hebammen immer wieder in den Konflikt, Frauen u. U. nicht bedürfnisgerecht betreuen zu können [17]. Ergebnisse qualitativer Forschung der letzten Jahre verweisen darauf, dass Frauen gerade die Anfangsphase der Geburt als psychisch und physisch schwierige Phase empfinden. Unsicherheit, Ängste und Unvermögen, die eigene Kraft für einen nicht absehbaren Verlauf einschätzen zu können, stellen für viele eine große Herausforderung dar [14] [88] [89].

Mit der Einbeziehung der Latenzphase in den Geburtsprozess könnte die Betreuung von Frauen auch vor der Aufnahme in den Kreißsaal stärker an deren Bedürfnissen orientiert gestaltet werden, ohne damit zugleich zu hohe Erwartungen an den Geburtsfortschritt zu implizieren. Zudem kann die Integration des Konzeptes Latenzphase in den klinischen Alltag die Entwicklung bedürfnisgerechter Betreuungskonzepte und notwendige Umstrukturierungen der Kreißsaalorganisation fördern.


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Methodische Herausforderungen

Das Wesen der historischen Nachzeichnung der Entwicklung geburtshilflicher Konzepte ist die Vorläufigkeit der dargestellten Erkenntnisse, die zu jeder Zeit Hypothesen darstellten, die, insbesondere zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, viel und kontrovers diskutiert wurden.

Auf eine methodische Güteprüfung der Publikationen von Friedman et al. wurde in dieser Arbeit verzichtet. Dies zum einen aus dem Grund, dass Grundsätze einer ärztlichen Ethik in der Forschung erstmalig in der 18. Generalversammlung des Weltärztebundes in Helsinki im Juni 1964 verabschiedet wurden. Der heute maßgebliche ethische Standard medizinischer Forschung entwickelte sich seither sukzessive anhand mehrerer Überarbeitungen [90]. Es kann bspw. nicht nachvollzogen werden, ob die Frauen in der Kohortenstudie von Friedman et al. die Chance erhielten in die Studie und die Studienbedingungen (z. B. Untersuchungen auf dem Höhepunkt der Wehe, Anlegen des Cervimeters) einzuwilligen. Es muss berücksichtigt werden, dass die Analysen dem Stand des Wissens und der Möglichkeiten der jeweiligen Zeit entsprechen. Sie müssen in diesem Kontext eingebettet betrachtet werden. Die Erkenntnisse sind demnach aus heutiger Sicht mit Umsicht zu interpretieren. Weitere zu berücksichtigende Aspekte sind die fast routinemäßige und z. T. exzessive Sedierung von Frauen während der Geburt, der ebenfalls fast routinemäßige Einsatz eines „prophylaktischen“ Forceps und die fehlende Beschreibung einer fetalen Herztonüberwachung [21]. Friedman überprüft Zusammenhänge zwischen verschiedenen Formen von Geburtsdystokien und Apgar-Werten (1/5 min≤4) von Neugeborenen [34]. Dennoch fehlen in den Studien Angaben, um die Ergebnisse im Zusammenhang mit den durchgeführten medizinischen Interventionen und dem Geburtsmodus interpretieren zu können. Die peripartale Mortalitätsrate lag in dem Kollektiv von 500 Erstgebärenden bei 7,9‰ und je nach Gewichtsklasse zwischen 13,8 und 19,4‰. Von den 4 peripartal verstorbenen Kindern der Studie litten 3 an nicht behandelbaren, kongenital erworbenen Erkrankungen, ein weiteres Kind erlag einer Gehirnblutung nach Sturzgeburt. Perinatale Mortalitätsraten der 1950er Jahre (19,4–32‰) mit heutigen Raten (1,2‰ bei reifgeborenen Kindern in 2013) zu vergleichen ist in diesem Zusammenhang aus nachvollziehbaren Gründen (z. B. Entwicklungen in der Schwangerenvorsorge und Pränataldiagnostik) nicht sinnvoll [28].


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Korrespondenzadresse

Astrid Krahl
Faculty of Business Management and Social Sciences
University of Applied Sciences
Caprivistraße 30a
49076 Osnabrueck
Phone: +49/541/9693 779   
Fax: +49/541/9693 765   

  • Literatur

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Abb. 1 Diagramm der Teileröffnungszeiten. Quelle: Wolf W. Klinik des unzeitigen Blasensprungs: Ursache, Bedeutung, Behandlung, 1946, S. 103.
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Abb. 2 Vergleichende Darstellung der Teileröffnungszeiten nach Wolf und des Wegzeit-Diagramms nach Zimmer bei Erstgebarenden. Quelle: Modifizierte Darstellung nach Wolf W. Klinik des vorzeitigen Blasensprungs: Ursache, Bedeutung, Behandlung, 1946, S. 103 und Zimmer K. Die Muttermundseröffnung bei den Schädellagen im Wegzeit-Diagramm. Archiv für Gynäkologie 1951; 179: 511
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Abb. 3 Kombinierte grafische Verläufe der durchschnittlichen Muttermundseröffnungsrate (cm/Std.) und des Tiefertretens des vorangehenden Kindsteils bei 421 nicht selektierten Erstgebärenden. Quelle: modifizierte Darstellung nach Friedman EA, Sachtleben MR. Station of the fetal presenting part. I. Pattern of decent. American Journal of Obstetrics & Gynecology 1965; 93: 526.