Was geht schief? Federnde Böden, ein frei schwingendes Becken und eine kräftige Muskulatur sind
nicht mehr überall gegeben. Asphalt und Betonböden korrelieren mit einer chronischen
Überlastung der Beckengelenke, die dann bei zusätzlichen Risikofaktoren wie monotone Arbeit,
jugendliches Alter, Sport, Hormonbehandlungen und hohe Parität in eine Dysfunktion übergehen
kann [[1], [2], [3], [4], [5]]. Die Beckenringdysfunktion, auch Sakro-Iliakal-Gelenk-Syndrom (SIG-Syndrom,
englisch Pelvic Joint Dysfunction) genannt, ist ein „hausgemachtes“ Problem der westlichen
Lebensweise. Es tritt bei 20 % aller Schwangeren auf und ist bei etwa 3–5 % aller Schwangereren
chronifiziert [[6]].
Von Bruno Maggi, Allgemeinmediziner und Manualtherapeut in Zürich, lernte ich die Diagnostik und
Therapie der Beckenringdysfunktion. In der Zwischenzeit haben wir die Technik gemeinsam
verfeinert und nennen unser Vorgehen arthrokinematische Adjustierung des Beckenrings. Es
handelt sich um eine einfach durchzuführende, sichere und ungefährliche Methode.
Unter der Geburt ist die Adjustierung des Beckenrings von großer Bedeutung, denn die
Beckenringdysfunktion ist eine häufige Ursache von
Funktionelle Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie
Funktionelle Anatomie, Physiologie und Pathophysiologie
Wie gehen wir frei?
Wenn wir den menschlichen Körper als ein Musikinstrument betrachten, können wir Becken, Rumpf
und Brustkorb als einen mit Flüssigkeit und Luft verwobenen Klangkörper erkennen. Schall
entsteht durch eine mechanische Welle von kleinsten Druck- und Dichteschwankungen in einem
elastischen Medium, wie es unser Körper ist. Durch unseren Gang entstehen mechanische
Wellen. Auf federndem Boden kommt es zu fließenden, auf harten Böden zu kurzen, abrupt
wechselnden Schwingungen, die die Wirbelsäule und die inneren Organe, die Lymphe, das Herz
und den Kopf bewegen. Die Körperwellen können wir akustisch nicht wahrnehmen, da wir nur
einen kleinen Frequenzbereich von Schallwellen hören. Die positiven Auswirkungen des
federnden Gehens können jedoch nachgewiesen werden. Bekannt sind Verbesserungen von
Depressionen, chronischen Schmerzen, Reizdarmsyndrom und Bluthochdruck [[8], [9]].
Was ist Arthrokinematik?
Der Begriff Arthrokinematik setzt sich aus Arthros, das Gelenk, und Kinematik, die
Bewegungslehre, zusammen. Arthrokinematik bedeutet also die Lehre von der
Gelenksbewegung. Sie ist ein fester Bestandteil von verschiedenen manuellen Lehren.
Es werden unterschiedliche Techniken damit bezeichnet, die alle auf eine verbesserte
Bewegung der Gelenksflächen zueinander abzielen. Die arthrokinematische
Beckenringadjustierung zeichnet sich durch eine sehr sanfte, minimale Dehnung der
Sakro-Iliakal-Gelenke aus, die damit wieder ihre physiologische Position erreichen
können.
Der Beckenring ist ein knöchernes System mit 3 Gelenken, stabilisiert durch 3 ligamentäre
Strukturen und gehalten von einem inneren sowie 2 äußeren Muskelgruppen [[10], [11], [12]] (Abb.
[
1
]).
Er bewegt sich bei jedem Schritt, beim Aufrichten und Bücken, beim Drehen der Wirbelsäule
im Gehen, Sitzen und Liegen [[13], [14]].
Abb. 1 Die drei Beckenringgelenke: Symphyse und zwei SIG. (© Angela Haenni)
Schwingt das Sakrum frei in den SIG, ist auch die vaskuläre und neurologische Versorgung der
Beckenorgane perfekt. Liegt eine länger dauernde Dysfunktion vor, können Darm, Blase und
Genitalorgane leiden. So können Obstipation, Reizblase und verminderte Fruchtbarkeit oft
mittels einer Adjustierung des Beckenrings verbessert werden.
Der knöcherne Beckenring
Am häufigsten blockieren die SIG, weil sie beweglicher sind als die Symphyse. Da es sich um
einen Ring handelt, kann sich die Spannung, meist als Schmerz wahrgenommen, auf das
gegenüberliegende SIG oder die Symphyse verlagern. Typisch ist hier die
Bewegungseinschränkung, die sich in einem einseitigen Hinken als
Schonhaltung zeigen kann wie auch in Ausweichmanövern beim Bücken und
Aufstehen[[15]].
Geburtsprobleme können auftreten wie zunehmende Kreuz- und Symphysenschmerzen,
asymmetrisches bzw. fehlendes Tiefertreten des Kindes[[16]]. Eine Blockade des Beckenrings kann nach meiner Erfahrung auch an der Stimme
erkannt werden: die Stimme der Gebärenden klingt gepresster, enger und höher, beim Reden,
Rufen, Schreien, Summen und Singen.
Die ligamentäre Stabilität
Der knöcherne Beckenring ist neben den direkten ligamentären Gelenkverbindungen über die
Sakro-Iliakal-Gelenke und die Symphyse beidseits je durch das Ligamentum inguinale, das
Lig. sacrospinale und das Lig. sacrotuberale stabilisiert (Abb.
[
2
]).
Abb. 2 Die 3 ligamentären Strukturen: Lig. inguinalia, Lig. sacrospinalia, Lig.
sacrotuberalia. (© Dorin Ritzmann)
Bei einer länger dauernden Beckenringdysfunktion können eines oder mehrere dieser Bandsysteme
überlastet werden und schmerzhaft anschwellen. Typisch sind hier Schmerzen im tiefen
Unterbauch, Schmerzen bei der Penetration, starke Schmerzen beim Tiefertreten des
kindlichen Kopfes sowie asynklitische und deflektierte Lagen während der Geburt.
Eine PDA kann sowohl die Schmerzen als auch einen hohen Muskeltonus beheben. Da dabei auch
die Stabilisierung der Gelenke durch die Lockerung des Muskelmantels wie der muskulären
Fasern der Ligamente vermindert wird, kann es bei Lagerungen mit passiver Bewegung des
Beckenrings zu versehentlichen Blockierungen und Deblockierungen des Beckenringes
kommen.
Die PDA kann durch die Lockerung der Muskulatur und Ligamente spontane Blockaden, aber
auch Deblockaden des Beckenrings auslösen.
Das muskuläre Schutzsystem
Der Beckenring ist das muskuläre Zentrum des Körpers (Abb.
[
3
], [
4
], [
5
]). Lediglich die Hand-, Fuß- und Gesichtsmuskeln sind
nicht direkt oder indirekt mit dem Beckenring verbunden. Ist der Beckenring blockiert,
werden sich mit der Zeit eine oder mehrere der stabilisierenden Muskelgruppen anspannen,
überlasten, entzündlich kontrahieren und ggf. sogar ihre Funktion ganz einstellen.
Abb. 3 Die innere Muskel- und Fasziengruppe (M. transversus abdominis,
thorakodorsale Faszie, M. multifidus, M. psoas, M. levator ani, M. pubococcygeus). (© Angela Haenni)
Abb. 4 Die äußere kraniale Muskelgruppe (M. quadratus lumborum, M. erector
spinae, M. latissimus dorsi). (© Angela Haenni)
Abb. 5 Die äußere kaudale Muskel- und Fasziengruppe (Mm. glutaeus minimus,
medius und maximus, M. piriformis, M. adductor femoris, Tractus iliotibialis). (© Angela Haenni)
Typisch sind Glutäalschmerzen, die oft Tage nach einer SIG-Blockierung auftreten sowie
pseudoradikuläre Ausstrahlungen entlang des N. ischiadicus, eine Adduktorenschwäche,
Schulterschmerzen, Nackenschmerzen und Drehschmerzen nachts im Schlaf, die nach einigen
Wochen auftreten [[17], [18]].
Das komplexe Bewegungsmuster des Beckenrings beim Gehen, Aufrichten und Bücken bzw. beim
Gebären kann mit dem Öffnen und Schließen einer Blume verglichen werden: Es ist ein
dreidimensionales Geschehen. Beim Aufrichten führt das leichte dorsale Kippen des
Sakrums zu einer seitlichen Öffnung der Iliakalschaufeln und einem Zusammenziehen der
Sitzbeine (Abb.
[
6
]). Beim Bücken führt das
leicht ventrale Kippen des Sakrum umgekehrt zu einem sich Annähern der Iliakalschaufeln
und einem Öffnen der Sitzbeine [[19]] (Abb.
[
7
]).
Abb. 6 Beckenringbewegung beim Aufrichten/Eröffnen. (© Angela Haenni)
Abb. 7 Beckenringbewegung beim Bücken/Gebären. (© Angela Haenni)
Diagnostik der Beckenringdysfunktion
Diagnostik der Beckenringdysfunktion
Die Diagnostik dauert nur wenige Minuten. Leitsymptom ist die asymmetrische Beweglichkeit
des Beckenrings. Zwei Tests genügen:
Oft wende ich beide Tests an, da sie nicht exakt dasselbe messen, unter der Geburt genügt jedoch
einer dieser Tests.
Diagnostik und Therapie sollten in einem praktischen Kurs erlernt und geübt werden.
Das Vorlaufphänomen im Stehen
Lassen Sie die Betroffene barfuß (oder in Socken) vor sich stehen und betrachten die
Symmetrie von Schultern, Wirbelsäule und Beckenschaufeln. Legen Sie die Hände seitlich auf
die Beckenschaufeln (Cristae iliacae) und beachten deren Höhensymmetrie (Abb.
[
8
]). Bei unterschiedlicher Höhe sollten Sie an eine
Beckenverwringung (Dislokation der Ileum-Schaufeln) oder an eine Beinlängendifferenz
denken.
Nun schieben Sie die Daumen unter die Spinae iliacae posteriores superiores und bitten die
Frau sich etwa 30 Grad zu bücken (Abb.
[
9
]
,
[
10
]). Liegt ein
asymmetrisches Verschieben der Spinae vor, ist eine Beckenringdysfunktion vorhanden.
Abb. 8 Die Hände auf die Cristae iliacae legen. (© Beat Schilt)
Abb. 9 Die Daumen unter die Spinae iliacae posteriores superiores schieben. (© Beat Schilt)
Abb. 10 Die Daumen belassen und die Betroffene bitten, sich langsam etwa 30 Grad
zu bücken, dabei auf die Symmetrie der Spinae achten. (© Beat Schilt)
Der Beinlängendifferenz-Test im Liegen
Die Betroffene legt sich auf den Rücken. Die Innenknöchel werden auf dieselbe Höhe
ausgerichtet (Abb.
[
11
]). Sofort wird die
Betroffene an beiden ausgestreckten Armen langsam in eine sitzende Position aufgerichtet.
Behalten Sie dabei die Innenknöchel im Auge und kontrollieren Sie im Sitzen. Liegt eine
Asymmetrie vor, ist eine Beckenringdysfunktion vorhanden (Abb.
[
12
]).
Abb. 11 Die Innenknöchel werden vor dem Aufsitzen ausgerichtet. (© Beat Schilt)
Abb. 12 Asymmetrische Knöchellage. Die Innenknöchel sind leicht verschoben: Es
liegt eine Beckenringdysfunktion vor. (© Beat Schilt)
Asymmetrische Spinae im Vorlaufphänomen-Test und asymmetrische Innenknöchel im
Beinlängendifferenz-Test zeigen die Beckenringdysfunktion an.
Therapie der Beckenringdysfunktion
Therapie der Beckenringdysfunktion
Die nachhaltige Therapie einer Beckenringdysfunktion gründet auf
Beckenring-Adjustierung
Zur Gelenkadjustierung oder Deblockierung sind etliche Therapien wirksam. Dazu gehören
Massage, Akupunktur, Osteopathie, Chiropraktik und Manuelle Medizin [[20], [21]]. Physiotherapeutisch
gibt es verschiedene Kombinationen aus manuellen Techniken, Mobilisation, Stabilisierung
und gezieltem Muskelaufbau [[22], [23]]. Zur Gelenkmobilisation sind Techniken mit rotatorischer Dehnung wirksam
[[24]]. Hierzu zählt die arthrokinematische
Beckenringadjustierung, die von Dr. Bruno Maggi und mir entwickelt wurde. Sie umfasst
eine Dehntechnik im Liegen und eine Impulstechnik im Stehen. Beide Techniken funktionieren
gleich gut. Steht eine Gebärende (Schwangere, Wöchnerin), kann im Stehen diagnostiziert
und behandelt werden, liegt sie, kann Diagnose und Therapie im Liegen erfolgen.
Bei einer Beckenverwringung (Dislokation eines Os ileum) benutze ich oft beide Techniken.
Im Folgenden wird die arthrokinematische Dehntechnik im Liegen vorgestellt (Abb.
[
13
], [
14
], [
15
]). Sie wird auf einer Bettkante, Liege oder einem
Tisch durchgeführt.
Abb. 13 Lagerung im Liegen seitlich mit angezogenem Tisch-nahem Bein. (© Beat Schilt)
Abb. 14 Korrekte Platzierung der Hände in einer Achsel und auf dem Tisch-nahen,
kaudalen SIG. (© Beat Schilt)
Abb. 15 Rotatorische Dehnung: dorso-kraniale Streckung in der Achsel mit
synchronem, ventro-kaudalen Zug auf das Tisch-nahe SIG. (© Beat Schilt)
Die Betroffene wird seitlich gelagert mit angezogenem Tisch-nahen Bein (Abb.
[
13
]). Der untere Arm wird unter den Kopf gelegt, der
obere Arm über die Liege- oder Bettkante fallen gelassen. In einer Wehenpause kann diese
kurze Behandlung problemlos durchgeführt werden. Die Behandelnde steht zur Betroffenen
gerichtet, kaudal des angezogenen Knies. Eine Hand wird in die Achselhöhle der Betroffenen
gelegt und umfasst die Thoraxwand auf Höhe der Skapula (Abb.
[
14
]). Sie zieht durch einen dorso-kranialen,
atemsynchronen Schub die Wirbelsäule mitsamt dem Sakrum aus dem Beckenring und dreht sie
leicht nach dorsal. Gleichzeitig zieht die Hand auf dem unteren, Tisch-nahen SIG das
Sakrum nach ventro-kaudal (Abb.
[
15
]). Es
resultiert eine leichte Öffnung des Tisch-nahen SIG, sodass es sich selber in die
physiologische Position adjustieren kann.
Dieses gleichzeitige, atemsynchrone Dehnen wird bei Nicht-Gebärenden 3-mal pro Seite
durchgeführt, während beim Gebären oft eine einseitige Behandlung genügt. Nach der
Behandlung wird der Beckenring kontrolliert. Bei chronischen Problemen wird die Behandlung
meist nochmals wiederholt, bis eine physiologische Beckenringfunktion erreicht ist.
Stabilisierung und Prophylaxe
Unabhängig von der Dauer der bisherigen Probleme instruiere ich alle Betroffenen in drei
prophylaktischen Maßnahmen: Bis zur nächsten Kontrolle (Ausnahme Geburt)
-
sollen federnde Schuhe resp. Schuheinlagen getragen werden,
-
soll komplett auf Drehübungen in Freizeit und Sport (Yoga, Fitness, Tanz, Crawl,
Jogging etc.) verzichtet werden und
-
soll kein Abdrehen von Rumpf zum Becken im Alltag durchgeführt werden (kein
Staubsaugen, kein Abdrehen auf dem Bürostuhl, kein Nach-Hinten-Schauen beim
Autofahren etc.).
Manchmal genügen diese Maßnahmen zur Eigenstabilisierung des Beckenrings, oft jedoch nicht.
Dann wird ein nicht-elastisches Beckentuch über Symphyse und die Trochanter
angelegt (wie ein tiefer Beckengurt) und zur Selbstanwendung angeleitet [[23]]. Das Beckentuch sollte tagsüber getragen werden, bei
vollständig instabilen Verhältnissen in der ersten Woche auch nachts. Die teilelastischen
Beckengurte, oft mit Klettverschlüssen versehen, genügen für eine ligamentäre
Stabilisierung nicht [[25], [26]]. Sie können aber, wie auch das Taping, die Beschwerden verringern. Allerdings
wirken lediglich nicht-elastische Beckengurte und Beckentücher nachhaltig und heilen
effektiv (Abb.
[
16
]
,
[
17
]).
Abb. 16 Beckentuch über den Trochantern. (© Dorin Ritzmann)
Abb. 17 Beckentuch im Alltag. (© Dorin Ritzmann)
Kontrollen sollten zu Beginn wöchentlich stattfinden, nach einigen Wochen dann alle 2–4
Wochen. Insgesamt müssen die Beckenringgelenke zwölf Wochen lang durchgehend physiologisch
platziert sein, um eine komplette ligamentäre Stabilisierung zu erreichen, ab der ersten
Kontrolle ohne Beckenringdysfunktion gerechnet.
Fallbeispiel
Frau Z. hat eine schöne erste Schwangerschaft erlebt. Die Geburt beginnt zögerlich,
langsam kommen gute Wehen. Frau Z. ist nach einer durchwachten Nacht müde und muss
viel liegen. Der Muttermund öffnet sich bis etwa acht Zentimeter, dann geht es nicht
weiter. Die Wehen verändern sich, es tut mehr und mehr weh, der Kopf des Kindes
drückt auf das Kreuz, und Frau Z. ist am Ende ihrer Kräfte. Sie wird weinerlich und
unruhig. Weder Wärme noch Kälte helfen gegen die Kreuzschmerzen, sie verträgt keinen
Handdruck vom Partner oder von der Hebamme. Das Kind bleibt mit dem Kopf auf der
Interspinalebene stehen. Frau Z. versucht, tapfer mitzumachen und steht, kauert,
geht und dreht sich nach Anleitung. Pflanzliche und homöopathische Mittel helfen nur
kurz. Die Schmerzen werden eher noch stärker.
Nach insgesamt 18 Std. lässt sich Frau Z. vom Geburtshaus in ein Zentrumspital
verlegen. Der Kopf ist inzwischen etwas tiefer als interspinal, sodass von einer
einfachen Vakuum-Entbindung ausgegangen wird. Zweimal gleitet das Vakuum ab; das
Köpfchen tritt nicht tiefer. Der Versuch einer Forcepsentbindung misslingt, sodass
eine Sectio caesarea durchgeführt wird. Die MRT-Aufnahme des Beckens im Wochenbett
zeigt keine verengten Beckenverhältnisse.
Acht Wochen nach der Geburt sehe ich Frau Z. das erste Mal. Sie hat keine Beschwerden
mehr, kann sich frei bewegen und gut stillen. Allein aufgrund der Geburtsgeschichte
untersuche ich den Beckenring und finde eine deutliche Verschiebung der SIG vor. Ich
behandle den Beckenring arthrokinematisch und kontrolliere nach einer Woche. Der
Beckenring bleibt stabil und beschwerdefrei. Ich empfehle ihr, sich frühzeitig in
der nächsten Schwangerschaft bei mir zu melden.
In der zweiten Schwangerschaft treten schon früh wiederkehrende SIG-Blockaden auf, die
jeweils arthrokinematisch behandelt werden. Der Partner traut sich die Technik nicht
zu, auch wegen den Komplikationen unter der 1. Geburt. Da eine spontane
Beckenring-Stabilisierung nach der 32. Woche eintritt, erwägt Frau Z. den erneuten
Versuch einer natürlichen Geburt. Nach eingehender Beratung und Diskussion
entscheidet sie sich für eine Hausgeburt. Frau Z. eröffnet in wenigen Std. fast
schmerzfrei und gebärt innerhalb von 20 Min. in der Badewanne zu Hause – ein
wohltuendes und heilsames Erlebnis sowohl für Mutter und Kind als auch für die ganze
Familie. Der Beckenring bleibt stabil, auch im Wochenbett.
Frau Z. berichtet von einem konstanten starken Schmerz tief im rechten Unterbauch, etwa
auf Höhe des rechten Leistenkanals während der ersten Geburt, der erst durch den
Kaiserschnitt verschwunden ist. Sie habe angenommen, dass dieser Schmerz zu einer
Geburt gehöre, aber er trat während der zweiten Geburt nie auf.
Muskelaufbau
Der Muskelaufbau erfolgt in einem Stufenprogramm, wie es in der Sport-Physiotherapie
üblich ist. Wird die Beckenring-stabilisierende Muskulatur zu früh trainiert, also vor
einer ligamentären Stabilisierung, werden die lockeren Gelenke wieder in die alte
dysfunktionelle Stellung verzogen.
Wie bei allen anderen Gelenksdislokationen sollte die muskuläre Stabilisierung erst nach der
ligamentären Stabilisierung trainiert werden, die beim Beckenring erfahrungsgemäß 12
Wochen benötigt. Das Aufbauen der symmetrischen Rumpf- und Beckenmuskulatur kann jedoch
schon nach 4 Wochen stabilem Beckenring beginnen [[27]].
Hier empfehlen wir insbesondere das Nordic Walking, das durch das gehaltene, leichte
Vornüberbeugen einen Muskelaufbau im Kreuz bewirkt. Ebenso sind Liegestütze, symmetrische
Rumpfbeugen und symmetrische Dehnübungen von großem Vorteil. Nach acht Wochen kommen
symmetrische Bauchmuskeltrainingseinheiten dazu. Ab zwölf Wochen werden die gesamten
muskulären Beckenring-Stabilisatoren in einem Stufenprogramm aufgebaut.
Bei Wöchnerinnen gehen wir erst vier Monate nach Geburt von einem stabilen Beckenring aus;
erst ab dann beginnt das muskuläre Stufenprogramm. Mit Geduld und Achtsamkeit können so
auch langwierige, chronische Beckenringdysfunktionen nachhaltig behoben werden.
Fazit
In den 20 Jahren als Geburtshelferin habe ich diese Problematik so oft erleben, dass ich empfehle,
das Erkennen und Behandeln von Beckenringdysfunktionen in die Ausbildung von Hebammen und
Geburtshelfer aufzunehmen. Diagnostik und Therapie müssen in einem praktischen Kurs erlernt und
geübt werden. Bislang habe ich ca. 1200 Personen behandelt und alle erlebten eine Linderung
ihrer Beschwerden und fast alle eine komplette Beckenringstabilisierung mit
Beschwerdefreiheit.
Da die Beckenringdiagnostik wenig zeitaufwändig ist und keine Apparaturen benötigt, empfehle ich
bei allen Schwangeren einmal pro Trimenon eine Diagnostik durchzuführen. Mit Blick aufs Gebären
ist die Untersuchung kurz vor der Geburt am wichtigsten. Im Wochenbett empfehle ich vor Ablauf
von vier Monaten eine Diagnostik durchzuführen. Damit kann die Rate an chronischen
Beckenringdysfunktionen reduziert werden.
Dr. med. Bruno Maggi und ich unterrichten diese Technik seit vielen Jahren. Der Schweizerische
Hebammenverband und geburtshilfliche Abteilungen bieten entsprechende Kurse an (siehe
www.arthrokinematik.ch).