Bei einer Befragung der anwesenden Klinikvertreter während der Herbsttagung 2015 der
Bundesdirektorenkonferenz (BDK) in Günzburg als Initiative von deren AG Migration
und Psychiatrie bestätigten fast alle (der antwortenden 47) eine v. a. seit einem
Jahr unterschiedlich stark spürbare Zunahme von behandlungsbedürftigen Flüchtlingen
in ihren Kliniken und Ambulanzen, die aber bislang weitgehend in die Regelbehandlung
zu integrieren waren. Die besondere Bedeutung von rasch verfügbaren Dolmetschern und
die Notwendigkeit, sich mit den verschiedenen Personen und Projekten der örtlichen
ehren- und hauptamtlichen Hilfeinfrastruktur zu vernetzen, war Konsens – sowie die
bestehenden integrativen Angebote für Patienten mit Migrationshintergrund zu nutzen
und auszubauen. Ein deutlicher Dissens bestand in der Einschätzung, ob die Einrichtung
von Schwerpunktstationen für Flüchtlinge sinnvoll und notwendig sei, wofür sich knapp
die Hälfte aussprach.
Ähnliche Umfrageergebnisse mit einem Patt und polarisierender Diskussion bei dieser
Frage konnten wir bei den hessischen psychiatrischen Chefärzten erheben.
Die European Psychiatric Association [1] geht davon aus, dass 50 % der asylsuchenden Flüchtlinge an psychischen Erkrankungen
leiden. Circa 10 % der nach Deutschland geflüchteten Schutz- und Asylsuchenden (in
2015 um die 1,1 Millionen Menschen) sind durch Gewalt- und Bedrohungserfahrung im
Herkunftsland und oder auf ihrer oft jahrelangen Flucht so schwer traumatisiert, dass
sie eine behandlungsbedürftige posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zeigen oder
entwickeln werden – bei Kindern sogar 20 %. Die meisten Betroffenen sind derzeit noch
in einem von dem Überlebenskampf geprägten „Stressmodus“ und werden erst innerhalb
weniger Jahre die Symptome einer PTBS entwickeln bzw. als weiterbestehend und krankheitswertig
erleben. Selbst wenn wir nur ausschnitthaft auf diese traumaassoziierte psychische
Erkrankung fokussieren, sollten wir uns in der Versorgungsplanung darauf einstellen,
voraussichtlich in den nächsten 2 – 3 Jahren mehrere 100 000 Menschen mit posttraumatischen
Störungsbildern behandeln zu können.
Jedenfalls ist eine kausal mit den Fluchtgründen und -bedingungen verknüpfte ungleich
höhere Morbiditätsrate zu bewältigen als durchschnittlich bei den Menschen mit Migrationsgeschichte,
die wir bislang im deutschen Gesundheitswesen hierzu untersucht und integriert haben
[2]
[3].
Fraglos stellt die Einbeziehung der erkrankten Flüchtlinge in die Regelbehandlung
der bestehenden überwiegend ambulanten Strukturen eine Hauptaufgabe dar [4], die es in der Medizin insgesamt und so auch in der Versorgungspsychiatrie zu organisieren
und sicherzustellen gilt – wie überhaupt in vielen gesellschaftlichen Bereichen –
mit dem Ziel einer gelingenden Integration.
Nun lassen sich verschiedene Ansatzstellen identifizieren, an denen dafür Prozess-
und Strukturqualität sinnvoll zu adaptieren sind, um dieser Herausforderung gerecht
zu werden, wie z. B. ein gut ausgebautes und finanziertes Dolmetschernetz, niederschwellige
ambulante Sprechstunden, Förderung von Migranten-helfen-Migranten- und Kulturmittler-Projekten,
Schulung von klinikinternen Übersetzern, Veränderung der Komm-Strukturen mit Ausbau
aufsuchender Hilfen und Supervisionen durch die PIAs in den Aufnahmeeinrichtungen
oder Heimen.
Die aktuell geflüchteten Menschen, die in Deutschland Aufnahme gefunden haben, benötigen
orientiert an ihren Herkunfts- und Ankunftsbedingungen in besonderem Maße ein zielgruppenspezifisches
Angebot – so wie es sich als sinnvoll erwiesen hat, das Inanspruchnahmeverhalten entsprechend
der Herkunftskulturen zu analysieren und bei den therapeutischen Angeboten zu berücksichtigen,
auch bei Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger in Deutschland leben
[5]
[6]
[7].
Eine meines Erachtens sinnvolle Ergänzung in der Angebotsstruktur für die psychiatrische
Versorgung von Geflüchteten besteht in der Implementierung überregional zuständiger
kulturkompetenter Schwerpunktstationen für traumaassoziierte Störungen mit Behandlungsteams,
die sowohl traumatherapeutisch weitergebildet sind als auch muttersprachlich entgegenkommen
können.
Hier ist insbesondere an die Gruppe adoleszenter Mädchen und junger Frauen zu denken,
die einen bedeutenden Anteil der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge ausmachen
und sehr häufig nicht nur sexuell traumatisiert, sondern auch bekanntermaßen gefährdet
sind, weiteren sexuellen Übergriffen ausgesetzt zu sein und des gesonderten Schutzes
bedürfen. Von einem speziellen stationären Angebot würden auch die adoleszenten Flüchtlinge
(16 – 24 Jahre) profitieren, die – zusätzlich zu dem gelegentlichen Problem der Altersplausibilität
– oft in kinder- und jugendpsychiatrischen Stationen nicht stimmig in das Therapieangebot
bzw. die Patientengruppe zu integrieren sind.
Die Bedenken dagegen, die vor einer Ausgrenzung bzw. Ghettoisierung in der Therapie
warnen, sind – auch wenn sie gelegentlich polemisch zugespitzt erscheinen und an die
überwunden geglaubte Polarisierung zwischen Anhängern von Spezialisierung und Generalisierung
in der Psychiatrie erinnern – sehr ernst zu nehmen. Insofern ist darauf zu achten,
dass die passagere Inanspruchnahme von solchen spezialisierten Therapieeinrichtungen
– ähnlich den überregionalen Traumazentren oder Spezialsprechstunden – mit muttersprachlichen
und damit ethnischen Schwerpunkten auf dem Hintergrund einer gemeindeorientierten,
auch sozialtherapeutischen Grund- bzw. Weiterversorgung stattfindet.
Günstig und auch realistisch wäre eine selbstverständliche fachliche Akzeptanz, wie
für andere störungsspezifische Therapieangebote (nicht nur in den somatischen Fächern),
die je nach Angebotsdichte bei entsprechender Indikation auch über Kreis- oder Versorgungssektorgrenzen
in Anspruch genommen werden, sodass nicht jede Klinik die entsprechende Expertise
vorhalten müsste. Selbst bei einer fachlichen und versorgungspolitischen Bereitschaft
zur Einrichtung solcher Schwerpunktstationen bleiben noch etliche Fragen offen und
heikel: Wer übernimmt wo die Implementierung? Sind ethnische, kulturelle oder sprachliche
Aufteilungen sinnvoll und effektiv (z. B. Balkan, Afrika, Vorderasien)? Welche überregionale
Zuständigkeit bzw Bedarfslage liegt vor (Regierungsbezirke, Bundesländer, regionale
Sektorverbünde etc.)? Ist die Finanzierung bei Asylsuchenden gewährleistet?
Ein großes Problem, das wir leider nicht selten derzeit bei stationär aufgenommenen
Migranten mit dem aktuellen Fluchthintergrund sehen und berichtet bekommen, ist, dass
es aus sprachlichen und kulturellen Gründen – selbst bei den gut organisierten gelegentlichen
Dolmetscherterminen – zu oft gravierenden diagnostischen und therapeutischen Missverständnissen
kommt, diese Patienten gerade psychotherapeutisch suboptimal behandelt werden bzw.
erreichbar sind und häufig auch milieutherapeutisch bestenfalls wenig profitieren,
eher eine Isolation und Ausgrenzung auf der Station erfahren. Auch wenn diese Fälle
selbstverständlich anspornen müssen – unter synergetischer Nutzung der Strukturen
und Prozesse, die schon zur Behandlungsoptimierung der Patienten mit Einwanderungsgeschichte
bestehen – unsere kultursensiblen Angebote in der Versorgungspsychiatrie kontinuierlich
zu verbessern, zeigen sie auch, dass die sektororientierte Regelbehandlung noch keineswegs
Garant für eine therapeutische Integration ist.
In einer maßvollen Erweiterung des versorgungspsychiatrischen Spektrums können kulturell
und muttersprachlich kompetente störungsspezifische Schwerpunktstationen für traumatisierte
Flüchtlinge unter besserer Ausnutzung der Peer-Learning- bzw. Selbsthilfeaspekte und
damit der milieu- und gruppentherapeutischen Effekte und durch die effizientere Erzielung
von Therapieerfolgen nicht nur wirkungsvoll einer weiteren Chronifizierung von traumaassoziierten
Störungen vorbeugen, sondern damit einen wertvollen Beitrag für die weitere umfassende
Integration leisten.