KOLUMNE
Halb zehn in Deutschland
(Paavo Blåfield)
Die Kunst des Ausruhens ist ein Teil der Kunst des Arbeitens.
(John Steinbeck (1902–1968), amerikanischer Schriftsteller)
Es ist immer dasselbe. Jeden Monat denke ich darüber nach, über welches Thema ich
mich in meiner nächsten Kolumne auslassen könnte. Immer gut geeignet (oder gerade
nicht) ist die tagesaktuelle oder große Politik. Oder soll es etwas über Patienten
im Allgemeinen oder im Besonderen oder über die Familie werden? Selbst das Wetter
gibt immer wieder etwas her. Nein, dieses Mal nicht! In dieser Kolumne will ich mal
ein ganz heißes Eisen anfassen – und zwar das leidige Thema Arbeitspausen. Und um
dem noch eins draufzusetzen: Pausen im Stationsalltag. Und die Idee dazu kam so:
Während eines Frühdienstes saß ich um 8 Uhr in unserem Aufenthaltsraum am mehr oder
weniger gedeckten Tisch. Ich wartete auf meine Kollegen, die noch oder schon wieder
auf der Station herumschwirrten, und ließ meinen Blick schweifen. „Gedeckter Tisch“
heißt bei uns ein Sammelsurium an mehr oder weniger geschmackvollen Tassen, dazu
nicht passende Teller. Die Tassen sind natürlich personenbezogen und es kommt schon
mal zu leichter Hysterie, sollte die eigene Tasse nicht gleich gefunden werden. Ich
würde es zum Beispiel nie wagen, die „Äffchentasse“ meiner Kollegin Maria für mich
zu beanspruchen. Dafür weiß aber auch jeder, dass die geblümte Doppeltasse mir
gehört. Leider macht die es wohl nicht mehr lange. Der große Sprung im Innern weitet
sich langsam aus. Andere Kollegen bleiben ganzjährig ihrer Weihnachtstasse treu. Ich
bin nur froh, dass wir derzeit keine Tasse mit einer Diddl-Maus oder einem flapsigen
Spruch wie „Held der Arbeit“ im Rennen haben. Diverse Marmeladengläser reihen sich
aneinander. Natürlich immer mit selbstgemachter Marmelade, die entweder von den
Kollegen oder deren Müttern oder Großmüttern mit Liebe gekocht wurde.
Müslischüsseln, gefüllt mit oft nicht zu definierender Pampe, die sich dann die
gesundheitsbewussten Kollegen mit verzerrter Miene reinschaufeln und dabei beteuern,
wie gut es angeblich schmeckt, dürfen auch nicht fehlen. Insgesamt sieht unser
Frühstückstisch also nicht besonders einladend aus. Aber das ist nur das kleinere
Übel. Wenn wir es doch nur einmal schaffen würden in Ruhe zu frühstücken!
Wir haben vor Jahren viele Möglichkeiten ausprobiert, um eine im Stationsalltag
günstige Zeit für unser Frühstück zu finden, und fanden es eigentlich relativ
pfiffig, dann zu frühstücken, wenn es die Patienten auch tun. Da haben wir
allerdings die Rechnung ohne den Patienten an sich gemacht. Obwohl unsere Patienten
zwischen etwa 6.30 Uhr und 8 Uhr von uns geweckt und, wenn nötig, ins Bad
mobilisiert werden, die Visite stattfindet und das Frühstück und die Medikamente
ausgeteilt werden und wir annehmen könnten, dass alle jetzt für die nächste halbe
Stunde zufrieden mit ihrem Frühstück zu tun haben sollten, klingelt es auf Station
oft im Minutentakt. Der eine wünscht noch eine zweite Tasse Kaffee, ein anderer
fragt, ob man nicht die gelbe Marmelade in eine rote tauschen könnte. Manchmal
dürfen wir auch das Fenster schließen, weil es im Rücken zieht, oder andere
lebenswichtige Dinge tun. Dann das Telefon! Das Röntgen ruft Patienten ab, das Labor
hat mal eben eine Frage und Angehörige hätten gern Auskunft über die Befindlichkeit
ihrer Familienmitglieder. Dann kommen noch diverse Ärzte vorbei und wollen
irgendwas, begleitet von einem leichtherzigen Bedauern, dass sie gerade beim
Frühstück stören. Oft geben wir dann genervt auf und gehen wieder an die Arbeit. Man
kann ja zwischendurch noch mal von dem Brötchen abbeißen und einen Schluck vom
kalten Kaffee nehmen. Soll ja schön machen.
Dabei hat sich der Gesetzgeber richtig Mühe gemacht, um eine Pause während der Arbeit
zu definieren. Im Arbeitszeitgesetz ist alles ganz genau festgehalten. Wer wie viele
Minuten Pause während seiner Arbeitszeit hat und wie und wo die zu verbringen ist.
Schön finde ich, dass in den Technischen Regeln für Arbeitsstätten, genauer: in der
ASR A4.2 sogar geregelt ist, wie die Räume auszusehen haben und ausgestattet sein
sollten. Bis hin zu den Regelungen, dass ein Sozialraum, in dem Fall wohl unser
Aufenthaltsraum, mindestens 1 m² pro Person bieten muss (ich will ja
nicht zynisch klingen, aber gibt es ähnliche Regelungen nicht auch für Hühner?).
Auch bei der Ausstattung gibt es merkwürdige Forderungen. Die bereitgestellten
Sitzgelegenheiten müssen 35–45 cm tief und 60 cm breit sein, die Sitzflächen
gepolstert und abgerundet, und (jetzt wird es ganz absurd!) die Füße, also unsere,
müssen den Boden erreichen können. Schön, dass das alles ganz genau irgendwo
nachzulesen ist. Nur, wie wir eine Pause, also eine Unterbrechung, Erholung und
Abstand vom Arbeitsrhythmus gestalten sollen, steht nirgendwo. Sogar Gerichte
befassen sich immer wieder mit der Frage, wann im Pflegebereich die Voraussetzungen
für eine Pause im Sinne des Arbeitsgesetzes vorliegen. Aber eine zufriedenstellende
Lösung für uns haben weder Gerichte und auch wir noch nicht gefunden. Immerhin
werden in unserem Haus die Pausen im Nachtdienst als Bereitschaft abgerechnet und
bezahlt. Das ist ja wenigstens was.
Ach, ich könnte jetzt noch unendliche Ausführungen zu diesem Thema machen. Zum
Beispiel auch über die Geschichte der Arbeitspausen an sich. Denn das, was wir für
selbstverständlich halten, war bis Ende des 19. Jahrhunderts undenkbar – und das bei
Arbeitszeiten von bis zu 16 Stunden täglich. Der Weg zu den heutigen
Pausenregelungen war für die Gewerkschaften von damals ein beschwerlicher.
Da sollte ich mich wirklich weniger über unsere Situation beschweren oder mich gar an
den hässlichen Tassen aufhalten. Immerhin kann ich mir ja, wann immer ich will, eine
Tasse Kaffee aus unserem Automaten holen. Und nein, ehe sich jemand wundert, so ein
Automat gehört nicht zu den in irgendwelchen Richtlinien und gesetzlichen Vorgaben
für die Ausstattung eines Aufenthaltsraum. Den haben wir uns schön selbst
gekauft.
In diesem Sinne, Ihre
Heidi Günther
hguenther@schoen-kliniken.de
RECHTSTICKER
Abmahnung eines Betriebsratsmitglieds nicht möglich
Ein Arbeitnehmer, der nicht freigestelltes Mitglied im Betriebsrat ist, hat eine
Doppelrolle inne. Einerseits ist er normaler Arbeitnehmer mit allen Rechten und
Pflichten, andererseits bekleidet er auch ein betriebsverfassungsrechtliches Amt
nach den besonderen Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG). Verstößt
er mit seinem Verhalten allein gegen Regelungen aus dem Betriebsverfassungsrecht,
kann ihn der Arbeitgeber dafür nicht abmahnen. So hat das Bundesarbeitsgericht in
einem Fall entschieden, in dem ein Betriebsratsvorsitzender eine unternehmensinterne
Betriebsvereinbarung an alle Mitarbeiter im Konzern per Mail versendete. Diese
Betriebsvereinbarung betraf diese jedoch gar nicht, sondern war nur auf die
Mitarbeiter des einen Unternehmens beschränkt. Daraufhin warf der Arbeitgeber ihm
vor, gegen die betriebsverfassungsrechtliche Pflicht zur vertrauensvollen
Zusammenarbeit verstoßen zu haben und mahnte ihn dafür ab. Das Bundesarbeitsgericht
stellte mit Beschluss vom 09.09.2015 – 7 ABR 69/13 – klar, dass ein solcher
möglicher Verstoß gegen betriebsverfassungsrechtliche Pflichten nicht mit einer
arbeitsrechtlichen Abmahnung geahndet werden könne.
Beraterhinweis: Bei groben Verstößen kann der Arbeitgeber den Ausschluss des
Betriebsratsmitglieds aus dem Betriebsrat anstreben. Arbeitsrechtliche Sanktionen
hingegen sind nicht das richtige Mittel.
Handyfotos als Beweismittel anerkannt
Das Oberlandesgericht Oldenburg (Urteil vom 28.10.2015 – 5 U 156/135 U 156/13)
verurteilte ein Krankenhaus, einem Kind wegen einer zu spät erkannten
Hirnhautentzündung Schmerzensgeld und Schadensersatz zu leisten. Einem fünf Jahre
alten Jungen waren deshalb beide Unterschenkel amputiert worden. Trotz zahlreicher
Haut- und Muskeltransplantationen muss der Junge bis heute einen
Ganzkörperkompressionsanzug sowie eine Kopf- und Gesichtsmaske tragen, um eine
wulstige Narbenbildung zu vermeiden. Zum Beweis für das Vorliegen von
Hautverfärbungen bei dem Jungen in der Nacht legten dessen Eltern Lichtbilder vom
Handy der Mutter vor. Das Landgericht zeigte sich von einem groben Behandlungsfehler
des zuständigen Pflegers überzeugt, der in der besagten Nacht nicht umgehend eine
ärztliche Notfalltherapie veranlasst hatte. Im Rahmen des Berufungsverfahrens ließ
das Gericht das Handy durch einen technischen Sachverständigen auswerten und kam zu
dem Ergebnis, dass die vorgelegten Bilder tatsächlich in der Nacht aufgenommen
worden seien.