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DOI: 10.1055/s-0042-106463
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Publication Date:
08 June 2016 (online)
- Erster Teil
- Zweiter Teil : Biografische Notizen
- Literatur
Nach meinem Dienstantritt im Diakoniekrankenhaus Rotenburg 1997 erhielt ich von meinem Vorgänger, dem leitenden Medizinaldirektor Dr. med. D. Sommerwerck, im Mai 1998 eine Kopie der Inaugural-Dissertation von August Walbaum zur „Persönlichen Verwendung“.
Gemeinsam mit meiner Frau reifte nun in den letzten Jahren die Idee, diese Promotionsschrift der Leserschaft der „Pneumologie“ zur Kenntnis zu bringen, wobei uns auch die Lebensgeschichte des Verfassers interessierte. Diese Lebensgeschichte ist, so wie die Promotion ein Stück der deutschen Medizingeschichte ist, ein Stück der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit unserem Freund Dr. K. Müller-Scheeßel, der in dem Ort, in dem Walbaum seine Praxis unterhielt, die Stellung des Gemeindearchivars wahrnimmt, ist es uns gelungen, über den Promovenden und seine Familie Mitteilungswertes aus den Archiven herauszuarbeiten. Hierzu erfahren Sie im zweiten Teil des Beitrags Näheres.
Die kursiven Anmerkungen innerhalb der im Folgenden abgedruckten Auszüge aus der Dissertation und die Hintergrundinformationen zur Aktualität der Erkenntnisse Walbaums im ersten Teil des Beitrags stammen von mir.
Tom Schaberg
Erster Teil
Das niedersächsische Bauernhaus und seine Gefahren in gesundheitlicher Beziehung. (Eine practisch-hygienische Studie.)
Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doctorwürde in der Medicin, Chirurgie und Geburtshilfe der hohen medizinischen Fakultät der Universität Marburg vorgelegt von August Walbaum, pract. Arzt in Scheessel in Hannover. Marburg a. d. L., den 19. Juli 1897.
Walbaums Dissertation beginnt mit einer Darstellung der landschaftlichen Gegebenheiten der Gegend um Rotenburg, das damals noch Rotenburg in Hannover und heute Rotenburg (Wümme) heißt. Es folgen Abhandlungen über die klimatischen Gegebenheiten, hier auch mit statistischem Zahlenmaterial. Weitere Betrachtungen widmen sich der Landschaft und der Bodenbeschaffenheit, wobei insbesondere auf die vielfältig vorhandenen Moore hingewiesen wird. Nach der allgemeinen Schilderung der klimatischen, geologischen und örtlichen Verhältnisse kommt Walbaum in seiner Promotionsschrift dann zu seinem eigentlichen Thema, der Darstellung des niedersächsischen Bauernhauses:
„Die einfachste Grundform des niedersächsischen Hauses ist ein einstöckiges Giebelhaus, dessen Grundstock durchweg aus Fachwerk besteht. Das Dach ist mit Stroh gedeckt, das auf die Holzsparren aufgebunden wird, ein Schornstein existiert nicht. Eine eigentliche Fundamentierung des Hauses oder eine Unterkellerung findet fast nie statt; der Fachbau wird vielmehr meistens direct auf den Baugrund aufgerichtet, nur selten dient eine Schicht grösserer Quadersteine als Unterlage. Es fehlt eben hier an solchen und die Beschaffung ist zu kostspielig.
Wenn der Fachbau aufgerichtet ist, werden die einzelnen Fächer ausgefüllt und zwar entweder mit gebrannten Ziegelsteinen, die regelrecht eingemauert werden, meist in einer Dicke von ½ Stein, oder mit einem Gemisch aus Lehm, Stroh und sogen. Reith […]. Letzteres Material wird zur Füllung des Scheunenfachwerks eigentlich ausschliesslich angewendet. Die Bedachung ist von Stroh, die in einer Dicke von etwa 30 – 50 cm hergestellt wird und zur Hälfte vorne und hinten an den Giebeln herabreicht.
Das Innere des Hauses ist der Reihe nach in 3 Abteilungen eingeteilt. Die mittlere ist die Einfahrt mit einer grossen Thür auf der vorderen Giebelseite. Zu beiden Seiten sind die Viehstände, die meistens nach der Diele zu offen sind; erst in den letzten Jahren fängt man hier an, die Ställe durch Holzwände nach der Diele zu abzuschliessen. Von den Ställen gehen kleine Fensterchen nach aussen, die aber meist nicht zu öffnen sind, sodass die Ventilation nur durch die grosse Diele möglich ist. Letztere dient auch zugleich als Futterlager für den täglichen Gebrauch. Dasselbe wird vom Boden heruntergeworfen, auf der Mitte der Diele gesammelt und dann bei Bedarf dem Vieh zugefegt.
Die Wohnräume nehmen entweder einen Teil der seitlichen Abteilungen zu beiden Seiten des Eingangsthores ein oder es schliesst sich – wie fast überall hier – nach hinten noch eine vierte Abteilung an, welche der ganzen Breite des Hauses entspricht. Diese eigentlichen Wohnräume sind hier sehr selten von den übrigen Abteilungen durch eine quere Bretterwand mit Thür abgeschlossen im Gegensatz zu den Marschen, wo wie z. B. im Lande Wursten (am rechten Weserufer nördlich von Geestemünde gelegen) sich fast kein Bauernhaus findet, bei dem nicht die Wohnräume von den Stallungen getrennt sind. Auch fehlt hier meist das offene Herdfeuer, die Butzen sind erhalten.
Der Herd, nach alter malerischer und patriarchalischer Sitte, ist offen ohne Schornstein, wie ein Altar dastehend im Hintergrund des mittleren Raumes vor der vierten Abteilung. Ueber demselben entlang der ganzen langen Wand dieser Abteilung bilden bunte, oft viele Jahrzehnte alte Teller von Steingut, Porcellan und Zinn sowie Krüge, deren Grösse bedenklich an die durstigen Germanenkehlen erinnert, eine sehr geschmackvolle und altehrwürdige Wanddecoration. Ueber dem Herd unter der Decke ist die Rauchkammer; Schinken, Würste etc. hängen frei unter der Decke und sind vom Rauch, der dem offenen Herd entsteigt, direct umhüllt.
Der Fussboden des ganzen Hauses besteht meist aus fest gestampftem Lehm, in der Nähe des Herdes aus Ziegelsteinen oder Feldsteinen; nur in den Wirtshäusern findet man Holzfussböden auf der ganzen Diele in Rücksicht auf die tanzende Jugend.
Die vierte Abteilung nun – die eigentlichen Wohn- und Schlafräume – bestehen aus mehreren Gemächern […]. Nur ein Raum wird als Stube benutzt und eigentlich nur Sonntags im Winter oder wenn es Kranke giebt und die Frau im Wochenbett gepflegt wird. Denn an diese Stube grenzt auch der Schlafraum.
([Abb. 5])
Das ist die sogenannte Butze oder der Alkoven. Darunter versteht man einen Holzverschlag in einer Ecke der Stube, der sich nach derselben zu durch eine kleine Schiebethür, die etwa ½ Meter über dem Fussboden sich befindet, öffnen lässt. Nach der anderen Seite ist die Butze meist vollständig luft- und lichtdicht abgeschlossen; vereinzelt findet man zwar auch einen Schieber nach der Diele zu oder ein kleines Fensterchen nach aussen.
Von der Stube aus geht man zu Bett und zieht dann Nachts die Läden zu, sodass man sich ungefähr einen Begriff machen kann von der Luft, die in diesen Räumen herrscht. Denn es schlafen oft 3 bis 4 Personen in solchem Raume, der etwa 6 bis 8 cbm misst. Tags über steht meistens auch die Butze geschlossen, da Zeitmangel oder Nachlässigkeit ein ordentliches Bettenmachen unterlässt. Die Butze ist unter dem Bettzeug, das auf Brettern liegt, meistens hohl und dann mit allerlei Unrat angefüllt. Davon unten mehr.
Tags über wird, wie gesagt, die Stube fast nie benutzt; für gewöhnlich sitzen alt und jung traulich um den rauchenden Herd; nur die kleineren Leute ziehen sich schon mehr in die Stube zurück, weil der Ofen billiger ist als der offene Herd. Neben dem Herde auf der einen Seite werden noch immer nach alter Sitte – wenigstens in den grösseren Haushaltungen und abgesehen von den ganz modernisirten – die Mahlzeiten eingenommen. Auf der anderen Seite, da wo der Brunnen sehr nahe dem Hause angelegt ist, zu dem eine Seitenthür […] hinausführt, wird geputzt, gewaschen, gespült. Die Abwässer haben stets den Abfluss nach dem Brunnen zu.
Besonders malerisch und patriarchalisch ist das Herdleben […], wenn das schreiende Baby gewiegt wird, die Frauen am Spinnrocken […] oder Webstuhl sitzen, die Kinder fleissig nähen oder Kartoffel schälen, – das Universalgericht für unsere Landleute, von denen sie unglaubliche Quantitäten vertilgen, – der Bauer den Strickstrumpf schwingt und der Imker […] seine Gerätschaften ausbessert.
Dazu das lodernde oder glimmende Feuer und dichter Rauch, der es oft dem Eintretenden unmöglich macht, irgend Jemanden zu erkennen.
Und die alten Aerzte, die unsere Gegenden bewohnten, sie haben in den Rauch antiseptische Eigenschaften hineingedichtet, die zerstörend wirken sollten auf Miasmen und Contagien, und sie haben geschwärmt dafür und gestritten.
Sie waren es gewohnt darin zu leben. Heute muss man anders darüber denken: Vom sanitären Standpunkte aus betrachtet, ist der offene, rauchende Herd von unendlich schädlicher und direct gefährlicher Wirkung für unsern Organismus und besonders für den gesamten Respirationstractus.
Ich will nur kurz erwähnen die so häufig vorkommenden Unglücksfälle, bei denen Kinder ins offene Feuer fielen und verbrannten. [...]
Doch weit verbreiteter und gefährlicher sind die Folgen, die der offene Herd durch seine stetige Rauchentwicklung bietet. Das Feuer brennt den ganzen Tag von den frühesten Morgenstunden an bis zum späten Abend; den ganzen Tag über herrscht beständige Rauchentwickelung, besonders Morgens, Mittags und Abends, wenn für Menschen und Vieh gekocht wird; und dann vorzüglich im Winter, wo der Herd einzig und allein auch die ihn umlagernden Hausbewohner zu erwärmen hat.
Im Frühling und Sommer, wenn die zu beiden des Hauses angebrachten sogenannten „Blankenthüren“ offen stehen und eine kräftige Ventilation ermöglichen, ist es noch zum Aushalten in solcher Atmosphäre. Aber dann kommt der Winter mit seinen langen Abenden, wo alle Thüren oft fest geschlossen werden, wo es wochen- und monatelang an Aussenarbeit fehlt und alle Hausbewohner von früh bis spät vom Torfrauch umhüllt sind. Ist dann der Torf wie so oft bei nassem Sommer nicht trocken eingebracht, so spotten die Rauchwolken, die solch ein Haus erfüllen, jeder Beschreibung. Wenn das wenigstens etwas ventilirende Strohdach nicht wäre, würde man kaum in solcher Luft existiren können. Wird dann noch gedroschen und gesellt sich zum Rauch der Staub, besonders Buchweizenstaub, – dann wird schliesslich doch bisweilen die Stube geheizt und der hochgradige Emphysematiker flüchtet vom Herdfeuer.
Dass eine solche Verunreinigung der Luft durch Rauch und Staub – denn jedes Abfegen der Diele, das Zufegen zu den Kühen bringt unendlich viel Staub – zu schweren Schädigungen der Gesundheit führen muss, liegt auf der Hand.
Wer zum ersten Mal in eine dicht mit Rauch oder Staub gefüllte Atmosphäre tritt, der empfindet alsbald eine gewisse Trockenheit in den oberen Luftwegen; und wer länger und dauernd sich in solcher Luft aufhalten muss, zieht sich gar leicht durch die dauernde mechanische Reizung eine catarrhalische Entzündung des Respirationstractus zu.
Wenn wir Abends einige Stunden in einem Zimmer uns aufgehalten haben, in welchem stark geraucht wurde, erinnert uns am anderen Morgen das grauschwarze sputum und die unschwer in demselben aufzufindenden Kohlepartikelchen an die Schädlichkeiten, die wenige Stunden vorher unser Atmungsorgan betroffen haben.
Nun denke man sich unsere Bauern, die Jahr aus Jahr ein täglich mindestens einige Stunden, im Winter tage- und wochenlang im Rauch sich aufhalten! Darf man sich da wundern, dass es nur wenige Häuser giebt, deren Bewohner ganz intacte Lungen aufweisen?
Es kommt nämlich durch den Reiz von Rauch und Staub, wie durchs Tierexperiment bewiesen ist, – denn jene wirken als Fremdkörper, – zu einer Fluxion der Schleimhaut des Respirationstractus, bei längerer Dauer desselben zur Hyperaemie und daraus resultirender Hypersecretion, deren Erscheinung als klinisches Bild eben den Auswurf darstellt. Die Schleimhaut der Atmungsorgane vieler Menschen gewöhnt sich auch an solche Misshandlungen und ein bisschen Husten stört nicht; aber bei einer grossen Anzahl treten doch ernstere Erscheinungen auf. Der Catarrh lässt nicht nach, er wird durch immer aufs Neue einwirkende Schädlichkeiten unterhalten, es entwickelt sich der chronische Catarrh und dieser führt weiterhin und oft bald zum vesiculären Lungenemphysem. Dasselbe besteht in einer Erweiterung der Lungenbläschen mit Verdünnung ihrer Wandungen und Verlust der Elasticität derselben. Mangelhafter Gasaustausch – in Folge des Verlustes der Elasticität – Verkleinerung der Respirationsfläche und Obliteration der Lungencapillaren stellen beim Emphysem 2 Erscheinungen in den Vordergrund: Die Dyspnoë und die Circulations-Störungen in der Lunge. Die Dyspnoë fehlt nie; sie wird bedingt teils durch den mangelnden Luftwechsel teils durch die Verkleinerung der Respirationsfläche und sie wird bedeutend gesteigert bei jeder Zunahme des Catarrhs.
Die Circulations-Störungen in der Lunge, bedingt teils durch Verlangsamung der Circulation in den Capillaren, teils durch Obliteration eines grossen Teils derselben, führt weiter zur excentrischen Hypertrophie des rechten Herzens, zur frühzeitig lividen und später cyanotischen Verfärbung der Haut, besonders im Gesicht, zur Anschwellung der Halsvenen und verhindertem Abfluss aus dem Gehirn, – daher so viel Kopfweh und Schwindel, besonders beim Husten. Es treten ferner auf: Leberhypertrophie, chronischer Magen-Darmcatarrh, und schliesslich kommt es hydropischen Erscheinungen. – Wenn hier beim Standesbeamten – wie so oft – als Todesursache „Wassersucht“ angegeben wird, muss man in erster Linie immer an chronischen Bronchialcatarrh und Lungenemphysem denken.
Der chronische Catarrh ist so sehr bei uns verbreitet, man hat sich so sehr an ihn gewöhnt, dass ein mit ihm behafteter Mensch einfach als normaler Mensch angesehen wird. Es gehört eben mit dazu. Wie oft hört man nicht in der Krankenanamnese die Worte: „Ja, ich huste wohl, aber nicht mehr, als einem zukommt und als die anderen.“ Im Sommer, wenn die Bauern den ganzen Tag im Freien arbeiten, geht es den Bronchitikern und Emphysematikern leidlich, da klagen nur Mütter und Grossmütter, die am Herdfeuer zu thun haben. Wenn aber der Herbst naht, die Zeit des Kartoffelausrodens, wenn die ersten grauen, nasskalten Tage sich einstellen, da hustet alles. Es ist interessant, dann einmal Sonntags die Kirche zu betreten; Prediger mit schwacher Stimme vermögen garnicht durchzudringen durch das gewaltige Gehuste. Wie viele leiden nicht bei uns an „voller Brust“; wo man hört: „ich bin amböstig“ […], da hat man es mit dem chronischen Catarrh und Emphysem zu thun. […]“
Walbaums Hinweise auf die gesundheitlichen Gefahren, die von der Herdstelle im niedersächsischen Bauernhaus ausgehen, sind von faszinierender Aktualität.
Epidemiologie von pulmonalen Erkrankungen, die durch das Verbrennen von Biomasse bedingt sind
Die WHO schätzt, dass mindestens 2 Millionen Todesfälle weltweit durch die Luftverschmutzung im Haushalt bedingt sind [1]. Wahrscheinlich ist diese Schätzung deutlich zu gering, da bei der Datenerfassung kardiovaskuläre Todesfälle nicht erfasst sind. Man kann davon ausgehen, dass auch heutzutage weltweit die Hälfte der Weltbevölkerung in ihren Wohnstätten Holz, Holzkohle, Dung oder Ernteabfälle (zusammengefasst als Biomasse) verbrennt, um hiermit zu kochen und zu heizen [2]. Menschen, die zu diesen Zwecken Biomasse im Haushalt verbrennen, sind sehr häufig mit einem verfügbaren Einkommen von 1 – 2 US$/Tag extrem arm. Die durch das Verbrennen von Biomasse am häufigsten gesundheitlich geschädigten Bevölkerungsgruppen sind Kinder unter fünf Jahren und Frauen. Die Rauchexposition bedingt bei den Kindern eine Übersterblichkeit an Infekten der unteren Atemwege und an Pneumonien, wohingegen die Frauen sowohl eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung (COPD) entwickeln, die sich klinisch und prognostisch nicht von der durch das Zigarettenrauchen bedingten COPD in den Industriestaaten unterscheidet, als auch eine Übersterblichkeit am Lungenkarzinom zeigen. Die WHO geht jährlich von 1,1 Millionen Todesfällen bei Frauen durch eine fortgeschrittene COPD oder ein Lungenkarzinom aus. Besonders betroffen sind weite Teile Afrikas und der indische Subkontinent. In Indien verbrennen zirka 75 % der Haushalte Rinderdung, Erntereste und Feuerholz in offenen Feuerstellen im Haus ohne Kamine. Nach Erhebungen der indischen Gesundheitsbehörden versterben an den Folgen der innerhäuslichen Biomasseverbrennung jährlich 250 000 – 400 000 Kinder und 20 000 – 155 000 Frauen [3] [4].
Risikoabschätzungen
Die innerhäusliche Verbrennung von Biomasse erhöht das Risiko von Kindern < 5 Jahre beträchtlich (OR: 1,78; 95 %CI: 1,45 – 2,18 bis 3,52 (95 %CI:1,94 – 6,43) [5]. Ähnliche Risikoabschätzungen liegen für die COPD und das Lungenkarzinom bei Frauen zwar nicht vor, jedoch treten in den entsprechenden Regionen diese Erkrankungen zu bis zu 75 % bei nicht-rauchenden Frauen auf. Auch für die Tuberkulose kann, analog zu den Erkenntnissen, dass Zigarettenrauchen die Erkrankungswahrscheinlichkeit erhöht, vermutet werden, dass die Verbrennung von Biomasse einen wichtigen Risikofaktor darstellt.
Interventionen zur Reduktion von Pneumonien durch Biomasse-Verbrennung bei Kindern
2011 erschienen im Lancet die Ergebnisse einer umfänglichen Interventionsstudie (RESPIRE Trial) [6]. Die Studie wurde in Guatemala durchgeführt. 534 Haushalte mit Kindern erhielten eine mit einem Kamin versehene Kochstelle. Obwohl die durch CO-Hb Messungen kontrollierte Rauchexposition nur um 50 % zurückging, konnte die Rate schwerer kindlicher Pneumonien bei Kindern bis zum 18. Lebensmonat um 33 % gesenkt werden (RR: 0,67; 95 %CI: 0,45 – 0,98).
Interventionen zur Reduktion der COPD durch Biomasse-Verbrennung bei Frauen
In einer Studie in Mexiko wurde geprüft, ob eine Kamin-Kochstelle (Patsari-Ofen) die COPD bei 552 Frauen vermindern kann [7]. Die Nutzung des neuen Ofens war mit nur 50 % gering. Allerdings konnte nach einem Jahr bei den Nutzerinnen ein Reduktion giemender Atemgeräusche (rate ratio for wheez: 0,29; 95 %CI 0,11 – 0,77) und eine Verminderung des FEV1-Abfalls (31 ml versus 62 ml, p = 0,01) gezeigt werden.
Präventionsinitiative
Die „Global Alliance for Clean Cookstoves“ (http://cleancookstoves.org/) ist eine Private-Public-Partnershhip Organisation innerhalb der WHO, die sich seit dem Jahre 2010 des Problems durch die Förderung der Entwicklung neuer Koch- und Heizsysteme angenommen hat und bisher mehr als 300 neuartige Herd- und Ofen-Systeme, die den Bedürfnissen und Möglichkeiten der jeweiligen Region entsprechen, untersucht und getestet hat.
Im Folgenden lässt sich Walbaum darüber aus, dass es bedauerlicherweise kein statistisches Material über die Verbreitung der chronischen Bronchitis und des Lungenemphysems gibt. Dann schließen sich Walbaums Erkenntnisse zur Tuberkulose an:
„Eine Krankheit aber ist es, die ganz besonders zahlreiche Opfer in unserer Gegend fordert, das ist die Tuberkulose. Die Beobachtungen zahlreicher Aerzte bestätigen, dass die Schwindsucht in Holstein, Hannover und Oldenburg (die Küstenstriche ausgenommen), ferner in Westfalen häufiger vorkommt als im übrigen Deutschland. Und auch in der Schlockow’schen Arbeit „Verbreitung der Tuberculose in Deutschland“ (veröffentlich im III. und IV. Hefte der Zeitschrift des königlich preussischen statistischen Bureaus) wird statistisch nachgewiesen, dass in Hannover und Rheinland-Westfalen die meisten Todesfälle an Tuberkulose vorkommen. In den am meisten befallenen Kreisen dieser Provinzen ist die Tuberkuloseanfälligkeit zum Teil 6 mal so gross als in den am meisten verschonten Kreisen Preussens und Pommerns.
Die Tuberkulose forderte unter übrigens gleichen Bedingungen um so mehr Todesfälle, je dichter die Bevölkerung wohnt, und doch hat der dichtest bevölkerte Kreis Preussens nämlich Beuthen in Oberschlesien bei 628 Einwohnern auf den Quadratkilometer eine Tuberkuloseziffer von nur 216 (Todesfälle auf 100 000 Einwohner), während die Hannover’schen Kreise Fallingbostel, Rotenburg, Harburg und Meppen mit etwa nur 20, 21, 24 und 25 Einwohnern auf den Quadratkilometer Tuberkuloseziffern von 417, 539, 615 und 638 haben (Todesfälle auf 100 000 Einwohner) (F. A. Schlockow). Die Provinz Hannover ist beinahe auch der einzige grössere Teil des Landes, wo das platte Land eine grössere Schwindsuchtshäufigkeit darbietet als die Städte.
Das platte Land hat zum Beispiel im Regierungsbezirk Stade ein plus über die Städte von 102, im Regierungsbezirk Hannover um 106 (alles auf 100 000 Einwohner).
Schlockow vermag für dies alles keine Erklärung zu geben. Findet sich der Tuberkelbacillus an und für sich hier häufiger als anderswo? Wohl kaum. Ich glaube vielmehr, dass unter anderem die grosse Diele des niedersächsischen Bauernhauses mit ihrem ewigen Rauch die übergrosse Schwindsuchtsfrequenz mit bedingt.
Bevor ich nun des Näheren hierauf eingehe, sei es mir gestattet, die Frage nach der Aetiologie der Tuberkulose kurz zu erörtern. […]“
Es folgen nun sehr knappe, aber prägnant formulierte Ausführungen über den Diskurs, ob es sich bei der Tuberkulose um eine reine Infektionskrankheit handelt oder ob die „Erblichkeit“ eine Hauptrolle bei der Tuberkulose-Entstehung spielt. Walbaum stellt im Folgenden die damals vertretenen Positionen dar und kommt letztlich zu folgendem Schluss:
„Nun, dieser einseitige Standpunkt, der nur die Erblichkeit für Tuberkulose gelten lässt, ist wohl kaum ernstlich mehr vertreten.
Durch die epochemachenden Entdeckungen von Robert Koch, dem Forscher wie Klebs und andere vorgearbeitet hatten, ist der Tuberkelbacillus unzweifelhaft als Erreger der Tuberkulose festgestellt worden, und in keine phthisischen Lunge, und in keiner phthisischen Darmaffection oder sonstigen tuberkulösen Prozessen fehlt der Tuberkelbacillus. Dass er sich bei manchen Erkrankungen, die gegen eine Masseneinwanderung mehr geschützt sind wie bei gonitis tuberculosa oder tuberc. Lymphomen u. a. in geringerer Anzahl findet, ist ja nur natürlich. Diese Orte sind eben nicht mit der Luft in so grosser offener Verbindung wie zum Beispiel die Lunge. Ebenso ist es auch erklärlich, dass sich die Tuberkelbacillen erst dann nachweisen lassen, wenn die tuberkulösen Processe weiter fortgeschritten sind und für die physikalischen Untersuchungen sich bereits ausgesprochene Resultate ergeben. Denn erst dann wird eine genügende Menge oder überhaupt sputum expectorirt, das die Tuberkelbacillen enthält. […]“
Im Folgenden geht Walbaum abwägend darauf ein, dass er zwar von der These der Erblichkeit der Tuberkulose nichts hält, jedoch Suszeptibilitätsfaktoren anerkennt.
Bemerkenswert ist die Diskussion von Walbaum über die mögliche genetische Basis der Tuberkulose. Diese Diskussion war vor der Entdeckung des Erregers durch Robert Koch im Wesentlichen durch die Konstitutionslehre bestimmt. Walbaum schlägt sich hier aber eindeutig auf die Seite der Infektiologie und betont den Charakter der Erkrankung als den einer Infektionserkrankung. Dies hindert ihn aber nicht zu diskutieren, dass es möglicherweise zusätzliche individuelle Faktoren gibt, die die Erkrankung begünstigen. Er greift hier einer Diskussion über die „Erblichkeit der Tuberkulose“ voraus, die insbesondere während der NS-Zeit in der Pneumologie heftig geführt wurde. Ausgehend von Zwillingsforschungen durch K. Diehl [8] und O. Verschuer [9] wurde der Faktor der Erblichkeit betont und fand auch Eingang in die menschenverachtende Praxis der Zwangssterilisation von an Tuberkulose erkrankten Patienten [10]. Die in der NS-Zeit geführte Debatte war überschattet von eugenischen und rassehygienischen Gesichtspunkten, weil sie die Ausrottung der suszeptiblen Bevölkerungsanteile als ein erstrebenswertes Ziel ansah.
1944 veröffentlichten Kallmann und Reisner [11] in den USA ebenfalls eine große Zwillingsforschungsstudie zur Tuberkulose, die im Wesentlichen zu ähnlichen Ergebnissen wie die Untersuchungen von Diehl und Verschuer kam. Es zeigte sich, dass die gemeinsame Erkrankung an Tuberkulosen bei monozygoten Zwillingen in 66,7 % der Fälle vorkam, wohingegen bei dizygoten Zwillingen eine gemeinsame Erkrankung nur bei 23 % auftrat. In der nun folgenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung ergab sich die Frage, inwieweit die Erkrankung an Tuberkulose einen genetischen Hintergrund hat.
Weltweit wird diese Forschung zurzeit sehr intensiv betrieben [12]. Wir können heute davon ausgehen, dass die Erkrankung an Tuberkulose in erheblichem Maße auch die genetische Vulnerabilität des Wirtes betrifft [13]. In der Vergangenheit wurden sowohl genetische Defekte (z. B. hinsichtlich der Interferon-gamma-Produktion) als auch Genloci identifiziert, die sich bei infizierten und erkrankten Personen signifikant häufiger finden als bei nicht infizierten und gesunden Personen [14]. Hinweise haben sich auch für Genloci ergeben, die offenbar einen Schutz gegenüber der Infektion und der Erkrankung vermitteln [14].
Nach dieser Theoriediskussion kommt Walbaum auf sein eigentliches Thema zurück, auf den Zusammenhang zwischen der hohen Tuberkulose-Prävalenz und dem niedersächsischen Bauernhaus:
„Indem ich, folgend der Ansicht der meisten Forscher und fussend auf den Beobachtungen eigener Praxis, den tractus respiratorius als die Haupteingangspforte für die Bacillen ansehe, komme ich wieder auf unser niedersächsisches Bauernhaus zurück und auf sein offenes Herdfeuer.
Davon dass durch dasselbe und seine stete Rauchentwicklung Tuberkulose direkt erzeugt wird, kann natürlich keine Rede sein; wohl aber glaube ich, dass es der Ansiedelung von Tuberkelbacillen günstig vorarbeitet.
Denn es ist eine von der Wissenschaft allgemein anerkannte Thatsache, dass die Einnistung und Vermehrung der Bacillen entschieden gefördert wird durch eine Laesion, eine nicht völlige Intaktheit der Schleimhaut. Es steht fest, dass mechanische Insulte der Schleimhaut unserer Atmungsorgane die Entstehung der Lungentuberkulose wesentlich begünstigt. Dies kann dadurch geschehen, dass die Schwellung der Schleimhaut die Einlagerung des Bacillus erleichtert, oder der in Folge des chronischen Catarrhs eintretende Schwund des Flimmerepithels bewirkt, dass die Bacillen nicht wieder nach aussen expectorirt werden, wie es bei normaler Schleimhaut anzunehmen ist. Ferner ist möglich, dass die Laesion der Schleimhaut den Bacillen direkt den Eintritt in die Gewebe der Lymphbahnen erleichtert.
Darf man sich da nun wundern in einer Gegend so hohe Schwindsuchtsziffern anzutreffen, wo so unendlich viele laedirte Lungen sind, in der es Ortschaften giebt, wo kaum ein Haus existirt, das nicht mindestens einige Individuen mit chronischem Bronchialcatarrh präsentirt. […]
Aber nicht allein der offene Herd mit seinen Rauchwolken ist anzuklagen; zugleich mit ihm müssen wir die Schlafstätten unseres Bauernhauses nennen, jene bereits oben erwähnten Butzen. Das Volk in seinem wirklichen Leben darf man nicht nach den Kirchdörfern […] beurteilen, da ist schon manches mehr ausgeputzt und die Butze in ihrer ursprünglichen Gestalt mehr in den Hintergrund gedrängt. Auf die Nebendörfer muss man gehen, da sieht man noch überall die Butzen mit ihren Hohlräumen unten, die angefüllt sind mit halbvermoderten Kartoffeln, alten Lumpen und Unrat. Auch das Bettstroh, auf dem die Leute schlafen, ist oft in einem Zustande, der Ekel erregt. Bis es verfault und stinkend geworden ist, lassen sie es manchmal liegen und selbst nach Geburten, wenn das Stroh mit Fruchtwasser und Blut durchtränkt ist, entschliesst man sich ungern zur Erneuerung. Als Kuriosum mag Erwähnung finden, dass ich neulich unter einer solchen Butze eine Hündin mit ihren Jungen entdeckte.
Diese Räume, die ein einigermassen hygienisch denkender Mensch sich scheut als Schlafstätten zu bezeichnen, sie dienen hier fast den meisten Menschen dazu. Wenn ich auch sie für die Tuberkuloseerkrankungen mit verantwortlich mache, so geschieht das einerseits, weil sie als solche bereits durchaus gesundheitswidrig sind, andererseits, weil ich glaube, dass sie eine Unzahl von Tuberkelbacillen beherbergen und so direkt als Infectionsherd gelten können.
Als Hauptträger der Infection ist wohl ohne Zweifel das sputum der tuberkulös erkrankten Menschen anzusehen. Die grosse Contagiosität des sputums ist bereits von Tappeiner durch Tierexperimente im Jahre 1877 nachgewiesen, indem er bei Hunden mit zerstäubtem sputum Inhalationstuberkulose erzeugte. […]“
Nun geht Walbaum auf die damals durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen ein, bei denen die Übertragung der Tuberkulose durch Staub dargestellt worden ist:
„Das sputum bildet demnach die Hauptgefahr für die Umgebung des Phthisikers, aber auch nur wenn es Gelegenheit zum Vertrocknen hat.
Nun denke man sich jene Butzen, in denen der Schwindsüchtige mit seinem Schweiss und Auswurf liegt. Ueberall wird derselbe hingeworfen, auf die umgebenden Wände, den Fussboden und unter die Decke, mitten unter die Gesunden wochen-, monate-, jahrelang. Dazu kommt dann noch, dass Frau und Kinder oft des Nachts das Bett mit dem tuberkulösen Manne teilen müssen und gezwungen sind, die bacillenhaltige Luft Nacht für Nacht einzuatmen. Gründlich gereinigt werden diese Höhlen nur äusserst selten, früher nur wennʼs Hochzeit gab und ein neues Brautbett kam, jetzt zwar häufiger, aber weniger intensiv. Wenn wirklich einmal eine strenge Desinfectionsordnung eingeführt ist bei der Tuberkulose – und hoffentlich wird die Zeit nicht mehr ferne sein – solche Räume dürften kaum zu desinfiziren sein. Die Erfahrung lehrt, dass selbst in dem saubersten Schlafzimmer der saubersten und gesundesten Menschen früh morgens ein unangenehmer Geruch sich bemerklich macht, der auf organische Zersetzungen zurückzuführen ist. Und die exacte Untersuchung ergiebt, dass die Menge der organischen Substanzen zunimmt im Verhältnis zur Zahl der Insassen und mit der Dauer des Aufenthaltes. Nun trete man einmal früh morgens, wozu man als Arzt oft genug Gelegenheit hat, vor solch eine Butze, die an einem engen und niedrigen Zimmer angebracht und der jegliche Ventilation fehlt, – der Qualm, der Dunst, den man da einzuatmen hat, ist eben nicht zu beschreiben. Und wenn man auch chemisch und mikroskopisch die Luft in den Schulen, Auditorien, Krankenhäusern, ja selbst den Dreschdielen untersucht hat, an die Butzenluft hat sich noch keiner herangewagt.
Und doch atmen auf dem platten Lande bei uns Hunderte von Familien solchen Dunst und Qualm ein Jahr aus und ein ihr ganzes Leben hindurch. Da darf es kaum Wunder nehmen, dass die Schwindsucht bei uns so grosse Opfer fordert, dass selbst die gesundesten Männer der Krankheit schliesslich zum Opfer fallen, wenn sie, wie stets, mit dem tuberkulösen Weibe die Lagerstatt teilen. Desgleichen die Kinder!
Denn gerade bei dieser Krankheit ist – leider – die Sorglosigkeit sehr gross, die Furcht vor der Ansteckung sehr gering; sonst müsste die eigene Ueberlegung und ein wenig Nachdenken die Menschen vorsichtiger gemacht haben. Und nicht nur in Bezug auf die Behandlung der Kranken, die Reinhaltung derselben und die Entfernung der infectiösen sputa. Als weiteres Moment muss ich die Art der Eheschliessung erwähnen, die in höchst leichtsinniger Weise ohne Rücksicht auf die zukünftige Familie stattfindet. Einerseits ist es hier üblich, möglichst innerhalb der Verwandtschaft zu heiraten aus rein materiellen Gründen, auf dass Hab und Gut nicht in fremde Familien übergehe oder in zu viele Teile. So findet man äusserst häufig, dass Männer, die ihre erste Frau verloren, deren Schwester heiraten oder Blutsverwandte höherer Grade. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn ich behaupte, dass fast das halbe Kirchspiel Scheessel auf diese Weise verwandt ist. Dass durch solche Generationen hindurch gepflegte Verwandten-Heiraten mit der Zeit ein geschwächtes Geschlecht heranwächst, das dem Kampf mit der Krankheit weniger gewachsen ist, erscheint wahrscheinlich. Aber weit schlimmer ist es, dass bei dieser Art von Heiraten jede Rücksicht auf die Gesundheit beider Eheleute zurücktritt vor rein materiellen Gründen. Es ist gar nichts Neues hier, dass ein Mann, der seine Frau an der Phthisis verloren hat, die phthisische Schwester und nach deren Tod die dritte Schwester heiratet. […]
Schliesslich muss ich noch insofern das niedersächsische Bauernhaus angreifen, als in den meisten Fällen das Vieh und insbesondere die Kühe in gemeinsamen Räumen mit den Menschen leben, nämlich auf der grossen Diele. Es ist heute allgemein anerkannt, dass die sogenannte Perlsucht der Rinder mit der menschlichen Tuberkulose vollkommen identisch ist und auch hierfür der Tuberkelbacillus Koch als Krankheitserreger anzusehen ist. Untersuchungen von Bang, Hirschberger und anderen ergaben, dass die Milch von perlsüchtigen Kühen, auch ohne dass Euter-Tuberkulose besteht, im Stande ist, eine echte Tuberkulose beim Menschen zu erzeugen. Und die Perlsucht kommt weit öfter vor, als man denkt und bislang anzunehmen geneigt war, und der Procentsatz wird noch grösser sein, wenn die behördlichen Anordnungen in der Beziehung erst strenger sind oder wenigstens strenger gehandhabt werden. Da nun also für die Perlsucht auch der Tuberkelbacillus als Infectionserreger gilt, so fragt sich, wie derselbe in den tierischen Organismus hineingelangt, besonders wie die Erkrankung in einem Viehbestand auftritt. Es ist hier vielfach das gemeinsame Vorkommen von menschlicher und tierischer Tuberkulose in einem Haushalt beobachtet worden; das findet man viel häufiger als isolierte Perlsucht bei im Uebrigen gesunden häuslichen Verhältnissen. In letzterem Falle ist sie gewiss stets von aussen eingeschleppt worden durch Ankauf einer Kuh, die bereit perlsüchtig war, ohne gerade schon objective Zeichen dafür zu bieten. Die acquirirte Perlsucht bei einer bislang gesunden Kuh kann, glaube ich, besonders auf zweierlei Weise vorkommen. Einmal ist es möglich, dass die Infection durch die Menschen erfolgt, die täglich mit dem Vieh in Berührung kommen, nämlich durch Knechte und melkende Mägde. Da die Tuberkulose unter den Bewohnern hier so häufig ist, findet man demgemäss auch unter dem Dienstpersonal oft tuberkulös erkrankte Menschen. Diese sind in der Ejection ihrer sputa keineswegs vorsichtig, glauben vielleicht sogar es zu sein, wenn sie sich desselben in der Nähe des Viehs entledigen. Wie leicht es da vorkommen kann, dass sputum unter das Heu und anderes Futter gemischt wird, und von den Kühen in getrocknetem Zustand inhalirt oder sofort dem Digestionstractus einverleibt wird, liegt auf der Hand. Andererseits kann auch an den sehr oft laedirten und des schützenden Epithels beraubten Eutern durch sputum tragende Hände der tuberkulösen Milchmädchen Tuberkulose, echte Impftuberkulose, erzeugt werden. Mit der perlsüchtig erkrankten Kuh, von deren Krankheit dann oft nichts bekannt ist, ist aber wiederum eine grosse Gefahr für die Milch consumirenden Besitzer gegeben. Und besonders für die Kinder. Die Mütter sind hier nur verhältnismässig selten in der Lage, ihr Kind selbst zu stillen, ausschliesslich fast nie; einesteils aus sozialen Gründen: es mangelt ihnen an Zeit, weil sie selbst mit verdienen und einen grossen Teil des Tages auswärtig sein müssen; anderenteils weil durch die immerwährende anstrengende Thätigkeit die Milch nur spärlich in den Brüsten sich sammelt oder bald nach dem Wochenbett ganz versiegt. Dann wird als bester Ersatz die Kuhmilch herangezogen. Zum Teil aus Nachlässigkeit, meist aus Unwissenheit wird die Milch aber nicht gekocht, sondern oft nur bis zur Trink-Temperatur gewärmt. Wie leicht da Milch consumirt werden kann, die Tuberkelbacillen enthält, ist leider nur zu evident. Und die grosse Säuglingssterblichkeit insbesondere an tuberkulösen Darmaffectionen, die bis 25 % der Gesamtsterblichkeit beträgt, redet nur zu deutlich, um der Gefahr der Infection durch Milch nicht ernstlich widersprechen zu können.
Dass eine directe Infection von tuberkulösen Kühen auf die Menschen stattfinden kann dadurch, dass solche Kühe die Mägde belecken, oder durch Berührung mit tuberkulös afficirten Eutern, liegt desgleichen wohl im Bereich der Möglichkeit. Jedenfalls ist zuzugeben, dass durch die Isolierung des Viehs von den menschlichen Wohnungen in eigene Ställe und eine strengere Fernhaltung tuberkulös erkrankter Knechte und Mägde von denselben resp. genaue Innehaltung geeigneter Desinfectionsvorschriften der Gefahr der durch Milch acquirirten Darmtuberkulose wohl entgegen zu arbeiten wäre. –
Soll ich zum Schluss noch erwähnen die Brunnen, die oft geradezu inmitten von Düngerhaufen und Pfützen angelegt sind oder dicht an die Viehställe grenzen! Soll ich erwähnen, dass ein grosser Teil der Abfallwässer aus der Küche und die Dejectionen von Menschen und Vieh oft direct in unmittelbarer Nähe dieser Brunnen hinaus befördert werden! Doch das ist nichts speciell Eigentümliches für unsere Gegend, sondern findet sich auch überall dort, wo Armut, Nachlässigkeit und Unverstand Hand in Hand gehen, das zu thun, was möglichst wenig den Forderungen der Hygiene entspricht.
Ich glaube, zu der Schlussfolgerung berechtigt zu sein, dass unser niedersächsisches Bauernhaus fast in jeder Beziehung eine grosse Gefahr für seine Bewohner, Menschen und Vieh, bildet; dass es wohl an der Zeit ist, dass die Aufmerksamkeit und das Interesse der in Betracht kommenden Behörden sich diesem zwar historisch und culturell höchst interessanten aber durchaus ungesunden Wohnhaus in dem Maasse zuwendet, als ihnen daran liegen muss, ein gesundes und widerstandsfähiges Geschlecht erstehen zu sehen und zu erhalten. Die gesunde und menschenwürdige Wohnung ist die grundlegende Bedingung für das Wohl der Familie, für die leiblich wie geistig gesunde Erziehung des heranwachsenden jungen Geschlechts. […]“
Walbaums Dissertation ist mit Abbildungen versehen, für deren Entstehen er dem Apotheker von Roden aus Scheeßel dankt und dazu die Anmerkung macht:
„NB. In Wirklichkeit sieht alles viel weniger anziehend aus. Schmutz, Unordnung etc. sind leider nicht zu photographieren.“ (Walbaum 1897, S. 30)
(Die Faksimiles erhielten wir dankenswerterweise von der Universitätsbibliothek Jena 2006)
Das Promotionsverfahren
August Walbaums Dissertation wurde der „Löblichen Facultät“ der Universität Marburg vorgelegt, die ihrerseits Gutachten anforderte.
Hauptgutachter war der „Geheimrath“ Emil Behring, und in der Abbildung 8 findet sich das Faksimile des Gutachtens [2] . Es ist besonders in der heutigen Zeit bemerkenswert, mit welcher Ernsthaftigkeit der zweifelsohne vielbeschäftigte Wissenschaftler die Bitte um ein Gutachten beantwortet. Bereits zwei Tage (sic!) nach der Beauftragung sendet Emil Behring das Gutachten zurück [3] ([Abb. 8])
Emil von Behring, 1901 nobilitiert, erhielt in diesem Jahr als medizinischer Wissenschaftler den erstmals verliehenen Nobelpreis für „Physiologie oder Medizin“ (1901).
Somit konnte August Walbaum aus Scheeßel in Hannover sich rühmen, als Gutachter seiner Dissertation einen Nobelpreisträger gehabt zu haben. Dies können und konnten in der deutschen Medizingeschichte nur wenige Promovierte.
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Zweiter Teil : Biografische Notizen
Dr. August Walbaum (1868 – 1938), praktischer Arzt und Geburtshelfer in Scheeßel, und seine Familie
Inge Hansen-Schaberg und Karsten Müller-Scheeßel
Wilhelm Ludwig Hermann August Walbaum wurde am 24. April 1868 als einziger Sohn des Fabrikanten Justus Georg Heinrich August Walbaum (1827 – 1919) und seiner Ehefrau Hermine Dorothee Louise Charlotte Walbaum geborene Neander (1849 – 1935) in Burgdamm, Kreis Blumenthal, geboren und getauft[4]. Sein Großvater Dr. Hermann Neander war Arzt in Dorum, Ritterhude und Lesum. Dass er Jude war, wurde für seinen Enkel in der NS-Zeit belastend. August Walbaum nahm sich am 2. Januar 1938 das Leben. Der Suizid zog in der Nachkriegszeit eine Auseinandersetzung um Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen nach sich, die bis 1961 dauerte. Dokumentiert ist das in einer 179 Blatt starken Akte des Amts für Wiedergutmachung in Hamburg, die Fragen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit aufwirft.
Lebens- und Berufsgeschichte August Walbaums
Aus dem der Dissertation beigefügten Lebenslauf geht Folgendes hervor (Walbaum 1897, S. 31): Schulunterricht erhielt August Walbaum bis zum 14. Lebensjahr in der Rektorschule seines Heimatortes Burgdamm, danach besuchte er von 1882 bis 1888 das Gymnasium in Bremen. Nach dem Abitur ging Walbaum zunächst im April 1888 an die Universität Tübingen, um ein Theologie-Studium aufzunehmen und als einjährig Freiwilliger zu dienen. Im April 1891 entschloss sich Walbaum das Studienfach zu wechseln und schrieb sich, vielleicht beeinflusst durch seinen Großvater, in die Medizinische Fakultät in Marburg ein. Dort absolvierte er im Oktober 1892 die ärztliche Vorprüfung, er ging dann während des Sommersemesters 1894 nach München und danach nach Berlin, um im April 1895 nach Marburg zurückzukehren. Dort bestand Walbaum im Wintersemester 1895/96 die ärztliche Staatsprüfung und am 12. Mai 1896 das Examen Rigorosum. Die Publikation seiner Dissertation erfolgte im Juli 1897, offenbar finanziell durch die mütterliche Verwandtschaft in Russland unterstützt. Das wird zum einen an der Widmung deutlich: „Meiner lieben Tante, der Frau Wilhelmine Neander zu St. Petersburg, in dankbarer Verehrung gewidmet“ (Walbaum 1897, Vorblatt). Zum anderen ist belegt, dass die väterliche Fabrik „fallierte“ (Akte, Bl. 48).
Angeregt wurde die Dissertation August Walbaums zu dem Thema „Das niedersächsische Bauernhaus und seine Gefahren in gesundheitlicher Beziehung“ durch den Kgl. Kreisphysicus San.-Rat Dr. Dietrich Röhrs in Rotenburg in Hannover, der „ein ausgezeichneter Kenner der hygienischen Verhältnisse hiesiger Gegend ist“ (Walbaum 1897, S. 7). Hinzu kam die eigene Anschauung, denn er war, weil er seine Eltern unterstützen musste (Akte, Bl. 48), bereits als praktischer Arzt und Geburtshelfer zunächst vertretungsweise und dann in eigener Praxis ab 1897 in Scheeßel bei Rotenburg tätig. Ein Jahr später wurde er zum Kreisimpfarzt für die Gemeinden Fintel und Scheeßel ernannt (Rotenburger Anzeiger v. 24. Mai 1898), und 1903 zog er in das von ihm erbaute Haus an der Bremer Str. 7 in Scheeßel, in dem auch seine Praxis und zudem als zusätzliche Einnahmequelle ein Erholungsheim untergebracht waren.
Anhand der Hausliste für 1906 im Gemeindearchiv Scheeßel ist nachzuvollziehen, dass er dort mit seiner Ehefrau Emilie Martha Amalie geborene Pape (1876 – 1961), seinen Eltern und den 1903 und 1906 geborenen Kinder Kurt und Otto und mit einem Hausfräulein, einem Kutscher, einer Dienstmagd und einem Kindermädchen lebte. Der Hausherr war ein passionierter Geiger, die Hausfrau spielte Klavier und sang. Sie führten laut Gästebuch ein offenes Haus, in dem neben Familienangehörigen regelmäßig auch Sommergäste aus Hamburg und Bremen gern verweilten, auch wegen der Hauskonzerte. Allerdings müssen die Eheleute sich auseinandergelebt haben, denn 1916 fand die Scheidung statt. Bereits am 2. August des gleichen Jahres ging August Walbaum in Bremen eine zweite Ehe mit Meta Emma Meyer ein, aus der vier Kinder hervorgingen. Von Meta Walbaum stammen die Hinweise, dass er „wegen u. A. im Krieg 1914 nicht eingezogen“ wurde und ca. 1918 Bahnkassenarzt wurde (Akte, Bl. 48 R).
([Abb. 9])
Anlässlich seines 25. Jubiläums erscheint im Rotenburger Anzeiger eine Würdigung seiner Verdienste: „Am gestrigen Tage waren 25 Jahre verflossen, als Herr Dr. med. Walbaum hier seine ärztliche Praxis begann. Viele durften in dieser langen Zeit seinen ärztlichen Beistand erfahren und nicht nur als Arzt, sondern auch als Mensch haben ihn alle schätzen lernen“ (Rotenburger Anzeiger v. 3. Januar 1922). Seine durch weitere Zeitungsberichte belegte Teilnahme an Wohltätigkeitsveranstaltungen, an zahlreichen Konzerten und Chorveranstaltungen und bei der Gestaltung des Passionsgottesdienstes deuten auf eine sehr gute Integration in Scheeßel hin. Darauf geht auch Meta Walbaum in ihrer Erklärung vom 20. Mai 1959 ein, wenn sie zu Protokoll gibt, dass ihr Mann „41 Jahre lang in Scheeßel als Arzt ansässig und unter der Bevölkerung sehr beliebt war. Anfeindungen kamen ja nicht aus der Bevölkerung als solcher, sondern lediglich aus Parteikreisen.“ (Akte, Bl. 95) Zudem betont sie, dass im Ort im Allgemeinen nicht bekannt gewesen sei, „daß mein Mann jüdischer Abstammung war. Im übrigen hat man sich darum, insbesondere in Bauernkreisen, auch gar nicht gekümmert. Nur ganz Wenige werden diese Tatsache gekannt haben, denn bis 1933 hat sich niemand darum gekümmert.“ (Akte, Bl. 94)
Das Jahr 1933 bedeutete einen tiefen Einschnitt in das Leben August Walbaums, denn er hatte seine Ablehnung des Nationalsozialismus nicht verheimlicht und soll beispielsweise nie den Hitler-Gruß entboten haben. Vor allem aber musste er bei seinen beiden Söhnen aus der ersten Ehe in unterschiedlicher Weise erleben, welche persönlichen Folgen die NS-Zeit hatte. Der erstgeborene Sohn Kurt, der zum Holzbildhauer ausgebildet worden war, jedoch wegen Eigen- und Fremdgefährdung seit 1926 in der „Heil- und Pflegeanstalt Tannenhof“ lebte, wurde als „Erbkranker“ eingestuft. Auf Antrag des Anstaltsleiters wurde er „wegen Schizophrenie“ im Dezember 1934 zwangssterilisiert, nachdem die Beschwerde der Mutter zurückgewiesen worden war (Akte des Gesundheitsamtes Lüneburg). Der zweite Sohn, der Arzt Dr. Otto Walbaum, machte 1925 Abitur in Lüneburg, studierte in Göttingen und München, war Verbindungsstudent und wurde 1930 in Göttingen zum Dr. med. promoviert. Während der NS-Zeit war er von November 1933 bis Herbst 1937 Rottenführer der SA. Im Fragebogen der Military Government of Germany, den er am 23. September 1946 ausfüllte und unterschrieb, gibt er an, dass er aus rassischen Gründen – sein Urgroßvater sei nicht arisch gewesen – Nachteile erlitten habe: Nichtzulassung zum Amt für Volksgesundheit sowie Nichtverleihung eines Dienstgrades beim DRK. Im schriftlichen Entnazifizierungsverfahren des Hauptausschusses in Stade heißt es am 7. Juni 1949 schließlich: „Der Betroffene wird in die Gruppe der Entlasteten (Kat. V) eingestuft.“ (Entnazifizierungsakte)
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Meta Walbaum und die Auseinandersetzung um Entschädigungsansprüche
Grundlage für die Entschädigungszahlungen war Meta Walbaums wiederholt abgegebene Erklärung, dass ihrem Mann aus rassischen Gründen die Praxis genommen werden sollte und er keinen Ausweg mehr gesehen und sich deshalb das Leben genommen habe. Bescheinigt wurde der Suizid von dem Arzt Dr. H. Rotermund in Scheeßel am 27. Februar 1950 (Akte, Bl. 7). Nach dem Inkrafttreten des Bundesergänzungsgesetzes vom 18. September 1953 wandte sich die Hamburger Sozialbehörde an Meta Walbaum mit dem Hinweis, dass eine Änderung der Entschädigungszahlung zu ihrem Gunsten evtl. eintreten könnte, und empfahl ihr, einen Antrag auf Prüfung zu stellen (Akte, Bl. 33a). Sie nahm das Angebot an und erklärte am 12. Januar 1956 detailliert ihre persönliche und finanzielle Situation seit dem Tod ihres Mannes (Akte, Bl. 49): Sie habe das Grundstück und Haus in Scheeßel verkauft, ein neues Haus in Hamburg Volksdorf erbaut und eine monatliche Rente für sich und ihre Kinder in Höhe von 300 Reichsmark von der Ärztekammer erhalten. Diese Zahlungen seien 1944 plötzlich eingestellt worden, sodass sie sich habe verschulden und schließlich 1949 das Haus habe verkaufen müssen. Vom Juli 1949 ab habe sie eine Sonderhilfsrente und auch wieder Zahlungen von der Ärztekammer und ab März 1950 auf der Grundlage des Bundesentschädigungsgesetzes eine Kapitalentschädigung und eine Witwenrente erhalten.
Drei Jahre später, Anfang 1959, setzen umfangreiche Recherchen ein, ob August Walbaum tatsächlich durch „nationalsozialistische Drangsalierung“ (Akte, Bl. 2) in den Tod getrieben worden ist. Es ist aus der Akte nicht genau ersichtlich, wer den Anstoß zur Überprüfung gegeben hat, es scheint aber einen Hinweis aus der Bezirksregierung in Stade gegeben zu haben.
Am 20. Mai 1959 kommt es zur Verhandlung, in der Meta Walbaum umfangreiche Erklärungen abgibt, um den Nachweis zu führen, dass ihr Mann sich nicht aus gesundheitlichen Gründen getötet hat. Sie erwähnt, dass ihr Mann 1935 wegen eines Blasenleidens im Joseph-Stift in Bremen in stationärer Behandlung war, dass es jedoch keine Krebserkrankung gewesen sei und dass er sich 1937 für ca. drei Monate im Sanatorium Dr. Benning in Oberneuland, einer Nervenheilanstalt, aufgehalten habe, denn „er war mit den Nerven völlig herunter und hat sich in die Krankheit geflüchtet, da er infolge seiner Abstammung nicht wußte, wie es weiter gehen würde.“ (Akte, Bl. 94) Sie räumt zwar ein, dass ihr Mann in der Ausübung seines Berufs „keinerlei Beschränkungen“ unterlag, erzählt dann aber den folgenden Zwischenfall: „Ein Patient meines Mannes, namens E g g e r s, der Sattler war, […] sagte meinem Mann, daß es nunmehr soweit sei und daß die Juden ausgeschlossen werden würden. Eggers war Mitglied der SA oder irgendeiner anderen n.s. Organisation.“ (Akte, Bl. 95) Er habe ihrem Mann auch gesagt, „daß in Parteikreisen bekannt sei, daß mein Mann irgendwie jüdischer Abstammung sei. Woher diese Leute das wußten, ist mir nicht bekannt.“ (Akte, Bl. 95)
Meta Walbaum gibt auch zu Protokoll, dass sie 1938 versucht habe, den Selbstmord August Walbaums zu vertuschen: „Mein Mann hat vor seinem Tode mir öfters Andeutungen gemacht, daß er evtl. beabsichtige, aus dem Leben zu scheiden, um uns, d. h. mir und seinen Kindern, etwas zu retten. Ich mußte ihm für diesen Fall versprechen, mit niemandem darüber zu reden, und deshalb habe ich in der Todesanzeige auch von ‚langem Leiden‘ gesprochen.“ (Akte, Bl. 95)
Neben der Verhandlung finden weitere Überprüfungen statt. Dazu gehören Nachforschungen bei den Ärzten, bei denen August Walbaum damals in Behandlung gewesen ist, und bei der Ärztekammer und auch die Anfrage an das Landratsamt Rotenburg, ob „Unterlagen über die seinerzeitigen Vorgänge vorhanden sind“ (Akte, Bl. 93). Nach der Antwort vom 30. Mai 1959, weder im Landkreis noch in Scheeßel sei bekannt, dass Walbaum Jude gewesen sei und auf Grund von NS-Verfolgung aus dem Leben geschieden sei (Akte, Bl. 105), wendet sich die Hamburger Behörde an die Polizeistation Scheeßel. Sie bittet um die Befragung des Tischlerobermeisters S., Bürgermeister von 1933 bis 1945, sowie des Viehkaufmanns H., Ortsgruppenleiter der NSDAP von 1934 bis 1938. Das Ergebnis lässt sich erahnen: Beide, sagen übereinstimmend aus, dass sie von einer jüdischen Abstammung Walbaums nichts gewusst hätten, und auch in der NSDAP habe man nichts davon gewusst. Sie sprechen sich positiv über ihn als Arzt und Mensch aus; H. gibt zudem zu Protokoll, dass mit seinem früheren Nachbarn Skat gespielt und gekegelt habe (Akte, Bl. 116 /117).
Nachdem festgestellt wurde, dass der von Meta Walbaum erwähnte Sattlermeister Eggers nicht mehr lebt, schreibt die Behörde am 17. Juni und am 7. September 1959 an dessen Sohn, der am 18. September 1959 mitteilt, „dass mein Vater mit Dr. Walbaum ein gutes, freundschaftliches Verhältnis als Nachbar pflegte. Mein Vater war damals SA-Truppführer des Reitvereins Scheeßel und wird als guter Nachbar Dr. Walbaum gewarnt haben. Denn es war bekannt, dass Dr. Walbaum irgendwie jüdischer Abstammung sei. Ich habe in Scheeßel Erkundigungen eingezogen und man hat es mir heute noch bestätigt. Auch dass Dr. Walbaum aus rassischen Gründen den Freitod wählte, ist heute noch bekannt. Ich selbst war seit 1941 Soldat aber ich erinnere mich, dass Dr. Walbaum nicht aus gesundheitlichen – sondern aus rassischen Gründen freiwillig aus dem Leben schied.“ (Akte, Bl. 125)
Trotz dieser sehr eindeutigen Aussage, die die Verlautbarungen der beiden anderen Zeitzeugen als unwahr erscheinen lässt, und des Plädoyers des zuständigen Referenten gegen einen Widerrufsbescheid (Akte, Bl. 126 /127) spricht sich die Oberregierungsrätin klar für den Widerruf aus, mit der Begründung, dass Meta Walbaum vorsätzlich den Begriff „Halbjude“ verwendet habe, um einen für sie günstigen Bescheid zu erwirken (Akte, Bl. 128).
Was sich da im Jahr 1959 ereignete, ist der fast unglaubliche Versuch, Meta Walbaum als Lügnerin und Betrügerin darzustellen, die durch Falschaussagen Entschädigungsleistungen zu Unrecht erhalten hat und verpflichtet werden sollte, den Betrag von 81 782,06 DM an den Hamburger Senat zurückzuzahlen (Akte, Bl. 132). Das Amt für Wiedergutmachung hat keine Mühen gescheut und akribisch recherchieren lassen, ob der Tod August Walbaums tatsächlich auf Verfolgungsmaßnahmen zurückzuführen sei, und kommt zu dem Schluss: „Der Tod ist somit nicht auf Verfolgungsmaßnahmen zurückzuführen, da solche nicht gegen den Ehemann der Antragstellerin wegen seiner Rasse gerichtet waren.“ (Akte, Bl. 136). In dem Bescheid des Amtes für Wiedergutmachung, datiert auf den 7. Oktober 1959, der dann allerdings nicht verschickt, sondern behördlicherseits zurückgezogen wird, wird Meta Walbaum vorgehalten, 1. „daß sie zumindest fahrlässig durch unrichtige bezw. unvollständige Angaben eine Entscheidung zu ihrem Gunsten herbeigeführt hat, […] 2.) zumindest grob fahrlässig unrichtige bezw. irreführende Angaben über Grund und Höhe des Schadens“ gemacht hat (Akte, Bl. 133). Besonders frappierend ist die sprachliche Verirrung in dem Bescheid, in dem ihr vorgehalten wird, bewusst die Unwahrheit gesprochen zu haben, als sie ihren Mann als „Halbjude“ ausgegeben habe: „Der Ehemann der Antragstellerin war nicht ‚Halbjude‘, d. h. Mischling I. Grades im Sinne der Terminologie der sogenannten Nürnberger Rassengesetze. Er hatte vielmehr nur einen volljüdischen Großelternteil und war somit Mischling II. Grades.“ (Akte, Bl. 134) Zudem sei er „– noch dazu in privilegierter Mischehe lebend –“ keinerlei beruflichen Beschränkungen ausgesetzt gewesen (Akte, Bl. 135).
Auf der Rückseite des Widerrufsbescheids findet sich jedoch ein handschriftlicher Vermerk[5], dem zu entnehmen ist, dass es in dem Amt auch Menschen in verantwortlicher Position und mit Gerechtigkeitsempfinden gegeben hat: „Es bestand Einvernehmen, daß ein Widerruf nicht gerechtfertigt, schon gar nicht die Rückzahlungsanordnung. Der Antragstellerin kann nicht nachgewiesen werden, daß sie unrichtige Angaben auch nur grobfahrlässig gemacht hat. Nach den verschiedenen Zeugenaussagen ist die Möglichkeit, daß der Erbl. ‚Drangsalierungen‘ ausgesetzt gewesen ist, nicht auszuschließen.“ (Akte, Bl. 137 R.)
Schließlich endet die Überprüfung am 2. Februar 1961 in einem Vergleich: „Zur Abgeltung aller Ansprüche auf Entschädigung wegen Schadens im beruflichen Fortkommen, den der Erblasser Dr. August Walbaum erlitten hat“, werden 420,– DM plus Zinsen an Meta Walbaum gezahlt (Akte, Bl. 145), und die regulären Rentenzahlungen werden bis zu ihrem Tode am 5.11.1963, zuletzt 694,– DM mtl., fortgesetzt.
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1 Abb. 1–5: Originaltext der Abbildungslegenden aus der Dissertation von A. Walbaum. Foto-Dateien Universitätsbibliothek Jena.
2 Wir danken Dr. med. Dr. phil. Wolfgang Dörfler, Gyhum, für den Hinweis auf die Existenz des Gutachtens sowie auf die im biographischen Teil zitierten Akten im NLA Standort Hannover und NLA Standort Stade.
3 Wir danken Prof. Dr. med. Michael Amthor und Johanna Amthor, Bothel, sowie Dr. Robert Kropp, Fulda, dass sie das Gutachten, das in Kurrentschrift abgefasst ist, „übersetzt“ haben.
4 Wir danken Henrich Walbaum, Rotenburg (Wümme), Enkel von Dr. August Walbaum, für die familiengeschichtlichen Daten und Informationen.
5 Wir danken Prof. Dr. Jürgen Schlumbohm, Göttingen, für die Entzifferung des handschriftlichen Vermerks.
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Quellen zu Teil 2
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- 16 Akten des Gemeindearchivs in Scheeßel.
- 17 Akte des Gesundheitsamtes Lüneburg über die (Zwangs-)Sterilisation des Kurt Walbaum, Signatur: Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1077, NLA Standort Hannover.
- 18 Entnazifizierungsakte des Arztes Dr. Otto Walbaum, Signatur: Rep. 275 II Nr. 35662, NLA Standort Stade.
- 19 Walbaum A. Das niedersächsische Bauernhaus und seine Gefahren in gesundheitlicher Beziehung. Dissertation. Marburg: 1897
Korrespondenzadresse
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Literatur
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- 14 Abel L, El-Baghdadi J, Bousfiha AA et al. Human genetics of tuberculosis: a long and winding road. Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci 2014; 369 20130428
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Quellen zu Teil 2
- 15 Akte Meta Walbaum, Amt für Wiedergutmachung in Hamburg, Bestandsnummer: 351-111, Signatur: 14229, Staatsarchiv Hamburg.
- 16 Akten des Gemeindearchivs in Scheeßel.
- 17 Akte des Gesundheitsamtes Lüneburg über die (Zwangs-)Sterilisation des Kurt Walbaum, Signatur: Hann. 138 Lüneburg Acc. 102/88 Nr. 1077, NLA Standort Hannover.
- 18 Entnazifizierungsakte des Arztes Dr. Otto Walbaum, Signatur: Rep. 275 II Nr. 35662, NLA Standort Stade.
- 19 Walbaum A. Das niedersächsische Bauernhaus und seine Gefahren in gesundheitlicher Beziehung. Dissertation. Marburg: 1897