Aktuelle Urol 2016; 47(03): 184-185
DOI: 10.1055/s-0042-108620
Referiert und kommentiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Harnblasenkarzinom – Orthotope ileale Ersatzblase: Verbesserte Nierenfunktion durch T-Pouch?

Skinner EC et al.
J Urol 2015;
194: 433-440
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Publication History

Publication Date:
07 June 2016 (online)

 

Ob die Durchführung einer antirefluxiven Implantation der Ureteren im Rahmen einer radikalen Zystektomie mit ilealer orthotoper Neoblasenanlage bei Patienten mit Harnblasenkarzinom einen Einfluss auf die Nierenfunktion im langfristigen Verlauf besitzt, haben Eila C. Skinner und Kollegen in einer unizentrischen Studie untersucht.
J Urol 2015; 194: 433–440

mit Kommentar

Dazu wurden insgesamt 484 Patienten mit klinisch nicht metastasierten Harnblasenkarzinom über einen Zeitraum von knapp 8 Jahren im Rahmen eines 1:1 randomisierten Phase-III-Studiendesigns in jeweils 2 Gruppen verteilt. Die verwendeten Neoblasenformen waren die Neoblasenanlage nach Studer [ 1 ] und die sogenannte T-Pouch-Neoblase, welche in diesem Zentrum in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt und etabliert worden ist [ 2 ].

Als primärer Endpunkt der Studie wurde die Änderung der glomerulären Filtrationsrate (GFR) nach 3 Jahren gemessen mittels CKD-EPI-Gleichung festgelegt. Als sekundäre Endpunkte wurden folgende Parameter ausgewählt:

  • Früh- und Spätkomplikationen,

  • Rate an symptomatischen Harnwegsinfektionen,

  • jegliche Form an chirurgischen bzw. harnableitungsassoziierten Reinterventionen sowie

  • das krebsspezifische Überleben und

  • Gesamtüberleben.

Das chirurgisch-onkologische Ausmaß des Eingriffs in beiden Armen beinhaltete eine offene Zystektomie mit extendierter pelviner Lymphadenektomie. Während des oben genannten Zeitraums wurden die Eingriffe von jeweils einem von insgesamt 5 Operateuren vorgenommen, welche allesamt mit der Rekonstruktion beider Neoblasenformen operative Erfahrung vorweisen konnten. Die perioperative Betreuung der Patienten war in beiden Armen identisch, angepasst an das US-amerikanische System. Keiner der Patienten erhielt eine adjuvante Strahlentherapie.

Die funktionelle Nachsorge während des 3-jährigen Nachbeobachtungszeitraums bestand aus klinischen Visiten in der 3. postoperativen Woche, im 4.-6. Monat und jeweils einmalig im 1.-3. Jahr. Diese beinhalteten neben einer klinischen Untersuchung die Durchführung von Laboruntersuchungen, Urinkulturen, Zystogrammen und bildgebenden Verfahren mittels Ultraschall bzw. kontrastmittelangehobenen Schnittbildgebungen (Computertomografie bzw. Magnetresonanztomografie) des Abdomens und Beckens.

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Die Form der Neoblase war in der Arbeit von Skinner et al. nicht mit der glomerulären Filtrationsrate assoziiert. (Bild: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2012)

Bei der Berechnung der Fallzahl wurde im Intention-to-treat-Arm bezüglich des primären Endpunkts angenommen, dass bei Patienten mit antirefluxiven T-Pouch die Verminderung der Nierenfunktion um 15 % geringer ausfallen würde als bei Patienten mit Studer-Neoblase. Für die spätere statistisch valide Auswertung wurde der Einschluss von mindestens 210 Pa- tienten pro Behandlungsarm vorausgesetzt.

Insgesamt wurden in den Studer-Arm 247 Patienten und in den T-Pouch-Arm 237 Patienten randomisiert. Während des 3-jährigen Nachsorgezeitraums ereigneten sich im Kollektiv 124 Todesfälle (29 %). 39 Patienten konnten aus nicht bekannten Gründen nicht regelmäßig nachgesorgt werden. Die klinischen Basischarakteristika unterschieden sich zwischen beiden Gruppen nicht im Hinblick auf Alter, Geschlecht, präoperativer GFR, ASA-Score, klinischen und pathologischen Tumor- und Nodalstadium und der Rate an positiven Weichgewebsresektionsrändern. Ebenfalls war die Rate an Diabetes mellitus, Hypertonie und perioperativer Chemotherapie zwischen beiden Armen nicht signifikant unterschiedlich.

Art der Neoblase nicht mit Nierenfunktion assoziiert

Im Hinblick auf den primären Endpunkt zeigte sich in der Gruppe der Patienten mit T-Pouch ein Abfall der GFR um 6,6 ml / Minute/1.73 m2 Körperoberfläche (KÖF) und in der Gruppe der Patienten mit Studer-Pouch um 6.4 ml / Minute/1.73 m2 KÖF (p = 0,35). In der multivariaten Analyse waren lediglich die Ausgangs-GFR, das Vorhandensein einer Obstruktion des oberen Harntrakts und das Patientenalter signifikante Prädiktoren für das Ausmaß des Abfalls der GFR nach 3 Jahren. Die Form der Neoblase (T- vs. Studer-Neoblase) korrelierte nicht mit der Restnierenfunktion nach 3 Jahren (p = 0,63).


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Mehr Re-Interventionen aber verbessertes Gesamtüberleben bei T-Pouch

Im Hinblick auf die sekundären Endpunkte ergab sich kein signifikanter Unterschied für die Anzahl an Früh- und Spätkomplikationen (p = 0,13) und Harnwegsinfektionen (p = 0,83). Dagegen zeigte sich, dass die Rate an Re-Interventionen (34 vs. 23 %; p = 0,01) sowie neoblasenassoziierten Re-Interventionen (22 vs. 13 %; p < 0,01) nach 3 Jahren signifikant bei Patienten mit T-Pouch höher lag als bei Patienten mit Studer-Neoblase.

Hinsichtlich des Gesamtüberlebens zeigte sich überraschenderweise, dass die Anlage eines T-Pouches mit einem signifikant verbesserten Gesamtüberleben verbunden war (Hazard Ratio: 0,70; 95 %-Konfidenzintervall 0,50–0,99, p = 0,04).


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Kommentar

Kein Vergleich mit anderen Neoblasenformen

Das Ziel dieser Studie war es, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob eine antirefluxive Implantation der Ureteren in ein Neoblasereservoir langfristig zu einer verbesserten Nierenfunktion führt. Hierzu ist anzumerken, dass die untersuchten Neoblasenformen sich grundlegend in ihrer Rekonstruktion unterscheiden.

Der T-Pouch ist im Vergleich zur Studer-Neoblase eine technisch komplexere Form der Neoblasenkonstruktion [ 3 ], was sich möglicherweise auch in den erhöhten Raten an neoblasenassoziierten Komplikationen in dieser Studie widerspiegelt. Zudem kommt der T-Pouch im Vergleich zur Studer-Neoblase als kontinente orthotope Harnableitungsform wesentlich seltener in der Urologie zum Einsatz [ 3 ].

Hohe Refluxraten beim T-Pouch

In der Erstpublikation zu den Langzeitergebnissen des T-Pouch aus dem Jahr 2004 wurde über eine im Vergleich zu anderen Neoblasenformen deutlich höhere Rate an Harnleiterstrikturen und Reflux (jeweils 10 %) berichtet im Vergleich zu Neoblasenformen mit antirefluxiver Harnleiterimplantation wie dem Mansoura (jeweils 3,8 %/3,0 %) [ 4 ] oder I-Pouch (2.1 %/1,0 %) [ 5 ]. Daher muss an dieser Stelle die Frage gestellt werden, ob die T-Pouch-Neoblase tatsächlich repräsentativ für die im langfristigen Verlauf zu erwarteten Komplikationen von Neoblasen mit antirefluxiver Implantationstechnik der Ureteren ist.

Weiterführend ist auch die Frage zu stellen, inwieweit die Studer-Neoblase als Referenztechnik für eine „antirefluxive“ Neoblase gelten kann, da der afferente ileale Schenkel einen antirefluxiven Schutzmechanismus an sich darstellt. Daher wäre zu überlegen, ob der Vergleich mit einer Neoblasenrekonstruktion ohne Refluxschutz [ 1 ] vor dem Hintergrund des primären Endpunkts zur Beantwortung der Frage aussagekräftiger wäre.

Die Konzeption der vorliegenden Studie nahm an, dass nach 3 Jahren ein 15 %iger Unterschied in der Änderung der GFR zugunsten des T-Pouches bestehen würde. Dieser methodische Ansatz muss daher vor dem Hintergrund der publizierten Raten an Komplikationen kritisch hinterfragt werden. Alternativ dazu wäre zu überlegen, ob ein Vergleich mit anderen Neoblasenformen, wie dem Mansoura- oder I-Pouch, welche einen subserösen Tunnel zur antirefluxiven Implantation der Ureteren verwenden [ 5 ], [ 6 ] und geringere Raten an Harnleiterstrikturen und Refluxereignissen berichtet haben, die Fragestellung dieser Studie adäquater hätte beantworten können.

Ob der beobachtete Unterschied im Gesamtüberleben zugunsten des T-Pouches auf klinische Ursachen oder statistisch-methodischen Limitationen zurückführen ist, kann aus den Studienergebnissen selbst ebenso nicht beantwortet werden und bedarf weiterer Nachbeobachtung des Studienkollektivs im langfristigen Verlauf. Der Umstand, dass gängige Neoblasenformen mit subseröser Tunnelierung der Ureteren aus lediglich 40 cm Ileum (im Gegensatz zum Studer- und T-Pouch) rekonstruiert werden [ 4 ], [ 5 ], erhebt auch die Frage nach möglichen funktionellen Unterschieden bezüglich postoperativer Lebensqualität und Darmtätigkeit [ 6 ].

Fazit

Aus den Ergebnissen dieser Studie kann für die derzeitige gängige Praxis daher lediglich abgeleitet werden, dass eine antirefluxive Implantation der Ureteren mittels afferenten tunneliertem Ileumsegment nicht zwangsläufig in einer verbesserten langfristigen Nierenfunktion resultiert. Es bleibt die Frage offen, ob für bestimmte Subgruppen, wie beispielsweise für Patienten mit anamnestisch rezidivierenden Infektionen des oberen Harntraktes oder refluxbedingter Nephropathie, eine tunnelierte antirefluxive Implantationstechnik der Ureteren bei einer Neoblase zu favorisieren wäre. Es erscheint wichtig, dass das Armamentarium von operativ tätigen Urologen möglichst unterschiedliche individuell adaptierte Neoblasentechniken beinhaltet.

PD Dr. Georgios Gakis,
Prof. Dr. Arnulf Stenzl, Tübingen


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PD Dr. Georgios Gakis


ist Oberarzt an der Klinik für Urologie am Universitätsklinikum Tübingen

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Prof. Dr. Arnulf Stenzl


ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Urologie am Universitätsklinikum Tübingen

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  • 1 Hautmann RE, Volkmer BC, Schumacher MC et al. Long-term results of standard procedures in urology: the ileal neobladder. World J Urol 2006; 24: 305-314
  • 2 Stein JP, Dunn MD, Quek ML et al. The orthotopic T pouch ileal neobladder: experience with 209 patients. J Urol 2004; 172: 584-587
  • 3 Hautmann RE, Abol-Enein H, Davidsson T et al. ICUD-EAU International Consultation on Bladder Cancer 2012: Urinary diversion. Eur Urol 2013; 63: 67-80
  • 4 Abol-Enein H, Ghoneim MA. Functional results of orthotopic ileal neobladder with serous-lined extramural ureteral reimplantation: experience with 450 patients. J Urol 2001; 165: 1427-1432
  • 5 Gakis G, Abdelhafez MF, Stenzl A. The „I-Pouch“: Results of a new ileal neobladder technique. Scand J Urol 2015; 49: 400-406
  • 6 Mischinger J, Abdelhafez MF, Todenhofer T et al. Quality of life outcomes after radical cystectomy: long-term standardized assessment of Studer Pouch versus I-Pouch. World J Urol 2015; 33: 1381-1387

  • 1 Hautmann RE, Volkmer BC, Schumacher MC et al. Long-term results of standard procedures in urology: the ileal neobladder. World J Urol 2006; 24: 305-314
  • 2 Stein JP, Dunn MD, Quek ML et al. The orthotopic T pouch ileal neobladder: experience with 209 patients. J Urol 2004; 172: 584-587
  • 3 Hautmann RE, Abol-Enein H, Davidsson T et al. ICUD-EAU International Consultation on Bladder Cancer 2012: Urinary diversion. Eur Urol 2013; 63: 67-80
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  • 5 Gakis G, Abdelhafez MF, Stenzl A. The „I-Pouch“: Results of a new ileal neobladder technique. Scand J Urol 2015; 49: 400-406
  • 6 Mischinger J, Abdelhafez MF, Todenhofer T et al. Quality of life outcomes after radical cystectomy: long-term standardized assessment of Studer Pouch versus I-Pouch. World J Urol 2015; 33: 1381-1387

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Die Form der Neoblase war in der Arbeit von Skinner et al. nicht mit der glomerulären Filtrationsrate assoziiert. (Bild: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Innere Organe. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2012)