Flugmedizin · Tropenmedizin · Reisemedizin - FTR 2016; 23(03): 109
DOI: 10.1055/s-0042-108963
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Hohe Mortalität in tropischen Regionen auf mehreren Kontinenten – Chronische Nierenerkrankungen unbekannter Ursache

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Publikationsdatum:
23. Juni 2016 (online)

 

    Es ist bekannt, dass in den Industriestaaten die Zahl der Patienten mit chronischem Nierenversagen seit einigen Jahren deutlich steigt und dieses Problem in Zukunft wohl noch drängender werden wird – zum einen liegt dies am demografischen Wandel (chronische Nierenkrankheiten treten zunehmend mit steigendem Alter auf), zum anderen sind die Zivilisationskrankheiten Diabetes und Bluthochdruck die wichtigsten Risikofaktoren für chronisches Nierenversagen in Europa und Nordamerika.

    Kaum wahrgenommen wird hierzulande jedoch, dass chronisches Nierenversagen auch für die arme Landbevölkerung der Tropen zunehmend ein existenzielles Problem darstellt. Betroffen sind lokal scharf begrenzte Regionen (nie ganze Länder) auf verschiedenen Kontinenten: In Amerika sind es vor allem Nicaragua und El Salvador, aber auch Costa Rica und Mexiko, in Asien Sri Lanka und – in geringerem Maße – auch Indien und Pakistan. Und auch aus Ägypten gibt es einzelne Meldungen über eine Zunahme ungeklärter Nierenerkrankungen.

    Gleiche Ursachen in verschiedenen Ländern möglich

    Da hier die klassischen Risikofaktoren wie Diabetes, Bluthochdruck oder Glomerulonephritis keine wesentliche Rolle spielen, wurde das Phänomen unter der Bezeichnung „chronische Nierenerkrankung unbekannter Ursache“ („chronic kidney disease of unknown etiology“, CKDu) zusammengefasst.

    Noch ist nicht sicher, dass die Erkrankungen in all diesen Ländern tatsächlich auf dieselben Ursachen zurückzuführen sind. Es gibt jedoch zahlreiche Gemeinsamkeiten, die dies nahe legen: So sind es überall (möglicherweise mit Ausnahme Indiens) Männer, die am stärksten betroffen sind. Hauptsächlich handelt es sich um arme, eher junge und ungebildete Feldarbeiter, die in heißem Klima tagtäglich schwere körperliche Arbeit verrichten. Die Krankheit trat überall erst nach Beginn der 1990er Jahre auf und in allen betroffenen Gebieten wird Grundwasser zum Trinken genutzt und intensiver Gebrauch von Pestiziden gemacht. Die medizinische Versorgung ist meist rudimentär.


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    Hohe Mortalität durch ungenügende medizinische Versorgung

    Die langsam voranschreitende Nierenerkrankung wird meist erst im Endstadium entdeckt, wenn bereits eine Dialyse oder Nierentransplantation nötig ist – Behandlungen, die für die Betroffenen oft unerschwinglich sind.

    Es wird geschätzt, dass allein in Sri Lanka in den vergangenen Jahren mehr als 20 000 Menschen, hauptsächlich Reisbauern, an den Folgen der Krankheit starben. In Nicaragua und El Salvador gab es im letzten Jahrzehnt vermutlich mehr als 24 000 Todesopfer, hier hauptsächlich Arbeiter der Zuckerrohrfelder. In einigen Regionen ist die Mortalität so hoch, dass die Landstriche „Land der Witwen“ genannt werden. In der nicaraguanischen Gemeinde Chichigalpa etwa wurden in den letzten 10 Jahren 46 % der Todesfälle unter Männern durch CKDu verursacht.


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    Vermutlich verursachen mehrere Faktoren die Nierenschäden

    Die betroffene Bevölkerung ist sich meist sicher, dass die Ursache für die Erkrankung in ihrer Arbeit liegt, oft werden Pestizide verdächtigt. Die Wissenschaftler streiten jedoch noch um die tatsächlichen Ursachen. Als wichtigster Verdächtiger wird vor allem in Mittelamerika die tägliche Dehydratation während der schweren Arbeit in heißem Klima genannt. Verstärkt möglicherweise noch durch Rauchen, nicht steroidale Entzündungshemmer (NSAID, unter den Betroffenen weit verbreitet aufgrund der extremen Arbeitsbelastung), die übermäßige Einnahme von Fruktose durch in der Region beliebte, gezuckerte Softdrinks oder das Kauen von Zuckerrohr könnte diese Dehydratation langfristig zu Nierenschäden führen.

    Dass die Krankheit erst seit den 1990er Jahren beobachtet wird, wird teilweise mit dem Klimawandel erklärt. Es bleibt jedoch offen, warum in einigen, noch heißeren, benachbarten Regionen keine Fälle auftreten und warum – wenn auch in geringerem Ausmaß – Menschen erkranken, die nicht auf den Feldern arbeiten; selbst bei Kindern und Jugendlichen konnte in den betroffenen Regionen eine erhöhte Prävalenz von Nierenerkrankungen nachgewiesen werden.

    Zum Teil könnte dies durch genetische Prädisposition erklärt werden. Es könnte aber auch für eine allgemeine Vergiftung der Bevölkerung sprechen, etwa durch Metalle aus dem Trinkwasser oder Agrochemie. Bisher konnten bei den Betroffenen jedoch noch keine Toxine in Mengen nachgewiesen werden, die über den zulässigen Werten liegen. Allerdings wurde in Sri Lanka ein Zusammenhang zwischen der Kadmiumexkretion im Urin und der Krankheitshäufigkeit und -schwere bei CKDu-Patienten nachgewiesen.

    Darauf stützt sich eine Theorie aus Sri Lanka, derzufolge hartes Wasser (geprägt durch einen hohen Anteil an Kadmium und anderen nephrotoxischen Metallen) in Verbindung mit der Agrochemikalie Glyphosat zur Bildung von Komplexen führt, die die Nieren zerstören. Diese Theorie würde das Auftreten der Erkrankung in den 1990er Jahren erklären (etwa 15 Jahre – also einer Zeit, in der sich genügend Gift akkumulieren konnte – nachdem begonnen wurde, Glyphosat großflächig in Sri Lanka einzusetzen). Außerdem entspricht das Endemiegebiet der Krankheit in Sri Lanka genau den Regionen, in denen hartes Trinkwasser genutzt wird. Einzig im äußersten Norden des Landes ist das Wasser hart, ohne das hier CKDu-Fälle bekannt wären – genau in diesem Gebiet wurde jedoch auch während des jahrzehntelangen Bürgerkriegs kaum Glyphosat eingesetzt.

    Der Haken an der Theorie: Warum sterben dann fast nur die Männer an CKDu? Möglicherweise ist es, wie ein Forschungsteam der Boston Universität vermutet: Die Menschen werden durch Gifte – welcher Art auch immer – angreifbar gemacht, für einen wirklichen Ausbruch der Krankheit ist aber ein „zweiter Schlag“ nötig, wie etwa die harte Arbeit der Männer mit täglichem hohen Flüssigkeitsverlust.

    Dipl. Biol. Unn Klare
    Quelle: promed


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