Gesundheitswesen 2016; 78(06): 357-358
DOI: 10.1055/s-0042-109289
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Propaganda, Nudging, Information

M. Wildner
Further Information

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

Publication History

Publication Date:
17 June 2016 (online)

 

Zoom Image
Prof. Dr. med. Manfred Wildner

„Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. […] Sie beeinflussen unsere Meinungen, unseren Geschmack, unsere Gedanken.


#

[…] Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich.“ Mit diesen zugegebenermaßen etwas verstörenden Gedanken leitet Edward Bernays sein Buch Propaganda aus dem Jahre 1928 ein [1]. Sigmund Freud hatte vermutlich Freude an seinem in die USA ausgewanderten Neffen – findet sich doch hier eine Übertragung des „Unbewussten“ aus der Individualpsychologie in die kollektive Sphäre. Der Begriff Propaganda (lat. propagare, ausbreiten) entstammt der 1622 von Papst Gregor XV ins Leben gerufenen „Sacra Congregatio de Propaganda Fide“, die heutige Kongregation für die Evangelisierung der Völker. Er wird seit der Französischen Revolution auch für die Verbreitung weltlicher politischer Ideen verwendet. Im 20. Jahrhundert wurde Propaganda dann auch in großem Stil als Instrument der psychologischen Kriegsführung eingesetzt – das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Edward Bernays praktische Erfahrungen stammten aus der amerikanischen Seite der Kriegspropaganda. Wegen seiner in Friedenszeiten negativen Besetzung wandelte er den Begriff rasch in die noch heute gebräuchliche Bezeichnung „Public Relations“ um – und stellte sie neben der amerikanischen Regierung verschiedensten Industriezweigen einschließlich der Tabak-Industrie zur Verfügung.

Ein Thema für das Gesundheitswesen? Dass moderne Gesellschaften Wissensgesellschaften sind und dass unsere Lebenserwartung wie auch unsere Erwartungen an das Leben, gesellschaftlich wie individuell, ganz wesentlich von diesem schwerelosen Rohstoff „Wissen“ abhängen, sei hier noch einmal ins Bewusstsein gerufen. Dass dieses Wissen auch eine Verpflichtung zur Verantwortlichkeit und Achtsamkeit mit sich bringt, wurde in modernen Gesellschaften mit Kernbegriffen wie dem „Prinzip Verantwortung“ oder dem der „Risikogesellschaft“ festgehalten [2] [3].

Gesellschaftliche Organisation ist Kommunikation (Niklas Luhmann), in den demokratisch verfassten Gesellschaften wie auch in Diktaturen Orwellscher Prägung. Wie diese Kommunikation aussehen kann? Sie kann die Form von Zeitungskolumnen und sachlichen Berichten haben, sie erreicht uns als Vorabendserien, Komödien und Thrillern auf verschiedensten Bildschirmen, sie zeigt sich in Gesetzestexten, Regularien und Verordnungen. Sie findet auch im Gesundheitsbereich Ausdrucksformen: als wissenschaftliche Artikel, massenmedial als Darstellungen für die breitere Öffentlichkeit, in Form der Gesundheitsberichterstattung als Information insbesondere für die gesellschaftlichen Entscheidungsträger und nicht zuletzt auch als öffentliche Gesundheitskampagnen zur gesundheitlichen Aufklärung. Diese letztgenannte Option weist in manchen Punkten eine Nähe zur Propaganda früherer Zeiten auf – auch hier unter gewandelten Bezeichnungen wie eben Medienkampagne oder Social Marketing.

Nicht übersehen werden dürfen die Effekte, die von kommunikativen Ansätzen gar nicht primär mit dem Ziel einer Verbesserung der Gesundheit ausgehen, sondern von ihren Urhebern billigend in Kauf genommen werden. Auch wenn einzelne solcher Effekte die Gesundheit fördern können, wie bspw. der Zugang zu gesundheitsrelevanten Informationen über Smartphones oder die Bewerbung der Mittelmeer-Diät bei Urlaubsreisen, so sind auch der Gesundheit abträgliche Nebeneffekte wirtschaftlicher Aktivitäten zu beobachten. Neben die bekannten sozialen Determinanten der Gesundheit werden inzwischen auch die Corporate Determinants of Health gestellt [4] [5]. Darunter sind die gesundheitlichen Auswirkungen der Geschäftsaktivitäten insbesondere großer, häufig multinational agierender Firmen zu verstehen. Während ökologisch ausgerichtete „grüne“ Unternehmen einen dreifachen Zielhorizont – die Menschen, die ökologische Gesundheit und den wirtschaftlichen Profit – entwickelt haben und mit bürgerschaftlicher Verantwortung verbinden, treten auch andere Akteure auf. Produkte wie Tabak und Alkohol, Nahrungsmittel mit niedrigem Nährwert und hohem Kaloriengehalt, elektronische Spiele wie Egoshooter und selbstverständlich auch Waffen haben hohes gesundheitliches Schädigungspotential. Die Einflüsse solcher Industriezweige umfassen neben den direkten Auswirkungen ihrer Produkte vielfach auch eine gezielte gesellschaftlich wirksame Lobby- und Medienarbeit im Sinne von Bernays‘ Propaganda – pardon, Public Relations.

Ist hier ein moralisches Urteil angebracht? Die Antwort darauf sei dem Leser überlassen. In einer nüchternen gesellschaftlichen Betrachtungsweise ist zu konstatieren, dass vielfach Produkte erzeugt und in Umlauf gebracht werden, deren wahre gesellschaftlichen Kosten externalisiert und bspw. auf den Verbraucher, seine Angehörigen oder dessen Krankenversicherung abgewälzt werden. Derartiges Wirtschaften ist der allgemeinen Wohlfahrt abträglich. Insoweit hier nicht auf die regulierenden Kräfte eines freien Marktes vertraut werden kann – und ein Marktversagen ist nach Jahrzehnten für diese Wirtschaftsbereiche naheliegend – sind gesellschaftliche bzw. staatliche Maßnahmen angezeigt. Es ist zu bedauern, dass das Image vieler gesellschaftlicher Institution der öffentlichen Verwaltung selbst einer Aufbesserung im Sinne von Public Relations bedürfte, an der Notwendigkeit eines gesamtgesellschaftlich verantworteten Handelns ändert diese kleine Paradoxie nichts.

Wie dieses Handeln aussehen könnte? Es existiert ein ganzes Spektrum an Handlungsoptionen, welches von „harten“ Steuerungsressourcen des Vollzugs bis zu „weichen“ Steuerungsressourcen im Sinne staatlicher Governance reicht. Beispiele dafür sind zurückgenommenes Beobachten und Berichten, gezielte Information, die Bewerbung gesundheitsförderlicher Handlungsoptionen und der Tadel an gesundheitsschädlichen Alternativen, das gezielte Setzen von Anreizen z. B. über Bonus- bzw. Maluszahlungen, die Selbstverpflichtung der beteiligten Akteure und auch staatliche Regulierung verbunden mit Kontroll- und Zwangsmaßnahmen. Kennzeichnend für einen Rechtsstaat sind immer auch verfügbare Rechtsmittel zum Einspruch, gerade bei staatlichen Zwangsmaßnahmen.

Doch gibt es nicht auch aus der Wirtschaftswelt etwas zu lernen? Ein innovativer Ansatz der Verhaltenssteuerung im Dienst des wohlbekannten „making healthy choices easy choices“ ist das Nudging [6]. Dieser Ansatz des wohlmeinenden, sanften und anhaltenden quasi elterlichen Stupsens entstammt der Verhaltensökonomik. Im Wissen um die nur begrenzte Rationalität menschlicher Entscheidungen, die häufig durch den Kontext der Entscheidungsarchitektur stark beeinflusst werden, will dieser libertär-paternalistische Ansatz den Entscheidungskontext zugunsten solcher Entscheidungen beeinflussen, die das Gemeinwohl vergrößern – und dazu ist die Gesundheit zu zählen. Beispiele dafür sind die angebotenen Produkte in Schulkiosken und Betriebskantinen ebenso wie ihre Platzierung mit Bezug zur Griffhöhe und Sichtbarkeit. Dieser Ansatz wurde von staatlicher Seite in den USA (social and behavioral sciences initiative), Großbritannien (behavioral insights team) und in Deutschland aufgegriffen [7].

Nur Zuckerbrot statt Peitsche [8]? Thaler und Sunstein wiesen im Zusammenhang mit ihrem Nudging-Ansatz auf das Gebot der Transparenz und die immer einzuräumende Möglichkeit zur freien (Gegen-)Entscheidung hin. Dieser in einer freiheitlichen und demokratischen Verfassung unverzichtbare Bestandteil des Nudging-Prinzips führt zu einer weiteren, für die breitere Akzeptanz von Nudging-Ansätzen absehbar hilfreichen gesellschaftlichen Innovation: gemeint ist die Health Literacy Bewegung. Gesundheitsinformationen müssen gefunden, verstanden, diskutiert und beurteilt und ggf. auch angewendet werden, in ihrer Anwendung reflektiert, neu beurteilt und ggf. abgewandelt werden [9]. Hier schließt sich der Kreis wieder mit einem Rückgriff auf sein nur scheinbar schwächstes Glied: die Verfügbarkeit valider, transparenter und relevanter Information.

Dazu will auch dieses Heft wieder Beiträge liefern: Themen sind der interaktive Wissenstransfer in der Gesundheitsförderung, verhaltensorientierte Bewegungsangebot in strukturierten Behandlungsprogrammen bei Diabetes mellitus, die Patientenbeteiligung an der Nationalen Versorgungsleitlinie chronische Herzinsuffizienz, die Tabak- und Alkohol-assoziierte Mortalität, der Lebensstandardansatz zur Bestimmung relativer Armut, die Inanspruchnahme von Kuren im europäischen Ausland, die Vertragsbedingungen für Ärztinnen und Ärzte in der allgemeinmedizinischen Weiterbildung, eine europäische Bestandaufnahme der Ausbildung in Gesundheitsfachberufen und geschlechtsspezifisches Wissen in der medizinischen Lehre.

Um noch einmal auf das anfangs aufgeführte Zitat Bernays‘ zurückzukommen: verstörend sind derartige Ansätze, seien sie Propaganda, Public Relations oder libertär-paternalistisches Nudging vor allem dann, wenn sie im geheimen durchgeführt werden, durch eine doppelte Agenda überdeckt sind oder von der allgemeinen Wohlfahrt abweichen. Derartige Prozesse auf der kollektiven Ebene der Bevölkerungsgesundheit lassen sich durchaus mit dem individuellen Krankheitsgeschehen der Neurosen vergleichen, denen sich Edward Bernays Onkel Sigmund Freud gewidmet hat. Dessen Ansatz der Psychoanalyse berücksichtigt das krankmachende Potenzial unbewusster Vorgänge und setzt therapeutisch auf ihre Aufdeckung und Aufarbeitung in analytischen Gesprächen. Auch wenn der analytische Ansatz aus heutiger Sicht in vieler Hinsicht unzureichend ist, lässt er doch eine Analogie zur Propaganda zu, deren Wirkung ebenfalls im – diesmal kollektiven – Unbewussten anzusiedeln ist. Ein therapeutisches Heben der versteckten Stimmen in das gesellschaftliche Bewusstsein und eine offene und öffentliche kritische Diskussion dürfte im allgemeinen gesundheitlichen Interesse liegen. Moderne staatliche Governance ist eben nicht durch geheimen wohlwollenden (oder auch nicht so wohlwollenden) Paternalismus geprägt, sondern durch Transparenz, Rechenschaftspflichtigkeit, Möglichkeit zur partizipativen Mitgestaltung, Integrität und die Kapazität und Kompetenz zu demokratisch gestalteter Politikentwicklung [10].


#
  • Literatur

  • 1 Bernays E. Propaganda. Die Kunst der Public Relations. Orange Press; Freiburg: 2007. (Engl.: Propaganda. Horace Liveright, New York 1928)
  • 2 Jonas H. Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp; Frankfurt am Main: 1979
  • 3 Beck U. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp; Frankfurt am Main: 1986
  • 4 Marmot M et al. The Commission on Social Determinants of Health – what, why and how?. http://www.who.int/social_determinants/thecommission/finalreport/about_csdh/en/ download am 10.05.2016
  • 5 Miller JS. The corporate determinants of health: how big business affects our health, and the need for government action!. Canadian Journal of Public Health 2013; 104: E327-E329
  • 6 Thaler RH, Sunstein CR. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness. Yale University Press; New Haven: 2008. (dt. Ausgabe Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Ullstein Verlag, Berlin 2009)
  • 7 Dams J., Ettel A., Greive M et al. Merkel will die Deutschen durch nudging erziehen. Welt.de, 12.03.2015
  • 8 Kuhn J.. Nudging: Zuckerbrot statt Peitsche?. 23.05.2015 URL http://scienceblogs.de/gesundheits-check/2015/05/23/nudging-zuckerbrot-statt-peitsche/ download 27.05.2016
  • 9 Sorensen K, Pelikan J et al. für das European Health Literacy Consortium. Health Literacy in Europe: comperative results of the European health literacy survey (HLS-EU). European Journal of Public Health 2015; PMID 25843827
  • 10 Greer SL, Wismar M, Figueras J. Strengthening Health System Governance: better policies stronger performance. Open University Press 2015;

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. med. Manfred Wildner
Bayerisches Landesamt für
Gesundheit und Lebensmittelsicherheit
Veterinärstraße 2
85764 Oberschleißheim

  • Literatur

  • 1 Bernays E. Propaganda. Die Kunst der Public Relations. Orange Press; Freiburg: 2007. (Engl.: Propaganda. Horace Liveright, New York 1928)
  • 2 Jonas H. Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Suhrkamp; Frankfurt am Main: 1979
  • 3 Beck U. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp; Frankfurt am Main: 1986
  • 4 Marmot M et al. The Commission on Social Determinants of Health – what, why and how?. http://www.who.int/social_determinants/thecommission/finalreport/about_csdh/en/ download am 10.05.2016
  • 5 Miller JS. The corporate determinants of health: how big business affects our health, and the need for government action!. Canadian Journal of Public Health 2013; 104: E327-E329
  • 6 Thaler RH, Sunstein CR. Improving Decisions about Health, Wealth and Happiness. Yale University Press; New Haven: 2008. (dt. Ausgabe Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt. Ullstein Verlag, Berlin 2009)
  • 7 Dams J., Ettel A., Greive M et al. Merkel will die Deutschen durch nudging erziehen. Welt.de, 12.03.2015
  • 8 Kuhn J.. Nudging: Zuckerbrot statt Peitsche?. 23.05.2015 URL http://scienceblogs.de/gesundheits-check/2015/05/23/nudging-zuckerbrot-statt-peitsche/ download 27.05.2016
  • 9 Sorensen K, Pelikan J et al. für das European Health Literacy Consortium. Health Literacy in Europe: comperative results of the European health literacy survey (HLS-EU). European Journal of Public Health 2015; PMID 25843827
  • 10 Greer SL, Wismar M, Figueras J. Strengthening Health System Governance: better policies stronger performance. Open University Press 2015;

Zoom Image
Prof. Dr. med. Manfred Wildner