Anamnese
Die 54-jährige Patientin weist eine 35-jährige Anamnese mit Migräne auf. In der Woche vor Aufnahme kam es aufgrund einer Exazerbation mit einem 4 Tage währenden Anfall zu einer 13-tägigen vollstationären Behandlung in einer Spezialabteilung für Naturheilkunde. Zuvor waren etwa 2 Anfälle pro Monat aufgetreten bzw. insgesamt etwa 30 im vergangenen Jahr [Abb. 1]. Eine Migräne-Prophylaxe bestand zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Patientin kupiert die Anfälle mit Sumatriptan, das gut wirkt.
Streng linksseitige Migräneattacken mit Aura, visuellen Sehstörungen und Schwindel, Übelkeit, teilweise Erbrechen sowie Licht- und Geruchempfindlichkeit bestanden seit dem 19. Lebensjahr. Der Schmerzcharakter wechselte von dumpf pochend bis zu scharf schneidend und stechend. Es waren keine Zusammenhänge zur Menstruation erkennbar.
Unkonventionelle Therapieversuche ohne Erfolg
Anfangs hatte sie zur Schmerzbekämpfung Acetylsalicylsäure sowie Ibuprofen eingesetzt, konnte damit aber nur die Spitze der Attacken kupieren. Die Anfälle dauerten bis 48 Stunden, währenddessen die Patientin nicht arbeitsfähig war und sich in einem verdunkelten Raum halbsitzend aufhielt. Später konnte sie die Anfälle mit Sumatriptan besser kupieren. In ihrer langjährigen Anamnese hatte die frühere Zahnarzthelferin und jetzige Heilpraktikerin bereits eine Reihe von unkonventionellen Therapien unternommen, darunter Akupunktur, Rolfing, Shiatsu, Ernährungsumstellung, Homöopathie, Familienaufstellung sowie mikrobiologische Therapie, die jeweils allenfalls minimale Verbesserungen erbracht hatten und nicht über einen längeren Zeitraum eingesetzt wurden.
Erster stationärer Aufenthalt
Die Patientin hatte bereits knapp 13 Monate zuvor eine damals aus verschiedenen Gründen auf 8 Tage beschränkte vollstationäre Behandlung in derselben Klinik erfahren, in deren Vordergrund jedoch die Komorbiditäten Fibromyalgie-Syndrom (FMS), Infektanfälligkeit bis hin zu einer zuvor durchstandenen Pneumonie sowie ein chronisch rezidivierendes Ekzem unklaren Typs gestanden hatten. Ein unmittelbar zuvor angefertigtes MRT des Kopfes hatte einen unauffälligen Befund erbracht. Sie konnte damals über 4 Tage eine Schleimfastentherapie durchführen. Insbesondere für das FMS hatte sie 3-mal eine wassergefilterte Infrarot-Hyperthermie (wIRA, moderate Therapieführung mit dem Ziel der Erhöhung der Körperkerntemperatur auf maximal 38 °C) erhalten und für etwa 6 Monate profitiert. Anamnestisch hatten sich die Beschwerden des FMS durch Wärme, z. B. heiße Bäder und Sauna sowie leichte Bewegung und Spaziergänge bessern lassen; das Ekzem hatte sich durch warmes Wasser jedoch verschlechtert. Infolge der Hyperthermie ließ sich keine Verschlechterung beobachten. Allerdings hatte die Patientin allein während dieses Aufenthaltes 2 Migräne-Anfallstage ohne direkten zeitlichen Zusammenhang etwa zur Hyperthermie erfahren.
Pestwurz-Präparat zur Prophylaxe
Zum Abschluss war eine Prophylaxe mit einem qualitätsgesicherten Pestwurz-Präparat (Petadolex® 50 mg Kps., Weber und Weber GmbH & Co. KG, Deutschland) empfohlen und 2 Wochen poststationär auch aufgenommen worden. Die Einnahme begann mit der Dosierung 3 × 50 mg/d. In den poststationären Monaten 2 und 3 senkte die Patientin die Dosierung auf 2 × 50 mg/d, da die Migräneanfälle bereits deutlich zurückgegangen waren, in den Monaten 4-7 dann erneut auf 1 × 50 mg/d, da die Prophylaxe noch bessere Wirkung zeigte und lediglich 3 Anfälle in 6 Monaten erfolgt waren. Es kam dann relativ rasch erneut zu Anfällen [Abb. 2], sodass die Patientin die Prophylaxe wieder aufnahm. Während der Monate 8-10 setzte die Patientin die Prophylaxe ganz ab [Abb. 2].
In deren Verlauf war die Frequenz wieder auf die frühere Häufigkeit von 2 Anfällen pro Monat angestiegen, sodass sich im 2. Halbjahr 2015 die Anzahl der Migräneanfälle auf 10 summierte [Abb. 2].
Therapie und Verlauf
Auch aufgrund des nicht völlig befriedigenden Verlaufes der Migräne-Erkrankung wurde die zweite vollstationäre Behandlung von Beginn an als sog. naturheilkundliche Komplextherapie geplant, die formal über 13 Tage gemäß den Kriterien des OPS-Kataloges durchgeführt wurde (hier OPS 8-975.23). Die Patientin wurde insbesondere motiviert, eine längere Fastentherapie durchzuführen, was nach typischen einleitenden Maßnahmen komplikationslos als Saftfasten nach Buchinger (Leitlinien) über 11 Tage erfolgte. Außerdem erhielt sie 3-mal wöchentlich eine Eigenblutbehandlung mit UVB-Bestrahlung des Blutes (sog. UVB-Methode, Gerät Fa. Kastner, Deutschland, Standarddurchführung zweimal 60 s) und eine intravenöse Vitamin-C-Therapie mit 6-maliger Gabe von je 7,5 g Vitamin C. Hierdurch sollte Erschöpfung, Infektanfälligkeit und das eventuell allergische Exanthem durch Umstimmung des Immunsystems positiv beeinflusst werden. Daneben erfolgte eine naturheilkundliche multimodale Komplexbehandlung mit Hyperthermie-Serie, Atemtherapie-Gruppe, reflektorischer Atemtherapie in Einzelsitzungen, Frühsport, Hockergymnastik, Wasserlaufgruppe, progressiver Muskelrelaxation nach Jacobsen sowie motorisch-funktioneller Behandlung der Schultergelenke.
Nach diesem weiteren Aufenthalt im November 2015 wurde die Pestwurz-Prophylaxe erneut mit 3 × 50 mg / d aufgenommen. In den 6 Monaten seitdem ist kein weiterer Anfall erfolgt.
Diskussion
Die Kasuistik weist auf eine dosisabhängige Wirksamkeit einer Pestwurz-Prophylaxe bei Migräne hin. Dies zeigt sich auch anhand des sehr sorgfältig geführten Anfallstagebuchs. Unterstützt wird diese Annahme durch das Anfallsrezidiv nach völligem Absetzen und die erneute Remission bei Wiederaufnahme der Prophylaxemedikation.
Pestwurz-Extrakte weisen entzündungshemmende und spasmolytische Wirkungen auf, deretwegen sie seit geraumer Zeit genutzt und auch zunehmend wissenschaftlich beforscht werden [1]-[5]. Sie scheinen grundsätzlich als Migräne-Prophylaktikum geeignet, wenngleich die lange verfolgte Theorie meningealer Gefäßspasmen als Ursache der Migräneattacken in letzter Zeit erheblich in Zweifel gezogen wurde.
Neben Behandlung und Prophylaxe von allergischen und bronchialobstruktiven Erkrankungen [6] werden Pestwurz-Extrakte seit geraumer Zeit ausschließlich für die Prophylaxe der Migräne empfohlen; eine therapeutische Wirkung im Anfall ist dagegen nicht beschrieben.
Es liegen mindestens 4 randomisiert placebokontrollierte Studien und mindestens 2 Reviews vor: Der erste [7] überblickt 2 als hochwertig eingestufte Studien mit 60 bzw. 233 Patienten [8], [9], wobei in der größeren Studie 2 Verumgruppen mit 100 und 150 mg / d gebildet worden waren. Der Review kommt zu dem Schluss, dass nach 3-4 Monaten in beiden Verumgruppen mit der Dosis von 150 mg / d die Anfallsfrequenz deutlicher sank und die Responderraten höher waren als mit 100 mg / d. Ein Poolen der Daten wurde aus verschiedenen Gründen nicht für sinnvoll erachtet, es müssten mehr und methodologisch bessere Studien vorliegen.
Obwohl nahezu zeitgleich publiziert, würdigt der andere Review [10] 2 weitere randomisiert placebokontrollierte Studien [11], [12], insgesamt also 4, die sämtlich nach ca. 4 Monaten auf eine bessere Wirksamkeit des Verums gegenüber Placebo hinwiesen. Die gewählten Dosierungen variierten zwischen 2 × 25 mg / d und 3 × 50 mg / d; bessere Ergebnisse erzielten die höheren Dosierungen. Es wird insgesamt ein Evidenzgrad B verliehen (Good Scientific Evidence, Skala von A bis E).
Sicherheit
Pestwurz-Extrakte gelten als gut verträglich. Sie werden in Deutschland seit 1972, in Kanada seit 1996, in den USA spätestens seit 1998 und in Japan seit 2003 in größerem Umfang als Migräne-, in jüngerer Vergangenheit aber auch vermehrt als Allergieprophylaxe eingesetzt. Aus Deutschland wurden 9 Verdachtsfälle bezüglich Leberschäden gemeldet und sorgfältig analysiert. In einem Fall schien ein Zusammenhang möglich [13]. Bezüglich des grundsätzlich möglichen Gehaltes an als krebserregend und lebertoxisch eingestuften Pyrrolizidinalkaloiden ließ das National Center for Natural Products Research 21 in den USA erhältliche Pestwurz-Extrakte analysieren und befand sie für sicher. Andere ernsthafte unerwünschte Wirkungen wurden weder in den Studien noch aus der breiten Anwendung beschrieben.
Für das Produkt Petadolex® lässt sich in Deutschland der dauerhafte Gebrauch zwischen 1992 und 2010 während etwa 200 000 Patientenjahren überschauen, für die USA, Kanada und Japan zusammen zwischen 2010 und 2015 während etwa 56 000 Patientenjahren.
Erhältlichkeit und Kosten
Erhältlichkeit und Kosten
Auf einem Methylenchlorid-Extraktionsverfahren beruhende Pestwurz-Arzneimittel waren in Deutschland seit 1972 erhältlich. Der Hersteller verlor nach der 1988 erfolgten Umstellung auf ein moderneres Kohlendioxid-Extraktionsverfahren im Dissens mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ab 2009 die Vermarktungsgenehmigung für Deutschland. Nur der letztgenannte Extrakt wurde in den Migränestudien getestet. Auf diesem Extrakt gründende Arzneimittel werden unverändert in Deutschland produziert, sind aber nur über eine internationale Bezugsquelle erhältlich.
Zwischen 1992 und 2004 war darüber hinaus als offenbar weltweit einziger qualitätsgesicherter Extrakt ein Schweizer Produkt (Petaforce®, Fa. Zeller, Schweiz) erhältlich. Dessen Hersteller beansprucht aufgrund eines anderen Verhältnisses der grundsätzlich als Stereoisomere vorliegenden und allgemein als wirksamkeitsbestimmend anerkannten Petasine eine bessere Wirksamkeit bei Allergien [14], [15]. Auch hierzu liegen mehrere doppelblinde, randomisierte Studien im Vergleich zu Placebo und - im Unterschied zur Indikation Migräne - auch zum Standardtherapeutikum Ceterizin vor. Dieser Extrakt ist bislang bei Migräne in keiner randomisierten Studie untersucht worden, ebenso wenig wie der andere bei Allergien. Dort wurde der Aufsichtsbehörde Swissmedic ein Verdachtsfall aus Deutschland bezüglich Lebertoxizität angezeigt.
Die Kosten belaufen sich je nach Bestellmenge auf 0,66-0,52 € pro 50 mg-Kapsel. In der derzeit empfohlenen Dosierung von 3 × 50 mg/d entstehen somit Tagestherapiekosten von ca. 1,80 €. Diese werden von der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich nicht übernommen. Ob eine partielle Rückvergütung im Rahmen der von vielen GKV-Partnern angebotenen pauschalen Bezuschussungsmodelle nach ärztlicher Verordnung über ein privates bzw. Grünes Rezept erfolgen kann, ist eine Kulanzfrage, da es sich bei beiden Pestwurz-Produkten zwar um rezeptfreie, aber nicht in Deutschland zugelassene Arzneimittel handelt. In der privaten Krankenversicherung und den Beihilfen dürften Erstattungsgepflogenheiten unterschiedlich ausfallen. In jedem Fall erscheint hier bei unterschiedlichen Auffassungen ein Hinweis auf die Literaturlage und den individuellen Prophylaxe-Erfolg nützlich, insbesondere angesichts hoher, jedoch von keinem Versicherer limitierter Kosten für Triptane. Liegen hierzu für den Einzelfall genügend Daten vor, erscheint auch die Beantragung einer dauerhaften Ausnahmeregelung aussichtsreich.
Fazit
Im vorliegenden Fall scheint eine reproduzierbare prophylaktische Wirkung eines standardisierten Pestwurz-Extraktes bei einer ausgeprägten Migräneerkrankung vorzuliegen. Unklar bleibt ein möglicher additiver Beitrag von Therapien, die in den beiden vollstationären Verfahren in einer naturheilkundlichen Spezialklinik ebenfalls eingesetzt, jedoch in der ambulanten Situation nicht weiter fortgeführt wurden. Hier ist z. B. an die UVB-Behandlung der Patientin zu erinnern (s. o.), die grundsätzlich bei vaskulären Erkrankungen eines ihrer Hauptindikationsgebiete hat. Migräne ist bislang von ihren Vertretern allerdings nicht hervorgehoben worden.
In erster Linie ist jedoch die 11-tägige Fastentherapie zu nennen, da nach der zweiten vollstationären Therapie die Prophylaxe bislang offenbar erfolgreicher war. Therapeutisches Fasten wird seit geraumer Zeit von erfahrenen Fastenärzten als alleinige Maßnahme bei Migräne empfohlen, die weltweit einzige ärztliche Fachgesellschaft gibt diese Indikation in ihren älteren deutsch- wie jüngeren englischsprachigen Leitlinien aus [16], [17]. Wissenschaftliche Untersuchungen sind bislang allerdings nur in Form einer schon älteren Dissertation bekannt geworden, die retrospektiv eine Auswertung von Langzeitverläufen von Patienten einer großen Fastenklinik beinhaltet (Brückenau). Der Wirkmechanismus ist unbekannt, könnte jedoch auf den im Modell chronisch entzündlicher Gelenkerkrankungen gesicherten entzündungshemmenden Wirkungen sowie der auch in anderen Zusammenhängen beobachteten vegetativ stabilisierenden Wirkung des Fastens beruhen. Völlig unbekannt, wenngleich grundsätzlich zu unterstellen, ist, ob es zu einem kombinierten Effekt der beiden Therapien kommt.