Schlüsselwörter:
Multiple Sklerose - Stufentherapie - Anästhesie - neurologische Erkrankung
Keywords:
mutiple sclerosis - anesthesia - neurological diseases - step-by-step therapy
Patienten mit seltenen neurologischen Erkrankungen sind stets eine Herausforderung
im klinisch-operativen Alltag. Insbesondere anästhesiologische Interventionen können
dabei mit vielfältigen Problemen behaftet sein. Der folgende Artikel befasst sich
mit dem aktuellen Wissensstand zur Multiplen Sklerose in der Anästhesie. Dabei beziehen
sich die Autoren auf die sichere Vorbereitung und Durchführung verschiedener Anästhesieformen
sowie die Vermeidung und ggfs. Therapie möglicher Komplikationen.
Grundlagen
Definition, Epidemiologie, Symptomatik
Krankheitsbild
Multiple Sklerose (MS) ist eine immunvermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems.
Das 1868 durch Jean Martin Charcot als „la sclérose en plaques disséminées“ beschriebene
Krankheitsbild führt dauerhaft zu Demyelinisierungen und axonalen Schädigungen von
Gehirn und Rückenmark. Sie ist die häufigste neurologische Ursache für bleibende Behinderungen
im jungen Erwachsenenalter [1]
[2].
Prävalenz
Die Prävalenz liegt bei 2–150 Fällen pro 100 000 Einwohner mit starker länderspezifischer
Abhängigkeit [3]. Weltweit wird die Zahl der Betroffenen auf ca. 2 Mio. geschätzt, in Deutschland
geht man von > 120 000 Erkrankten aus [4]. Frauen sind 1,4–2,3-mal häufiger betroffen als Männer [5]. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei 30 Jahren, obwohl in seltenen Fällen Neudiagnosen
bis ins hohe Alter möglich sind [6].
Verlaufsformen
Klinisch lässt sich die Erkrankung in unterschiedliche Verläufe einteilen [2]:
-
das radiologisch isolierte Syndrom (RIS),
-
das klinisch isolierte Syndrom (KIS) ,
-
die schubförmige („Relapsing-Remitting“, RRMS),
-
die sekundär progrediente (SPMS) und
-
die primär progrediente (PPMS) Verlaufsform.
MS beginnt in > 80 % der Fälle mit schubförmigem Verlauf und variabler Symptomatik
in Abhängigkeit betroffener ZNS-Strukturen [7]. Zu den typischen klinischen Symptomen gehören beispielsweise Sehstörungen, in Form
von Verschwommensehen und Farbentsättigung, sowie Augenbewegungsschmerz als Ausdruck
einer Optikusneuritis, Doppelbilder, Tremor, skandierende Sprache, Nystagmus und ataktische
Gangstörungen als Folge von Läsionen in Hirnstamm und Kleinhirn oder auch Taubheit
und Parästhesien [8]. Motorische Störungen in Form von spastischen, häufig jedoch auch schlaffen Para-,
Tetra- oder auch Hemiparesen weisen auf die Beeinträchtigung sensomotorischer Bahnen
oder von deren Zentren im Gehirn und Rückenmark hin. Entsprechend können auch kognitive
Beeinträchtigungen oder Epilepsie, aber auch Harnblasen- und Darmdysfunktionen oder
Erschöpfung (Fatigue) auftreten [2]
[9].
Schmerz als Symptom
Schmerz ist ein weiteres typisches Symptom der Erkrankung. Es finden sich nozizeptive,
neuropathische, idiopathische sowie gemischte Schmerzmanifestationen. Als pathophysiologische
Ursachen werden spinothalamokortikale Läsionen, ektope Entladungen demyelinisierter
Neurone, Aktivierung intraneuraler Nozizeptoren, Spastik sowie Haltungsanomalien bei
motorischen Störungen angesehen [10].
Umweltfaktoren
Das Auftreten von MS scheint sowohl genetisch als auch durch Umweltfaktoren beeinflusst
zu werden. So zeigt sich eine Korrelation zwischen geografischer Lage und MS-Häufigkeit.
In Nordeuropa, Süd-Kanada, den nördlichen USA, östlichem Australien und Neuseeland
finden sich weltweit die höchsten Zahlen MS-Erkrankter [5]. Besonders Regionen mit weißer Population sowie entwickelte Länder haben eine hohe
Inzidenz [11].
Weitere mögliche Faktoren, die mit dem Auftreten von MS positiv korrelieren, sind
Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus, Rauchen, geringe Sonnenexposition und damit
einhergehend ein Mangel an Vitamin D [9].
Genetik
Genetische Untersuchungen legen im Hinblick auf das MS-Risiko eine Beteiligung des
Major-Histokompatibilitätskomplexes (MHC) nahe, wobei mittlerweile allerdings auch > 100
non-MHC-Genloci identifiziert wurden, denen eine positive MS-Korrelation angelastet
wird [12]. Es zeigt sich eine familiäre Häufung von MS-Fällen in Abhängigkeit vom Verwandtschaftsgrad.
Bei eineiigen Zwillingen liegt z. B. das Lebenszeit-Erkrankungsrisiko bei 25–35 %,
wenn bereits ein Zwilling von MS betroffen ist [13].
Diagnose
Die Diagnose der MS erfolgt heutzutage nach den 2010 revidierten McDonald-Kriterien
[14]. Sie sind in [Tab. 1] dargestellt. Es gibt Bestrebungen, die MS auch bereits vor dem Auftreten von klinischen
Symptomen bei entsprechenden Befunden im MRT zu diagnostizieren (radiologisch isoliertes
Syndrom; RIS) [2].
Tab. 1 2010 McDonald-Kriterien zur Diagnose der Multiplen Sklerose [14].
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2010 McDonald-Kriterien zur Diagnose der Multiplen Sklerose
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klinische Befunde
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weitere erforderliche Kriterien
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Therapie
Die Therapie der MS folgt in Deutschland in der Regel einem Stufenschema [2]. Dieses ist in [Tab. 2] dargestellt.
Tab. 2 Stufentherapie der Multiplen Sklerose.
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Stufentherapie der Multiplen Sklerose
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Indikation
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klinisch isoliertes Syndrom (KIS)
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schubförmige Verlaufsform (RRMS)
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sekundär progrediente Verlaufsform (SPMS)
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Basistherapie
(milde / moderate Verlaufsform)
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Glatirameracetat
Interferon β 1a
Interferon β 1b
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Dimethylfumarat
Glatirameracetat
Interferon β 1a
Interferon β 1b
Peginterferon β 1a
Teriflunomid
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mit aufgesetzten Schüben
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ohne aufgesetzte Schübe
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Interferon β 1a
Interferon β 1b
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Mitoxantron
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Eskalationstherapie
(hochaktive Verlaufsform)
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1. Wahl
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2. Wahl
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Alemtuzumab
Fingolimod
Natalizumab
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Mitoxantron
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Schubtherapie
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1. Wahl: Methylprednisolonpuls
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2. Wahl: Plasmaseparation
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Anästhesie bei MS
Präoperative Evaluation
Beinträchtigungen
Die für MS typische neuronale Demyelinisierung erstreckt sich diffus über das gesamte
ZNS und beeinträchtigt wichtige Funktionsbereiche in unterschiedlichem Ausmaß.
Respiratorische Dysfunktion
Läsionen im Atemzentrum der Medulla oblongata sowie des zervikalen und thorakalen
Rückenmarks können in fortgeschrittenen MS-Stadien zu respiratorischer Dysfunktion
führen. Obwohl Vitalkapazität und totales Lungenvolumen oft normal sind, kommt es
durch motorische Einschränkungen der Atemmuskulatur zur Reduktion von max. inspiratorischem
und exspiratorischem Flow.
Parameter und Tests
Spirometrische Parameter wie forcierte Vitalkapazität und Einsekundenkapazität sind
leicht reduziert bei normalem Tiffeneau-Index [15]. Eine verringerte pulmonale Diffusionskapazität für Kohlenmonoxid lässt sich nachweisen
[16]. Neben Lungenfunktionsuntersuchungen und arteriellen Blutgasbestimmungen erlauben
einfache klinische Tests häufig eine gute Beurteilung der respiratorischen Funktion
MS-Erkrankter. So sollten Patienten präoperativ dahingehend untersucht werden, wie
gut sie in der Lage sind, tief auszuatmen sowie abzuhusten [17]
[18].
Atemstörungen
Atemstörungen, die bei MS in Erscheinung treten, sind häufig das obstruktive Schlafapnoe-Syndrom
(OSAS), seltener zentrale Schlafapnoen, Schlaflosigkeit oder auch Narkolepsie [19]. OSAS scheint durch Läsionen höherer Hirnzentren, die die Atem- und Atemwegsmuskulatur
regulieren, verursacht zu werden, möglicherweise zusätzlich auch durch Übergewicht
bei längerem MS-bedingten Bewegungsmangel [20]. Zur Prämedikation sollte daher auf Benzodiazepine wie z. B. Midazolam verzichtet
werden. Clonidin ist wahrscheinlich unproblematisch [21]. Insbesondere bei starker Beeinträchtigung der pharyngealen und laryngealen Muskulatur
muss bei MS-Patienten auch mit chronischer Aspiration gerechnet werden [18].
Hämodynamische Instabilität
Läsionen im hohen thorakalen Rückenmark können mit autonomer Dysfunktion einhergehen,
was perioperativ zu hämodynamischer Instabilität unterschiedlichen Ausmaßes führen
kann [18]. Insbesondere während der Einleitung rückenmarksnaher Regionalanästhesien können
ausgeprägte Hypotensionen auftreten, die selbst mit Volumen- oder Vasopressorgabe
schwierig zu therapieren sind [22].
-
Wenn MS-Patienten präoperativ über Symptome wie Impotenz, Synkopen, Harnblasen- oder
Darmdysfunktionen klagen, sollte dies daher als Warnsignal für das Auftreten perioperativer
Hämodynamikprobleme bewertet werden [23].
Kardiovaskuläre Komorbidität
Die kardiovaskuläre Komorbidität ist bei MS erhöht. Koronare Herzkrankheit, chronische
Herzinsuffizienz, ischämischer Schlaganfall und periphere arterielle Verschlusskrankheit
treten bei MS signifikant häufiger auf als bei der Normalbevölkerung [24]. Erklärungsansätze für diese Beobachtung sind das häufigere Rauchen bei MS-Erkrankten
sowie Übergewicht durch Bewegungsmangel, was mit subklinischer Atherosklerose assoziiert
ist [25].
Tipps für die Prämedikationsvisite:
-
testen, ob Patienten tief ausatmen und abhusten können
-
auf Atemstörungen und kardiale Erkrankungen besonders achten
-
Impotenz, Synkopen, Harnblasen- oder Darmdysfunktionen gezielt erfragen
-
Benzodiazepine zur Prämedikation möglichst vermeiden (alternativ Clonidin)
Allgemeinanästhesie
Triggerfaktoren für Exazerbationen
Stress als Auslöser
Generell gilt, dass Stress eine akute MS-Exazerbation verursachen kann. So kommt es
durch Belastungssituationen wie schwere Grunderkrankungen, Infektionen, Geburt, aber
auch Operationen und Anästhesien u. U. zur Exazerbation.
Erhöhte Körpertemperatur
Als spezifischer Trigger für MS-Exazerbationen gilt dagegen eine erhöhte Körpertemperatur.
Die als Uhthoff-Phänomen beschriebene Verschlechterung von MS-Symptomen bei Körpertemperaturerhöhung
(Fieber, Sauna, heiße Bäder) liegt pathophysiologisch in einer verminderten Leitfähigkeit
demyelinisierter Axone begründet, von der ca. 80 % aller Erkrankten betroffen sind
[26]
[27].
Antipyretika bei Infektionen, aber auch Antibiotika im Fall von nachgewiesener bakterieller
Beteiligung, sollten in Erwägung gezogen werden. Ein intraoperatives Temperaturmanagement
ist auch bei kurzen Eingriffen empfehlenswert. Der übermäßige Gebrauch von Wärmematten
oder anderen Heizgeräten sollte bei MS-Patienten mit Zurückhaltung erfolgen [9].
Injektionshypnotika, volatile Anästhestika, Opioide
Studienlage
Für den Einsatz von Hypnotika und Narkoanalgetika bei MS existieren nur spärliche
Informationen in der Literatur. Häufig handelt es sich lediglich um Fallberichte.
Den publizierten Daten ist zu entnehmen, dass sowohl mit halogenierten volatilen Anästhetika
wie Sevofluran und Desfluran als auch mit Lachgas komplikationslose Allgemeinanästhesien
bei MS-Erkrankten durchgeführt wurden. Als Analgetika kamen Remifentanil und Fentanyl
zum Einsatz sowie Propofol als Einleitungshypnotikum [28]
[29]
[30]
[31].
Muskelrelaxanzien
Besonderheiten bei MS-Patienten
MS-Patienten zeigen typischerweise eine Hochregulierung nikotinerger Azetylcholinrezeptoren
mit erregungsbedingt verlängerter Öffnungsdauer. Dies erfordert i. d. R. höhere Dosen
nicht depolarisierender Muskelrelaxanzien, wobei mit verzögertem Wirkungsverlust gerechnet
werden muss [32]. Durch Einsatz relaxometrischer Verfahren bereitet dies jedoch im klinischen Alltag
keine weiteren Probleme.
Rocuronium hat aus theoretischen Überlegungen heraus Vorteile gegenüber anderen Relaxanzien,
da es pharmakokinetisch gut steuerbar ist und im Fall einer Überdosierung mit Sugammadex
ein eleganter Antagonist zur Verfügung steht [31].
Succinylcholin
Die pathophysiologischen Veränderungen auf Azetylcholinrezeptorebene machen den Einsatz
von Succinylcholin problematisch. Sowohl die erhöhte Rezeptoranzahl als auch deren
verlängerte Öffnungsdauer steigern das Risiko für massive Hyperkaliämien bei MS-Erkrankten.
Zwar sind in der Literatur problemlose Allgemeinanästhesien unter Succinylcholin auch
bei wiederholter Gabe beschrieben, trotzdem darf das Risiko für Komplikationen nicht
unterschätzt werden, insbesondere im fortgeschrittenen Krankheitsstadium, da das Hyperkaliämierisiko
mit der Erkrankungsschwere korreliert [33]. Lebensbedrohliche Kaliumentgleisungen bei zuvor normalen Ausgangswerten sind beschrieben
[34].
Tipps für Allgemeinanästhesien:
-
Operationen möglichst in Remissionsphase
-
perioperatives Temperaturmanagement (Vermeidung von Hyperthermien)
-
bevorzugte Anästhesiemedikamente:
-
Sevofluran, Desfluran, Lachgas
-
Propofol
-
Remifentanil, Fentanyl
-
Rocuronium (ggf. Antagonisierung mit Sugammadex)
-
Relaxometrie an nicht eingeschränkten Gliedmaßen
-
möglichst Verzicht auf Succinylcholin
Rückenmarksnahe Anästhesie
Rückenmarksnahe Anästhesie
Periduralanästhesie
Diskussion um sichere Anwendung
Die sichere Anwendung rückenmarksnaher anästhesiologischer Verfahren bei MS ist seit
langem Gegenstand intensiver Diskussionen. Da die Hauptwirkung aller Lokalanästhetika
durch die Blockade spannungsabhängiger Natriumkanäle bedingt ist, wird häufig befürchtet,
dass diese Substanzen die MS-Symptomatik verschlechtern könnten. Diese Überlegung
erscheint plausibel, da MS-Erkrankte offenbar vermehrt intrazerebral Oligopeptide
mit natriumkanalblockierenden Eigenschaften exprimieren, die zumindest zum Teil für
die Negativsymptomatik, wie z. B. Muskelschwäche, verantwortlich gemacht werden [35].
Akzeptables Verfahren
Trotz dieser Mechanismen wird insbesondere die Periduralanästhesie gemeinhin als akzeptables
Verfahren bei MS-Patienten erachtet [36]. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass peridural verabreichte Lokalanästhetika nur
in geringem Ausmaß den Subarachnoidalraum erreichen und zentral wirksam werden können.
Es sollten sicherheitshalber gering konzentrierte Substanzen zum Einsatz kommen, möglichst
unter Verzicht auf einen Epinephrinzusatz [37].
Daten aus der Geburtshilfe
Daten zur Periduralanästhesie bei MS stammen zu einem großen Teil aus der Geburtshilfe
[38]. Da Patientinnen in den ersten 3 Monaten nach der Geburt ein erhöhtes Risiko für
Symptomverschlechterungen haben, könnte der Eindruck entstehen, dass möglicherweise
geburtshilfliche regionalanästhetische Verfahren dafür verantwortlich seien. Es zeigt
sich jedoch, dass Schwangerschaft als eigenständiger Triggerfaktor für Exazerbationen
angesehen werden muss [39].
In einer Untersuchung zur peripartalen Analgesie mittels Lokal-, Peridural- und Allgemeinanästhesie
fanden sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Die Ergebnisse
korrelierten auch mit allgemein verfügbaren Literaturdaten zur MS-Exazerbationshäufigkeit
während und nach der Geburt [40].
Eine relativ große Studie mit 349 schwangeren MS-Patientinnen untersuchte die postpartale
Exazerbationshäufigkeit in Hinblick auf Art der Geburt (Vaginal- oder Schnittentbindung)
sowie das Anästhesieverfahren (Analgesie oder Periduralanästhesie). Es zeigte sich,
dass die Periduralanästhesie keinen negativen Effekt auf Exazerbationen hatte, im
Vergleich mit Schwangeren, die dieses Anästhesieverfahren nicht erhielten [41].
Spinalanästhesie
Theoretische Überlegungen
Da im Gegensatz zur periduralen Applikation bei spinaler Gabe ein direkter Zugang
zum ZNS besteht, könnte aufgrund theoretischer Überlegungen mit einer höheren Rate
unerwünschter zentraler Wirkungen durch Lokalanästhetika bei MS gerechnet werden.
Dies hat in der Vergangenheit häufig zu der Befürchtung geführt, dass Spinalanästhesien
unsicher oder sogar riskant für MS-Patienten seien [42].
Fallberichte
In einem Fall wurde bei einem zuvor gesunden Patienten über eine akut auftretende
Okulomotoriusparese im Rahmen eines orthopädischen Eingriffs unter Spinalanästhesie
berichtet. Da im weiteren Verlauf eine MS diagnostiziert wurde, liegt die Vermutung
nahe, dass das subarachnoidal applizierte Lokalanästhetikum eine bereits vorbestehende,
aber noch klinisch stumme MS demaskiert haben könnte [43].
Andererseits sind Fallserien mit urologischen und plastischen Eingriffen publiziert
worden, bei denen Spinalanästhesien unproblematisch waren [44].
Eine MS-Patientin, bei der unter Spinalanästhesie eine Sectio caesarea durchgeführt
wurde, zeigte auch in einem 12-monatigen Nachbeobachtungszeitraum keinerlei Symptomauffälligkeiten
[45].
Studiendaten
Weiterhin wurden in einer großen retrospektiven Studie 139 Patienten mit vorbestehenden
Erkrankungen des zentralen Nervensystems hinsichtlich neurologischer Komplikationen
nach rückenmarksnaher Anästhesie untersucht. 35 Patienten litten an MS. 17 von ihnen
erhielten eine Spinalanästhesie, 18 eine Periduralanästhesie. Es kam zu keinerlei
perioperativen Auffälligkeiten, wobei in 31 Fällen ein nicht geburtshilflicher Eingriff
durchgeführt wurde [36].
Aufgrund der insgesamt verfügbaren Daten lässt sich feststellen, dass bei vorangegangener
MS-Diagnose rückenmarksnahe Anästhesien prinzipiell möglich sind [47].
Epiduraler Blutpatch
Typische Komplikation
Eine typische Komplikation von Spinalanästhesien ist der postpunktionelle Kopfschmerz,
dessen Häufigkeit u. a. von Art und Größe der verwendeten Punktionsnadel abhängt [48]. Zur Behandlung kommt neben pharmakotherapeutischen Interventionen wie orale Koffein-
oder Theophyllingabe insbesondere ein epiduraler Blutpatch infrage [49]. Da peridural applizierte Flüssigkeiten durch lokale Druckerhöhung zu Störungen
der axonalen Leitfähigkeit führen können, bestehen Bedenken, dass bei MS-Patienten
Symptomverschlechterungen auftreten könnten [50].
Fallbericht
In einem Fall wurde bei einem MS-Patienten nach diagnostischer Lumbalpunktion und
pharmakotherapieresistentem postpunktionellen Kopfschmerz ein epiduraler Blutpatch
appliziert. Aufgrund unzureichender Wirkung wurde die Prozedur 2 Wochen später wiederholt.
Dabei wurden zusätzlich somatosensorisch-evozierte Potenziale abgeleitet, um mögliche
Veränderungen der axonalen Leitfähigkeit zu erfassen. Es zeigten sich geringe Potenzialabweichungen,
die von den Autoren jedoch als nicht signifikant eingestuft wurden. Auch klinisch
zeigten sich bei dem Patienten keinerlei sensomotorische Auffälligkeiten [50].
Risiko vermindern
Ob dieser publizierte Einzelfall auf ein MS-Kollektiv übertragen werden kann, ist
spekulativ. Größere Fallserien bzw. Studien sind nötig, um dem nachzugehen. Daher
sollte bei Spinalanästhesien an MS-Patienten sicherheitshalber das Risiko für postpunktionellen
Kopfschmerz von vornherein so weit wie möglich reduziert werden. Dies gelingt insbesondere
durch konsequente Anwendung atraumatischer Nadeln mit möglichst kleinem Durchmesser,
wie z. B. einer 25 G-Sprotte.
-
Sollte bei MS im Falle von postpunktionellem Kopfschmerz ein epiduraler Blutpatch
in Erwägung gezogen werden, so empfiehlt sich eine sehr langsame Blutapplikation über
mehrere Minuten, um einen akuten periduralen Druckanstieg zu vermeiden [48]
[49].
Tipps für rückenmarksnahe Anästhesien:
-
Periduralanästhesie erscheint sicher
-
Spinalanästhesie wahrscheinlich sicher
-
Lokalanästhetika in möglichst geringer Konzentratio
-
Verzicht auf Epinephrin als Zusatz
-
bei Spinalanästhesie Sprotte-Nadel nutzen (≤ 25 G)
-
Blutpatchanlage langsam über mehrere Minuten
Periphere Nervenblockaden
Veränderungen durch MS
Da es sich bei MS nach gängiger Lehrmeinung um eine Erkrankung des zentralen Nervensystems
handelt, sollte die Peripherie theoretisch nicht betroffen sein. Tatsächlich zeigt
sich jedoch, dass sowohl sensorische als auch motorische periphere Nerven Veränderungen
der axonalen Erregbarkeit aufweisen können [51]. Eine verstärkte neuronale Kaliumleitfähigkeit durch Hochregulierung von Kaliumkanälen
scheint pathophysiologisch dabei eine wichtige Rolle zu spielen [52]
[53]. Weiterhin deuten Studien periphere Myelinschäden bei ca. 5 % der untersuchten MS-Patienten
an [54].
Fallberichte
Bei 2 orthopädischen MS-Patienten mit kombiniertem Femoralis- und Ischiadikusblock
ließen sich allerdings selbst über einen 30-tägigen Nachbeobachtungszeitraum keine
Auffälligkeiten nachweisen [55]. Andererseits wurde in einem Fall einer ultraschallgestützten interskalenären Plexusblockade
bei einem MS-Erkrankten über eine postoperative inflammatorische Brachialisneuritis
berichtet. Ob diese ursächlich im Zusammenhang mit der Regionalanästhesie oder anderen
Faktoren wie z. B. der Operationstechnik steht, bleibt allerdings reine Spekulation
[56].
Bei einer 33-jährigen Patientin mit zum Operationszeitpunkt noch nicht diagnostizierter
MS wurde im Rahmen einer Leistenhernienoperation unter Allgemeinanästhesie ein Paravertebralblock
am OP-Ende durchgeführt. Nach Anästhesieausleitung litt sie vorrübergehend unter einer
schlaffen Lähmung beider Beine, Übelkeit sowie Hypotonie, die vasopressorisch therapiert
werden musste. Erst nach > 12 h war der Block komplett aufgehoben. Einen Monat später
wurde die Diagnose einer MS gestellt. Als pathophysiologische Ursache wurde eine verstärkte
Aufnahme des Lokalanästhetikums in das Rückenmark durch Demyelinisierung diskutiert
[57].
Datenlage
Insgesamt existieren wenige Daten, um definitive Aussagen zur Sicherheit peripherer
Nervenblockaden machen zu können. Einige Autoren argumentieren, dass insbesondere
die verlängerte Analgesie nach einem erfolgten Eingriff unter Regionalanästhesie zu
einem stressfreien Zustand für den MS-Patienten führt und damit das Risiko für Exazerbationen
niedrig sein dürfte [9]. Auf vasokontriktorische Zusätze wie Epinephrin sollte möglichst verzichtet werden,
da es sonst durch die Gefäßverengung zu einer Minderperfusion der versorgten Nerven
kommen kann [58]. Weiterhin könnte der Einsatz ultraschallgestützter Punktionen von Vorteil sein,
da sie mit kleineren Lokalanästhetikamengen durchgeführt werden können. Dadurch ist
eine geringere neuronale Toxizität zu erwarten [59].
Tipps für periphere Nervenblockaden:
-
Lokalanästhetika in möglichst geringer Konzentration
-
Verzicht auf Epinephrin als Zusatz
-
ultraschallgestützte Punktionen, um Lokalanästhetika einzusparen
Anästhesie für besondere Eingriffe: Elektrokrampftherapie
Elektrokrampftherapie
Im Fall pharmakotherapieresistenter Depressionen bei MS kann die Elektrokrampftherapie
(EKT) eine Behandlungsoption sein. Sie wird in Allgemeinanästhesie durchgeführt. Succinylcholin,
das bei der EKT häufig noch als Muskelrelaxanz Verwendung findet, sollte aufgrund
der bereits beschriebenen Problematik nicht eingesetzt werden. Mivacurium ist aufgrund
seiner ebenfalls kurzen Wirkdauer eine gute Alternative [60]. Allerdings ist im Falle eines Cholinesterasemangels auch Mivacurium problematisch.
Rocuronium mit der Möglichkeit zur Reversierung durch Sugammadex ist dann eine sinnvolle,
wenn auch nicht kostengünstige Alternative [61]. Ein Temperaturmanagement ist nicht erforderlich, da die EKT nicht mit einer Körpertemperaturerhöhung,
sondern eher Erniedrigung assoziiert ist [62].
MS-Therapeutika und Anästhesie
MS-Therapeutika und Anästhesie
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Überblick
Medikamente, die zur Behandlung von MS eingesetzt werden, besitzen ein großes Spektrum
an unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW), die anästhesiologisch von Bedeutung
sein können. [Tab. 3] gibt einen Überblick. Die Daten beruhen auf Herstellerangaben.
Tab. 3 Nebenwirkungen von MS-Medikamenten und ihre anästhesiologische Bedeutung.
|
Nebenwirkungen von MS-Medikamenten und ihre anästhesiologische Bedeutung
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Arzneimittel
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Nebenwirkungen mit Anästhesierelevanz
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perioperative Bedeutung
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Interferon β 1b
Interferon β 1a
Peginterferon β 1a
|
-
grippeähnliche Symptome (Fieber, Schüttelfrost, Myalgie, Abgeschlagenheit)
-
Hypo-/Hyperglykämie
-
Hypotonie
-
abnormales Blutbild (inklusiv Thrombozytopenie)
-
Leberenzymerhöhung/-insuffizienz
|
-
erschwerte Abgrenzung echter Infektionen
-
perioperative Blutzuckerschwankungen
-
verstärkte perioperative Blutdruckabfälle
-
erhöhtes Risiko für Regionalanästhesien
-
erhöhte Arzneistoffhepatotoxizität / verringerte Clearance
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Glatirameracetat
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-
erhöhte Atemwegsreagibilität
-
perioperative Beatmungsprobleme
-
verstärkte perioperative Blutdruckabfälle
-
erhöhtes Risiko für rückenmarksnahe Anästhesien
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
|
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Natalizumab
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|
-
erhöhte Atemwegsreagibilität
-
erschwerte Abgrenzung echter Infektionen
-
verstärkte perioperative Blutdruckabfälle
-
verringerte Arzneistoff-Clearance
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Alemtuzumab
|
-
Atemwegsinfektionen
-
grippeähnliche Symptome (Fieber, Schüttelfrost, Myalgie, Abgeschlagenheit)
-
Tachy-/Bradyarrhythmie
-
Hypotonie
-
abnormales Blutbild (inklusive Thrombozytopenie)
-
Parästhesien
|
-
erhöhte Atemwegsreagibilität
-
erschwerte Abgrenzung echter Infektionen
-
perioperative Herzrhythmusstörungen
-
verstärkte perioperative Blutdruckabfälle
-
erhöhtes Risiko für rückenmarksnahe Anästhesien
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
|
|
Fingolimod
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-
lebensbedrohliche perioperative Bradykardien bis zur Asystolie
-
perioperative Beatmungsprobleme
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
-
Kombination mit anderen QTc-Zeit-verlängernden Substanzen meiden
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Dimethylfumarat
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Mitoxantron
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-
erhöhte Atemwegsreagibilität
-
verstärkte Bradykardie
-
perioperative Hämodynamikstörungen
-
verstärkte perioperative Blutdruckabfälle
-
erhöhtes Risiko für rückenmarksnahe Anästhesien
-
verringerte Arzneistoff-Clearance
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
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Teriflunomid
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-
erschwerte Abgrenzung echter Infektionen
-
erhöhte Atemwegsreagibilität
-
perioperative Blutdruckeinstellung
-
schwieriger Atemweg
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
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Azathioprin
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-
Fieber / Exazerbationen
-
verringerte Arzneistoff-Clearance
-
erhöhtes Risiko für rückenmarksnahe Anästhesien
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
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Baclofen
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-
Sedation / Atemstörungen
-
Hypotonie
-
Parästhesien
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-
Atemdepression bei Benzodiazepinprämedikation
-
verstärkte perioperative Blutdruckabfälle
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
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Tizanidin
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Fampridin
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-
Atemwegsinfektionen
-
Parästhesien
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Glukokortikoide
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-
Glukosetoleranzstörung
-
Hypokaliämie
-
Parästhesien
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-
perioperative Hyperglykämie
-
perioperative Herzrhythmusstörungen
-
präoperative Dokumentation bei Regionalanästhesie
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Akute Infektionen
Sämtliche immunmodulatorische Substanzen bergen das Risiko akuter Infektionen. Auffallend
häufig sind dabei die Atemwege betroffen. Dies kann in vielerlei Hinsicht zu anästhesiologischen
Problemen führen. Zum einen besteht das Risiko einer Atemwegshyperreagibilität mit
der Gefahr perioperativer Bronchoobstriktionen und daraus resultierender Beatmungsschwierigkeiten.
Darüber hinaus gelten akute Infektionen als Trigger für MS-Exazerbationen, wie bereits
oben beschrieben. Zusätzlich können schwere, v. a. bakterielle Infekte, wie sie z. B.
unter Azathioprin auftreten, mit hohem Fieber einhergehen, das selbst eine akute Verschlechterung
der MS-Symptomatik verursachen kann.
Blutbildungsstörungen
Viele MS-Therapeutika führen zu Blutbildungsstörungen. Bei betroffenen Patienten kann
im Extremfall ein erhöhter Bluttransfusionsbedarf je nach Größe des chirurgischen
Eingriffs bestehen. Die fast immer begleitend auftretende Thrombozytopenie kann eine
geplante rückenmarksnahe Anästhesie zu einem Risiko werden lassen, sodass z. B. bei
großen bauchchirurgischen Eingriffen auf die Anlage eines Periduralkatheters verzichtet
werden muss. Durch standardmäßige präoperative Laborkontrollen werden Blutbildstörungen
allerdings problemlos aufgedeckt.
Leberfunktionseinschränkungen
Einige Therapeutika bergen das Risiko schwerer Leberfunktionseinschränkungen mit entsprechend
reduzierter Metabolisierungskapazität. Dies kann bei hepatisch eliminierten Arzneistoffen
zu verringerter Clearance führen. Im Gegensatz zur Niere existiert bei der Leber jedoch
kein anerkannter Parameter, der die Funktionsstörung ausreichend quantitativ beschreibt,
um Dosierungsanpassungen zu kalkulieren. Daher kann es u. U. sehr schwierig sein,
die Dosis hepatisch metabolisierter Anästhetika korrekt anzupassen. Ein therapeutisches
Drug Monitoring wäre zwar theoretisch möglich, ist aber im Praxisalltag ungeeignet.
Arzneistoffen mit organunabhängiger Pharmakokinetik wie Cisatracurium (Hofmann-Eliminierung)
oder Remifentanil (Eliminierung durch Plasmaesterasen) sollte in Fällen vorbeschriebener
Organdysfunktionen der Vorzug gegeben werden. Leberfunktionsstörungen lassen sich
dabei leicht an erniedrigten hepatischen Synthesemarkern wie Albumin, Vitamin-K-abhängigen
Gerinnungsfaktoren oder Plasmacholinesterase erkennen.
Assoziation mit Hypotonie
Auffallend viele Arzneimittel zur Behandlung von MS sind mit Hypotonie assoziiert.
Intraoperativ sollte dann mit verstärkten Blutdruckabfällen gerechnet werden, die
möglicherweise mit einem gesteigerten Vasopressorbedarf verbunden sein könnten. Eine
engmaschige Blutdruckkontrolle ist daher erforderlich. Betroffene Patienten sollten
über die mögliche Notwendigkeit einer invasiven Blutdruckmessung aufgeklärt werden.
Bradykardien
Einige Substanzen führen zu Bradykardien, die u. U. perioperativ durch Einsatz weiterer
bradykardisierender Arzneistoffe wie z. B. Opioide verstärkt werden könnten. Besonders
sei in diesem Zusammenhang Fingolimod erwähnt. Gerade zu Behandlungsbeginn kann es
dabei zu ausgeprägten Frequenzabfällen, AV-Blockierungen und Asystolien kommen [63]. Fingolimod beeinträchtigt außerdem die linksventrikuläre Ejektionsfraktion, wobei
die klinische Konsequenz daraus bisher unklar ist [64]. Ein erweitertes hämodynamisches Monitoring kann bei diesen Patienten daher sinnvoll
sein.
Parästhesien
Letztlich sind Parästhesien eine weitere häufig auftretende UAW unter MS-Therapie.
Wie bereits oben beschrieben, können periphere Nervenschäden auch krankheitsbedingt
sein und somit zu Missempfindungen führen. Unabhängig davon treten sie aber auch als
eigenständige Nebenwirkungen diverser MS-Therapeutika auf. In solchen Fällen sollte
gut überlegt werden, ob regionalanästhetische Verfahren überhaupt angezeigt sind.
Wenn einer Regionalanästhesie der Vorzug gegeben wird, ist es schon aus forensischen
Gründen sehr empfehlenswert, einen ausführlichen neurologischen Status zu erheben
und gut zu dokumentieren.
Interaktionen
Bedeutung
Neben UAW können auch Interaktionen eine sichere Pharmakotherapie erheblich erschweren.
Trotzdem sind Wechselwirkungen ein klinisch häufig unterschätztes bzw. wenig wahrgenommenes
Problem.
Fingolimod
Fingolimod ist ein Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptormodulator, der neben seiner ausgeprägten
bradykardisierenden Wirkung auch zu einer QT-Zeit-Verlängerung führen kann [65]. Die klinische Relevanz kann aufgrund mangelnder Daten derzeit jedoch noch nicht
vollständig abgeschätzt werden, sodass die europäische Arzneimittelbehörde einen restriktiven
Umgang mit anderen QT-Zeit-verlängernden Substanzen in Kombination mit Fingolimod
anmahnt [66]. Anästhesiologisch sind dies v. a. Ondansetron und Droperidol als Arzneistoffe zur
Prophylaxe und Therapie von postoperativer Übelkeit /Erbrechen (PONV), aber auch Azetylcholinesterasehemmstoffe
in Kombination mit Anticholinergika wie Neostigmin / Atropin zur Antagonisierung nicht
depolarisierender Muskelrelaxanzien [67]. Dexamethason und Dimenhydrinat gelten dagegen als unproblematische Alternativen
zur PONV-Prophylaxe / -Therapie. Rocuronium kann als Muskelrelaxanz mit der Möglichkeit
der Antagonisierung durch Sugammadex ohne QT-Zeit-Veränderung sicher eingesetzt werden.
Teriflunomid
Teriflunomid, ein Hemmstoff der Dihydroorotatdehydrogenase, interagiert ausgesprochen
stark pharmakokinetisch mit anderen Arzneistoffen. Durch eine CYP1A2-Induktion kommt
es z. B. zu erniedrigten Spiegeln von Theophyllin, das jedoch nur noch selten anästhesiologisch
Anwendung findet. Durch Hemmung des organischen Anionentransporters OAT3 steigert
Teriflunomid die Plasmaspiegel von Furosemid, Cefaclor, Benzylpenicillin und Ciprofloxacin
[68]. Gerade letzteres wird häufig zur perioperativen Antibiotikaprophylaxe eingesetzt.
Da es insbesondere bei alten Patienten unter Fluorchinolonen verstärkt zu psychiatrischen
UAW kommen kann, sollten gerade hohe Dosen von Ciprofloxacin in solchen Fällen unbedingt
vermieden werden.
Azathioprin
Azathioprin ist ein Antimetabolit, der über einen unbekannten Mechanismus die Wirkung
nicht depolarisierender Muskelrelaxanzien abschwächt [69]. Es ist daher u. U. erforderlich, die entsprechenden Dosierungen zu erhöhen. Durch
den konsequenten Einsatz relaxometrischer Verfahren sollte diese Interaktion im klinischen
Alltag allerdings keinerlei Probleme bereiten.
Baclofen
Baclofen, ein GABA-B-Rezeptoragonist, hat myotonolytische und sedative Eigenschaften
und wird häufig als Adjuvans bei MS-bedingter Spastik eingesetzt. Es verstärkt die
Wirkung anderer sedierender Arzneistoffe wie Opioide und Benzodiazepine, aber z. B.
auch von Histamin-H1-Antagonisten [70]. Der gleichzeitige Einsatz von Benzodiazepinen zur Prämedikation sollte daher vermieden
werden. Aber auch Dimenhydrinat bei der Behandlung von PONV oder Dimetinden bzw. Clemastin
zur Prophylaxe / Therapie allergischer Reaktionen können problematisch sein. Baclofen
verlängert darüberhinaus signifikant die Wirkung von Fentanyl [71]. Inwieweit dies auch für die anderen anästhesiologisch eingesetzten Narkoanalgetika
gilt, ist unbekannt.
Fazit Nach den derzeit verfügbaren Daten können Patienten mit Multipler Sklerose recht
sicher mit allgemein- sowie regionalanästhetischen Verfahren versorgt werden. Studien
an großen Patientenkollektiven sind allerdings erforderlich, um die oft nur aus Fallberichten
gewonnenen Erkenntnisse zu bestätigen.
Kernaussagen
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Patienten mit Multipler Sklerose können Allgemein- und Regionalanästhesien erhalten.
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Eingriffe sollten wenn möglich im akuten Schub vermieden werden.
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Eine erweiterte präoperative Evaluation ist erforderlich.
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Benzodiazepine sollten präoperativ möglichst vermieden werden.
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Succinylcholin ist als Muskelrelaxanz nicht empfehlenswert.
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Peridural- und Spinalanästhesien sind möglich unter Einsatz niedrig dosierter Lokalanästhetika
ohne Epinephrinzusatz.
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Periphere Nervenblockaden sollten unter Ultraschallkontrolle durchgeführt werden.
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Multiple Sklerose bedarf häufig einer Arzneimitteltherapie, die im anästhesiologischen
Kontext zu Problemen führen kann.