Disease-Management-Programme (DMP) für große Volkskrankheiten wie zum Beispiel Diabetes
mellitus haben aus Sicht der Krankenkassen und der ärztlichen Berufsverbände dazu
geführt, dass sich die Qualität der Behandlung für die betroffenen Patienten deutlich
verbessert hat. Da liegt der Gedanke nahe, dieses Konzept auch auf die „Volkskrankheit
Depression“ zu übertragen. Denn: Viele Patienten mit einer depressiven Erkrankung
wenden sich zuerst an den Hausarzt – und bleiben auch nach Abschluss einer stationären
Behandlung – wegen des zunehmenden Mangels an niedergelassenen Fachärzten für Psychiatrie
und Psychotherapie – in hausärztlicher Behandlung.
Die ersten Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines DMP Depression ergaben sich aus der
Tatsache, dass depressive Erkrankungen im Vergleich zu somatischen Erkrankungen wie
dem Diabetes mellitus viel heterogener sind. So können in der Pathogenese einer Depression
ganz unterschiedliche Faktoren die entscheidende Rolle spielen (erblich bedingte Vulnerabilität,
akute psychosoziale Belastungsfaktoren usw.). Auch im Hinblick auf die individuell
angepasste Behandlung der depressiven Erkrankung gibt es große Unterschiede: Bei vielen
Patienten gibt es initial keine sinnvolle Alternative zu einer Pharmakotherapie. Bei
anderen Patienten wäre ein primär psychotherapeutisch orientiertes Vorgehen und ggf.
zeitnahe Veränderungen der privaten oder beruflichen Situation des Patienten die Behandlung
der Wahl. Um bereits in der Initialphase der Behandlung die Weichen richtig stellen
zu können, braucht es Zeit! Zeit für die Erhebung der aktuellen und früheren Anamnese,
die Berücksichtigung wichtiger biografischer Faktoren, die Abklärung des Schweregrads
der Depression einschließlich Beurteilung der Suizidalität, die Prüfung, ob akut eine
vollstationäre Behandlung erforderlich ist usw..
Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, wäre für Allgemeinmediziner ein hoher
Schulungsaufwand erforderlich, insbesondere wenn Patienten mit einer depressiven Erkrankung
längerfristig leitliniengerecht behandeln werden sollen. Natürlich müsste auch der
hohe Zeitaufwand im Laufe der Behandlung entsprechend vergütet werden, ansonsten wäre
die Akzeptanz eines solchen Projekts von vornherein nicht gewährleistet.
Aufgrund dieser Bedenken wurden im Rahmen einer Studie 185 Allgemeinmediziner sowie
hausärztlich tätige Internisten zu ihrer Einstellung im Hinblick auf ein DMP Depression
befragt [1]. 144 Rückantworten (Rücklaufquote 78 %) konnten ausgewertet werden. 89 % der Befragten
hatten bereits Erfahrungen mit 2 oder mehr DMP, und 36 % bewerteten diese Erfahrungen
ausdrücklich als positiv. Ein mögliches DMP Depression wurde aber nur von 23 % der
Befragten begrüßt, die Ablehnerquote betrug 61 %. Etwa die Hälfte der Kollegen hatte
bisher noch nichts von der Existenz der S3-Leitlinie Depression gehört.
Hauptablehnungsgrund war der hohe Zeitaufwand, der sowohl für die Schulungen (am Wochenende
bzw. in der Freizeit!), die Fallkonferenzen als auch für die individuelle Betreuung
der Patienten erforderlich ist. Positiv aufgenommen wurde das Konzept, die längerfristige
Betreuung des Patienten auf nichtärztliche Fallmanager zu übertragen. Leider ist es
bis heute unklar, wie die Ausbildung eines solchen Fallmanagers, der Patienten mit
einer potenziell lebensbedrohlichen Erkrankung (Suizidgefahr!) betreut, aussehen soll,
woher diese neue Berufsgruppe überhaupt kommen soll und wie das Ganze zu finanzieren
wäre. Weitere Ablehnungsgründe betrafen den zu erwartenden hohen bürokratischen Aufwand.
Zwei Drittel der befragten niedergelassenen Ärzte waren mit der Zusammenarbeit mit
Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie zufrieden, würden also an der bisherigen
Kooperation festhalten wollen. Problematisch sei es aber, einen Vorstellungstermin
beim Spezialisten zeitnah zu erhalten. 81 % gaben an, einen ersten Konsultationstermin
beim Psychiater innerhalb von einem Monat buchen zu können, beim Psychotherapeuten
dauerte es länger als 3 Monate. Die Zahlen decken sich gut mit einer kürzlich durchgeführten
Befragung von 2500 psychologischen Psychotherapeuten in Deutschland [2]. Danach können nur 5 % aller Psychotherapeuten einen Therapieplatz sofort anbieten.
Durchschnittlich mussten Patienten 79 Tage warten – in Großstädten 62 Tage und in
Kleinstädten 104 Tage. Dies ist für Menschen mit einer depressiven Phase, hohem Leidensdruck
und möglicherweise auch Suizidalität keine Option. Deshalb bleibt dem Hausarzt häufig
nur die Überweisung in die Klinik, was wiederum von nicht wenigen Patienten abgelehnt
wird.
Es ist zu hoffen, dass es nicht dazu kommt, dass ehrgeizige Gesundheitspolitiker gemeinsam
mit einsparungsmotivierten Kassenvertretern und ausschließlich universitär tätigen
Kollegen ein DMP Depression entwickeln, das auf dem Papier einen Idealzustand skizziert,
der sich aber in der ambulanten Versorgung depressiv erkrankter Menschen gar nicht
umsetzen lässt. Positive Ergebnisse im Hinblick auf ein DMP Depression haben sich
bisher nur im Rahmen von ausreichend finanzierten Modellprojekten mit kleinen Gruppen
hochmotivierter Haus- und Fachärzte ergeben [3]. Es sei ausdrücklich davor gewarnt, den Hausärzten und Allgemeinmedizinern bundesweit
ein DMP Depression überzustülpen, ohne die hier skizzierten Bedenken der niedergelassenen
Kollegen ausreichend zu berücksichtigen. Es gibt bisher keine ausreichende Evidenz
dafür, dass ein DMP Depression wirklich die Behandlungsqualität der betroffenen Patienten
verbessert und dass positive Erfahrungen mit DMP-Projekten bei somatischen Erkrankungen
ohne Weiteres auf den psychiatrischen Bereich übertragen werden können. Sinnvoller
wäre es, die Position eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie wieder attraktiver
zu machen. Aktuell ist es so, dass der niedergelassene Facharzt für das gesamte Quartal
weniger in Rechnung stellen kann als ein niedergelassener Psychotherapeut für eine
einzige Sitzung! Die enormen Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Fachrichtungen
im niedergelassenen Bereich haben erheblich dazu beigetragen, dass die Fachrichtung
Psychiatrie und Psychotherapie für viele Medizinstudierende unattraktiv geworden ist
– mit der Folge eines weiter zunehmenden Mangels an niedergelassenen Psychiatern.
Auch die psychiatrischen Institutsambulanzen an den Kliniken sollten weiter ausgebaut
und ausreichend finanziert werden. An dieser Stelle muss gehandelt werden, wenn depressiv
erkrankte Menschen zukünftig auch ambulant mit hoher Qualität behandelt werden sollen.