Z Sex Forsch 2016; 29(03): 295-302
DOI: 10.1055/s-0042-114385
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Publication Date:
26 September 2016 (online)

Robert Beachy. Das andere Berlin. Die Erfindung der Homosexualität. Eine deutsche Geschichte 1867 – 1933. München: Siedler 2015. 462 Seiten, EUR 24,99

Die Homosexualität ist eine deutsche Erfindung! Diese zentrale These des US-amerikanischen Historikers Robert Beachy lässt sich bereits unschwer dem Cover seiner jüngsten Untersuchung entnehmen. Freilich ist hiermit nicht, wie der Titel der deutschen Übersetzung suggeriert, die „Erfindung“ des gleichgeschlechtlichen Begehrens als solches gemeint. Vielmehr geht es um „die Entstehung einer auf einer unverrückbaren sexuellen Orientierung basierenden Identität“, die Beachys Urteil zufolge „ein ursprünglich deutsches und insbesondere ein Berliner Phänomen war“ (S. 13). Die Originalausgabe des Buches trägt den insofern präziseren Titel: „Gay Berlin. Birthplace of a Modern Identity“.

Vorab ist zu bemerken, dass Beachy sich vorrangig mit der Geschichte der männlichen Homosexualität befasst. Die Geschichte gleichgeschlechtlich liebender Frauen sei nicht immer analog dazu verlaufen und verdiene deshalb eine gesonderte Betrachtung.

In einer umfassenden und durch zahlreiche biografische Beispiele sehr anschaulichen Darstellung beschreibt Beachy die Entstehung einer homosexuellen Subkultur in Berlin, durch welche die Stadt vor 1933 zu einem Kristallisationspunkt homosexueller Identitäten geworden ist. So wird hier zwar eine in erster Linie deutsche Geschichte erzählt, die jedoch hinsichtlich der Herausbildung globaler homosexueller Identitäten auch über die Landesgrenzen hinaus relevant ist. Immer wieder richtet sich die Perspektive des Verfassers vergleichend auf die Situation in anderen europäischen Ländern, wenn auch vornehmlich, um deutsche Besonderheiten hervorzuheben. So schildert Beachy etwa, dass bereits in mehreren urbanen Zentren Europas vor der Mitte des 19. Jahrhunderts homosexuelle Subkulturen existierten. Die Vorstellung von einer (homo)sexuellen Persönlichkeit sei jedoch ein relativ neues Konzept, dessen Entstehung wiederum insbesondere mit der Geschichte Berlins verknüpft sei. Der Ausgangspunkt der Untersuchung ist somit folgerichtig (und ungeachtet einiger Bezugnahmen auf die Vorgeschichte der gleichgeschlechtlichen Liebe) die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, in welcher der Diskurs über Homosexualität entscheidend an Fahrt aufnahm. Hiervon ausgehend spannt Beachy den Bogen seiner Erzählung bis zum Jahr 1933, das mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten eine deutliche Zäsur in der Geschichte der Homosexualität markiert.

Die Darstellung umfasst acht Kapitel in Form historischer Episoden. In diesen Kapiteln wiederum spiegeln sich vier Kernelemente, anhand derer sich laut Beachy die Entstehung einer homosexuellen Identität innerhalb des deutschen respektive Berliner Milieus verorten lasse: die Kriminalisierung der (männlichen) Homosexualität, die Forschungsmethodologien der Forensik und Psychiatrie im 19. Jahrhundert, das öffentliche Engagement des Bildungsbürgertums gegen die Kriminalisierung sowie die relativ freie Presse. Des Weiteren, so wird schnell deutlich, misst Beachy der Manifestation von Konzeptionen der Homosexualität in Wort und Schrift eine große Bedeutung bei. So verweist er etwa auf die deutsche Erfindung des Wortes „homosexuell“ (1869), zu dem es international zunächst kein Äquivalent gegeben habe.

Zunächst widmet sich Beachy dem ersten bekennenden Homosexuellen der Weltgeschichte, Karl Heinrich Ulrichs, der für gleichgeschlechtlich begehrende Menschen die Bezeichnung des „Urnings“ schuf und zudem eine Debatte über den juristischen Umgang mit Homosexualität anstoßen konnte. Hieran und am später angeführten Beispiel Magnus Hirschfelds wird deutlich, inwiefern durch die Diskursivierung der Homosexualität mittels entsprechender Definitions- und Theoriebildung erstmals eine identitätsstiftende Projektionsfläche für homosexuelle Menschen geschaffen wurde, die wiederum wesentliche Voraussetzung für die Gemeinschaftsbildung Homosexueller war. Beachy unterstreicht somit anschaulich die kaum zu unterschätzende Bedeutung von Begriffen, Theorien und Definitionen für das Entstehen eines homosexuellen Milieus und einer dazugehörigen Subkultur. Diese Leistung der frühen Aktivisten verdient Anerkennung, wenngleich vielleicht der Hinweis angebracht wäre, dass Definitionen sexueller Identitäten nicht nur befreienden, sondern oftmals auch begrenzenden Charakter haben.

Die verschiedenartigen von Beachy vorgestellten Themenkomplexe verdeutlichen, inwiefern durch das Zusammenspiel von wissenschaftlich-intellektueller Theoriebildung (die über Hans Blüher sogar bis in streng konservative Gesellschaftskreise hineinwirkte), das Engagement für eine Entkriminalisierung (z. B. durch das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee Hirschfelds sowie andere Organisationen) und schließlich gesellschaftlich-politische Ereignisse (wie etwa den sogenannten Eulenburg-Skandal) die Diskussion über Homosexualität in Deutschland befördert und in eine breite Öffentlichkeit getragen wurde.

Speziell in Berlin hätten nicht zuletzt auch lokale Bedingungen (wie etwa die „Duldungspolitik“ der Berliner Polizei) dazu geführt, dass sich eine über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannte Subkultur etablieren konnte. Zahlreiche einschlägige Clubs, Bars und Theater lockten Touristen aus aller Welt in die Stadt. Daneben existierte ein reiches Angebot an Veranstaltungen und Zeitschriften, die sich gezielt an Homosexuelle richteten, sowie eine florierende gleichgeschlechtliche Prostitution.

Es gelingt Beachy, die relativ liberale Atmosphäre sehr anschaulich zu beschreiben, die sich, begünstigt durch vielfältige Faktoren, in Berlin von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1933 zu einem zentralen Charakteristikum der Stadt entfaltete und in der Homosexualität mehr oder weniger geduldet und für jedermann offen sichtbar wurde. Durch zahlreiche gut gewählte biografische Beispiele und Anekdoten bleibt die Arbeit dicht an ihrem gesellschafts- und diskursgeschichtlichen Untersuchungsgegenstand und ist erfreulich gut lesbar. Sowohl thematisch vorgebildete Leser_innen als auch interessierte Neueinsteiger_innen sollten dabei auf ihre Kosten kommen.

Angenehmerweise fasst Beachy am Ende eines jeden Kapitels dessen Ergebnisse kurz zusammen. Es wäre dennoch wünschenswert gewesen, wenn er der abschließenden Zusammenfassung, Auswertung und Einordnung seiner Untersuchung im Schlussteil des Buches etwas mehr Platz eingeräumt hätte.

Am Ende der Weimarer Republik waren die Aktivist_innen und Reformer_innen, die gegen eine Kriminalisierung der Homosexualität kämpften, ihrem Ziel so nah wie nie zuvor (und daraufhin für eine lange Zeit nicht mehr). Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurden alle Hoffnungen dann allerdings jäh zerschlagen (tragischerweise hatten Mitglieder homosexueller Organisationen in Verkennung der Gefahr die NS-Bewegung anfänglich noch unterstützt). Der Fortgang der historischen Ereignisse wird von Beachy in Form eines kurzen Ausblicks skizziert. So regt das Buch zur Lektüre weiterführender Untersuchungen an, die zur Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus sowie zur Neuformierung homosexueller Bewegungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges glücklicherweise bereits vorliegen.

Moritz Liebeknecht (Hamburg)