Psychiatr Prax 2016; 43(07): 357-358
DOI: 10.1055/s-0042-114582
Debatte: Pro & Kontra
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Disease-Management-Programm Depression (DMP) – Pro

Disease Management Program Depression – Pro
Anne Berghöfer
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
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Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. Anne Berghöfer
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Luisenstraße 57
10117 Berlin

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
12. Oktober 2016 (online)

 

Die Depression, unter diesem Begriff sowohl ätiologisch als auch phänomenologisch ein völlig uneinheitliches Krankheitsbild, ist aus verschiedenen Gründen zur Volkskrankheit geworden [1] und steht in den Industrienationen, aber inzwischen auch weltweit, an vorderster Front der Ursachen für mit Behinderung verbrachter Lebensjahre [2]. Die diagnostizierte Depression zählt mit einer Lebenszeitprävalenz von bis zu 18,6 % zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland [3]. Rund 60 % der Patienten leiden an mindestens einer komorbiden psychischen Störung.

Ein erheblicher Teil der Depressionen verläuft rezidivierend, chronisch oder erfährt Komplikationen wie vorzeitige Berentung, Therapieresistenz oder Entstehen einer somatischen Begleiterkrankung. Die Suizidrate ist dramatisch erhöht. Depressive haben 4-fach mehr Arbeitsunfähigkeitstage als andere Patienten.

Die Behandlungsfrequenz und -qualität hinkt jedoch weit hinter diesen Zahlen hinterher. Nach wie vor haben wir im deutschen Gesundheitswesen eine Unter- und Fehlversorgung dieser Patienten, die wesentlich auf die folgenden Ursachen zurückzuführen ist: 1. eine oft fehlende Orientierung an Grundsätzen einer evidenzbasierten Versorgung, 2. eine mangelnde Kooperation zwischen den Versorgungssektoren und fehlendes Management der Behandlungsschnittstellen und 3. die mangelnde Einbindung des Patienten und seines Umfelds in den Therapieprozess [4].

Mit diesen Zahlen qualifiziert sich die Depression ohne Zweifel als eine Erkrankung, für die die Entwicklung eines Disease-Management-Programms (DMP) dringend geboten scheint, also eines strukturierten Behandlungsprogramms, in dem Behandlungsprozesse bei chronisch Kranken über den gesamten Verlauf der Erkrankung und über die Grenzen der einzelnen Leistungserbringer hinweg koordiniert und evidenzbasiert erfolgen, um Folgeschäden und Komplikationen zu vermeiden, eine bedarfsgerechte und wirtschaftliche Versorgung zu sichern und Versorgungsmängel wie Über-, Unter- und Fehlversorgung abzubauen. DMPs sollen Anreize setzen, die Behandlung zu optimieren, die Zusammenarbeit der Leistungserbringer zu fördern und somit diagnostische und therapeutische Abläufe besser miteinander zu verzahnen [5].

Die Depression gehörte ursprünglich zu den sieben chronischen Erkrankungen, die der Koordinierungsausschuss der Spitzenverbände, Vorgängergremium des heutigen Gemeinsamen Bundesausschusses, als vorrangig für die Entwicklung von DMPs nach § 137f SGB V, benannt hatte. Bis heute ist jedoch neben den seit Jahren existierenden DMPs im somatischen Bereich kein DMP für Depression zugelassen. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit hat immerhin 2015 begonnen, Leitlinienrecherchen zur Depression durchzuführen.

Vorbilder und Evidenz für die Wirksamkeit gibt es genug: Modelle eines Disease Managements der Depression wurden vor Jahrzehnten in den USA entwickelt, wo sie unter dem Begriff „collaborative care“ ein umfassendes Versorgungskonzept beinhalten, welches z. B. vom Hausarzt oder anderen Akteuren im Versorgungsnetz koordiniert wird. Kernelemente sind: 1) Depressionsscreening mit strukturierten, validierten Messinstrumenten, 2) Monitoring der Symptome unter der Therapie, 3) Verwendung leitlinienbasierter Behandlungsverfahren, 4) regelmäßige Follow-up-Visiten, 5) Hausarzt-Facharzt-Zusammenarbeit, 6) Assistenz und niederschwellige Überweisungswege, 7) Patientenedukation und 8) Einbindung nicht-ärztlicher Professionen im Gesundheitswesen als Case-Manager [6]. Ausgereifte Versorgungsmodelle erwiesen sich in wissenschaftlichen Untersuchungen gegenüber der herkömmlichen Regelversorgung als überlegen bei der Reduktion der Krankheitsschwere, aber auch im Hinblick auf Patientenzufriedenheit, Adhärenz und Kosteneffektivität [7]. Belege für die Machbarkeit und Wirksamkeit des Konzepts im deutschen Primärarztsystem gibt es auch [8]. Dabei ist durchaus einschränkend zu sehen, dass die Wirksamkeitsbelege für das Collaborative Care-Konzept wesentlich auf das akademische Umfeld beschränkt sind und daher nicht uneingeschränkt auf die Routineversorgung im Rahmen eines deutschen DMPs zu übertragen sind.

Mit diesem Sachstand sind weder inhaltlich noch formal Barrieren zu verstehen, die die Entwicklung und Zulassung eines DMP Depression weiter hinauszögern. Die Voraussetzungen sind jedenfalls erfüllt: Depression ist eine zumeist chronisch verlaufende Erkrankung mit erheblichem Versorgungsdefizit in unserem Gesundheitssystem. Die gesetzlich vorgeschriebenen Zulassungsvoraussetzungen wären ebenfalls erfüllbar: 1. liegen evidenzbasierte Leitlinien vor, 2.) wären Qualitätssicherungsmaßnahmen analog zu anderen DMPs durchführbar, 3.) wären Schulungen von Patienten und Leistungserbringern analog zu den vielfältigen US-amerikanischen Modellen möglich und machbar, 4.) wären regelmäßige Befunddokumentationen unter Verwendung standardisierter, bereits zur Verfügung stehender Instrumente durchführbar.

DMP-Bestandteile sind bereits in einigen integrierten Versorgungsverträgen oder anderen Selektivverträgen zwischen Leistungsträgern und -erbringern enthalten, stehen dort aber immer nur einer regional oder nach Kassenzugehörigkeit beschränkten Anzahl von Betroffenen zur Verfügung. Ein DMP Depression würde jenseits dieser Vielzahl von Insellösungen einen flächendeckenden Zugang aller Betroffenen zu einer optimierten Versorgung ermöglichen, insbesondere den vielen Versicherten bei Krankenkassen, die sich bei den besonderen Versorgungsformen bislang gar nicht engagieren.

Ein häufiges Gegenargument ist, dass es für die Wirksamkeit der bisherigen DMPs im somatischen Versorgungsbereich keine überzeugenden Belege gebe, stattdessen aber der bürokratische Aufwand für den Leistungserbringer enorm zugenommen habe. In der Tat ist eine zentrale DMP-Evaluation nur begrenzt aussagefähig, kann aber zumindest einen fairen Vergleich zwischen den DMP-Versorgten und den routineversorgten Depressiven ermöglichen. Warum also, anstatt gleich das ganze Modell eines DMP Depression zu beerdigen, nicht zunächst an einer Optimierung der beklagten Merkmale arbeiten: eine vernünftige Begrenzung der Dokumentation auf die für den Wirksamkeitsnachweis erforderlichen Bestandteile sowie eine Ergänzung einer schlanken zentralen Evaluation durch methodisch gut geplante Begleitforschung. Ein aufwendiges und durch die Mehrzahl der Ärzte nicht zu leistendes Fallmanagement des Patienten kann auf andere Berufsgruppen übertragen werden, für die Wirksamkeit und Machbarkeit dieser Alternativen gibt es ausreichend Evidenz. Dabei muss das Fallmanagement nicht gleich in die Hände der Krankenversicherungen übertragen werden, wie es in den US-amerikanischen Modellen häufig der Fall ist, sondern kann in der Hand der Arztpraxis selbst bleiben.

Ein weiteres Gegenargument ist, dass sich die Leistungserbringer womöglich nicht – wie für DMPs gefordert – auf gemeinsame Behandlungsleitlinien einigen können. Eine nationale Versorgungsleitlinie Depression gibt es jedoch längst, erstellt unter größtmöglicher Partizipation diverser Gruppen im Gesundheitswesen [9], sie wird nur zu wenig angewendet. Das darf aber kein Gegenargument gegen ein DMP Depression sein, sondern muss motivieren, für den Praktiker überschaubare Leitlinienversionen und Algorithmen zu entwickeln.

Schließlich dürfte ein großer Vorteil des DMPs die Einbeziehung von somatischer Komorbidität in das psychiatrische Behandlungskonzept sein. Ein erheblicher Anteil der Depressiven ist von somatischen Störungen betroffen, die gar nicht oder nicht ausreichend versorgt werden, nicht zuletzt, weil die Depression selbst eine Barriere für die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen darstellt [10]. Andersherum kann somatische Multimorbidität eine Depression verursachen oder verstärken. Folglich muss somatische und psychiatrische Versorgung verzahnt werden.

Das Plädoyer für ein DMP Depression sei wie folgt zusammengefasst:

Die Depression ist eine Volkskrankheit mit häufig längerdauerndem und chronischem Verlauf und Belegen für erhebliche Unter- und Fehlversorgung im deutschen Gesundheitswesen. Auf der Basis der vorhandenen aktuellen evidenzbasierten Versorgungsleitlinie, vorhandener gut etablierter standardisierter Dokumentationsmaterialien sowie einer Vielzahl von wissenschaftlich untersuchten Versorgungsmodellen als Vorbild darf der letzte Schritt einer Konsentierung des Vorgehens und der Implementierung in die Routineversorgung nicht mehr durch Argumente wie Bürokratisierung und fehlendem Wirksamkeitsnachweis verhindert werden.


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Anne Berghöfer

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  • Literatur

  • 1 Stoppe G, Bramesfeld A, Schwartz FW Hrsg. Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven. Heidelberg: Springer; 2006
  • 2 Lopez AD, Mathers CD, Ezzati M et al. Global and regional burden of disease and risk factors, 2001: systematic analysis of population health data. Lancet 2006; 367: 1747-1757
  • 3 Jacobi F, Wittchen HU, Holting C et al. Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychol Med 2004; 34: 597-611
  • 4 Bramesfeld A, Grobe T, Schwartz FW. Who is treated, and how, for depression? An analysis of statutory health insurance data in Germany. Soc Psychiatry Psychiatric Epidemiol 2007; 42: 740-746
  • 5 Bundesversicherungsamt. Disease Management Programme (DMP). Im Internet: http://www.bundesversicherungsamt.de/weiteres/disease-management-programme.html (Stand 3.8.2016)
  • 6 Katon W, Robinson P, Von Korff M et al. A multifaceted intervention to improve treatment of depression in primary care. Arch Gen Psychiatr 1996; 53: 924-932
  • 7 Neumeyer-Gromen A, Lampert T, Stark K et al. Disease management programs for depression: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Med Care 2004; 42: 1211-1221
  • 8 Gensichen J, von Korff M, Peitz M et al. Case management for depression by health care assistants in small primary care practices: a cluster randomized trial. Ann Int Med 2009; 151: 369-378
  • 9 DGPPN, BÄK, KBV et al. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression-Langfassung. 1. Aufl. Version 5. 2009. zuletzt verändert: Juni 2015. Im Internet: http://www.leitlinien.de/nvl/depression/ (Stand: 3.8.2016)
  • 10 Hewer W, Schneider F. Somatische Morbidität bei psychisch Kranken. Nervenarzt 2016; 87: 787-801

Korrespondenzadresse

Priv.-Doz. Dr. med. Anne Berghöfer
Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Luisenstraße 57
10117 Berlin

  • Literatur

  • 1 Stoppe G, Bramesfeld A, Schwartz FW Hrsg. Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven. Heidelberg: Springer; 2006
  • 2 Lopez AD, Mathers CD, Ezzati M et al. Global and regional burden of disease and risk factors, 2001: systematic analysis of population health data. Lancet 2006; 367: 1747-1757
  • 3 Jacobi F, Wittchen HU, Holting C et al. Prevalence, co-morbidity and correlates of mental disorders in the general population: results from the German Health Interview and Examination Survey (GHS). Psychol Med 2004; 34: 597-611
  • 4 Bramesfeld A, Grobe T, Schwartz FW. Who is treated, and how, for depression? An analysis of statutory health insurance data in Germany. Soc Psychiatry Psychiatric Epidemiol 2007; 42: 740-746
  • 5 Bundesversicherungsamt. Disease Management Programme (DMP). Im Internet: http://www.bundesversicherungsamt.de/weiteres/disease-management-programme.html (Stand 3.8.2016)
  • 6 Katon W, Robinson P, Von Korff M et al. A multifaceted intervention to improve treatment of depression in primary care. Arch Gen Psychiatr 1996; 53: 924-932
  • 7 Neumeyer-Gromen A, Lampert T, Stark K et al. Disease management programs for depression: a systematic review and meta-analysis of randomized controlled trials. Med Care 2004; 42: 1211-1221
  • 8 Gensichen J, von Korff M, Peitz M et al. Case management for depression by health care assistants in small primary care practices: a cluster randomized trial. Ann Int Med 2009; 151: 369-378
  • 9 DGPPN, BÄK, KBV et al. S3-Leitlinie/Nationale VersorgungsLeitlinie Unipolare Depression-Langfassung. 1. Aufl. Version 5. 2009. zuletzt verändert: Juni 2015. Im Internet: http://www.leitlinien.de/nvl/depression/ (Stand: 3.8.2016)
  • 10 Hewer W, Schneider F. Somatische Morbidität bei psychisch Kranken. Nervenarzt 2016; 87: 787-801

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