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DOI: 10.1055/s-0042-119790
Assistierter Suizid/assistierte Selbsttötung für Menschen mit schweren psychischen Störungen – Kontra
Assisted Suicide for People with Severe Mental Illness – ContraKorrespondenzadresse
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
07. November 2016 (online)
Die Selbstverständlichkeit, mit der die Verhinderung eines Suizids zu den zentralen Aufgaben in der psychiatrischen Begleitung gehört, wird durch den Anstieg von Fällen assistierten Suizids bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung wie auch durch die zunehmende Diskursivierung (zu der auch diese Debatte gehört) erschüttert. Zwar geht es in der Sterbehilfedebatte vor allem um unheilbare körperliche Erkrankungen, die mit starken Schmerzen und/oder Einschränkungen einhergehen. Assistierter Suizid soll dort möglich sein, wo ein absehbarer und leidvoller Sterbeprozess durch die Bereitstellung eines Medikaments verkürzt wird. Galten zum Schutz von Patienten psychische Störungen bisher weitestgehend als Ausschlussgrund für die Inanspruchnahme dieser „Dienstleistung“, können in einigen Ländern nun jedoch prinzipiell auch Patienten mit psychischen Erkrankungen die gewünschte Beihilfe zum Suizid erhalten. Für immerhin etwa ein Drittel der in einer niederländischen Studie befragten Ärzte/Ärztinnen war es vorstellbar, ein solches Gesuch bei Patienten mit psychischen Erkrankungen oder Demenzen im Früh- oder Spätstadium sowie bei „Lebensmüden“ zu befürworten [1].
Zweifellos gibt es aus subjektiver Sicht eines schwer erkrankten Menschen Gründe und Gefühlslagen, die den Tod als einzige Lösung erscheinen lassen. Ein Todeswunsch kann auch für nahestehende Personen verstehbar sein. „Assistierter Suizid“ in Form einer auf einem definierten Verfahren fußenden Leistung tritt allerdings aus der Sphäre des Privaten, Mitmenschlichen heraus und wird zu einem „juridisch-politischen Projekt“, zu einer „bewusst herbeigeführten und staatlich legitimierten Beendigung von Leben“ [2]. Es wird gesellschaftlich anerkannt, dass der Tod eines bestimmten Menschen die bessere Lösung ist. Umso beklemmender, wenn es in der Debatte nun auch um die stigmatisierten psychischen Erkrankungen geht. Dabei steht weniger eine erneute, an völkischen Motiven orientierte Bevölkerungspolitik zu befürchten als vielmehr die zunehmende „Euthanasie von unten“ als Ausdruck einer „selbstbestimmten“ und „rationalisierten“ Lebens- und Todesgestaltung.
Abgesehen von der Frage, ob es erstrebenswert ist, in einer Gesellschaft zu leben, in der es „legitim“ ist, sich aufgrund psychischer Krankheiten zu töten (bzw. töten zu lassen), ergeben sich viele ungelöste Fragen und praktische Schwierigkeiten. Dem prinzipiellen Recht auf Selbstbestimmung und Gleichbehandlung steht der Schutz von Leben und Gesundheit der Patienten gegenüber. Die Beurteilung eines „adäquaten“ Sterbewunschs ist daher in der Praxis anhand bestimmter Kriterien zu bestimmen. So soll etwa geprüft werden, ob es sich um eine „hoffnungslose“ Situation handelt. Gelingt es bei metastasierenden Krebserkrankungen noch vergleichsweise gut, anhand bestimmter Parameter (z. B. Ausgangstumor und Grad der Metastasierung bei karzinogenen Erkrankungen) eine einigermaßen zuverlässige Prognose zu stellen, führen psychische Erkrankungen weder unumkehrbar zum Tod noch ist deren Verlauf vorhersehbar. Weiterhin soll geprüft werden, ob der Todeswunsch zwar Folge einer psychischen Erkrankung, aber dennoch „selbstbestimmt“ und nicht etwa ein Symptom der Krankheit ist. Eine klare Abgrenzung ist angesichts der Komplexität psychiatrischer Krankheitsbegriffe wie auch rationaler Entscheidungstheorien bereits theoretisch schwierig. Das Vorliegen von Entscheidungskompetenz muss weder Todeswunsch als Symptom der Erkrankung noch die Beeinflussung durch Dritte ausschließen. Wie schwierig ein sicheres Urteil in der Praxis ist, zeigt eine niederländische Studie, wonach die ärztlichen Gutachten bei einem erheblichen Teil zu unterschiedlichen Beurteilungen hinsichtlich Entscheidungsfähigkeit, Untragbarkeit, Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit der Lebenssituation kamen [3] [4]. Unter den verstorbenen Patienten waren auch etliche, deren Gesuch im ersten Verfahren abgelehnt und erst im zweiten Anlauf bewilligt wurde – verstörend ist dabei, dass dies vor allem durch die Inanspruchnahme der Dienste einer mobilen und durch die niederländische „Right to Die“ Vereinigung finanzierten „Lebensendeklinik“ gelungen war, die sich speziell an zuvor abgewiesene Patienten richtet [4]. Angesichts des zentralen Kriteriums der Dauerhaftigkeit eines subjektiven Todeswunschs stimmen auch die Befunde einer belgischen Studie nachdenklich, wonach 11 von 48 Patienten, die eine Bewilligung erhalten hatten, ihr Selbsttötungsgesuch zurückzogen bzw. aufschoben; einige dieser Patienten gaben an, dass das Wissen um den positiven Entscheid zu einem „Seelenfrieden“ geführt habe [5]. Sollte die Neurahmung der Lebenssituation nicht zuvorderst in therapeutischen Prozessen möglich sein? Und wie lebt es sich mit einer offiziellen Bestätigung über die „untragbare“ und „hoffnungslose“ eigene Lebenssituation?
Es hätte eine verheerende Signalwirkung, würden psychische Erkrankungen durch die Debatte um den assistierten Suizid in die semantische Nähe von unheilbaren Krankheiten und unerträglichen Schmerzenszuständen gerückt. Eine solche Perspektive verstellt nicht nur den Blick darauf, dass es sich bei einem Großteil der psychischen Erkrankungen um gut behandelbare Störungen handelt. Sie untergräbt auch alle Hoffnung auf ein befriedigendes, sinnerfülltes Leben trotz langfristiger und/oder schwereren Erkrankungsverläufe, wie dies der Recovery-Ansatz verspricht. Welche Strahlkraft auf gesellschaftliche Repräsentationen psychischer Erkrankungen, auf den Umgang mit einer psychischen Erkrankung sowie auf das eigene Berufsbild hätte es, wenn psychiatrische Fachkräfte anerkennen, dass ein Leben mit psychischer Krankheit – wenn auch „nur“ in Einzelfällen – nicht lebenswert ist?
In der psychiatrischen Praxis wird das Suizidrisiko häufig durch das Ausmaß an Zwangsmaßnahmen gesteuert: Je mehr Zwang, desto geringer das Suizidrisiko und umgekehrt. Die Verhinderung eines Suizids darf aber nicht (nur) durch die Anwendung von Zwang erfolgen. Eine zeitgemäße Psychiatrie, die den Menschen auch in seinen sozialen und lebensgeschichtlichen Bezügen stärken will, setzt auch dort an, wo Menschen aufgrund einer psychischen Erkrankung sich nicht mehr als der Gesellschaft zugehörig empfinden. Wie die niederländische Arbeitsgruppe berichtet, lebten über die Hälfte der durch einen assistierten Suizid verstorbenen Menschen sozial isoliert [3].
Die Beihilfe zum Suizid (sei es durch ein entsprechendes Gutachten oder durch die Bereitstellung des todbringenden Medikaments) und das damit einhergehende Einverständnis zum Tod als Lösung für seelischen Leidensdruck stellt die Glaubwürdigkeit psychiatrischen Handelns infrage. Auch wenn es nicht immer gelingt, einen Suizid zu verhindern: Es darf keinen Zweifel daran geben, dass ein solcher von den begleitenden Professionellen nicht befürwortet oder gar unterstützt wird. Die Antwort der Psychiatrie als gesellschaftliches Teilsystem auf unerträgliches Leiden eines Menschen in seinem sozialen (und daher prinzipiell veränderbaren) Kontext darf nicht Beihilfe zum Suizid sein, sondern die Nutzung aller zur Verfügung stehenden Hilfen. Äquivalent zu der im Bereich der körperlichen Erkrankungen geforderten Intensivierung palliativer Behandlungsmöglichkeiten sind dies im Kontext psychischer Erkrankungen die bestmöglichen, auf die individuelle Situation der betroffenen Person zugeschnittenen Hilfen und Unterstützung in Form (sozio)therapeutischer und rehabilitativer Angebote, flankiert durch den Ausbau sozialpolitischer Maßnahmen zu Inklusion und Entstigmatisierung.
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Literatur
- 1 Bolt EE, Snijdewind MC, Willems DE et al. Can physicians conceive of performing euthanasia in case of psychiatric disease, dementia or being tired of living?. Journal of Medical Ethics 2015; 41: 592-598
- 2 Graefe S. Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe. Frankfurt: Campus; 2007
- 3 Doernberg SN, Peteet JR, Kim SYH. Capacity Evaluations of Psychiatric Patients Requesting Assisted Death in the Netherlands. Psychosomatics 2016; Jun 29 (Epub ahead of print)
- 4 Kim SYH, De Vries RG, Peteet JR. Euthanasia and Assisted Suicide of Patients With Psychiatric Disorders in the Netherlands 2011 to 2014. JAMA Psychiatry 2016; 73: 362-368
- 5 Thienpont L, Verhofstadt M, Van Loon T et al. Euthanasia requests, procedures and outcomes for 100 Belgian patients suffering from psychiatric disorders: a retrospective, descriptive study. BMJ Open 2015; 5: e007454
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Bolt EE, Snijdewind MC, Willems DE et al. Can physicians conceive of performing euthanasia in case of psychiatric disease, dementia or being tired of living?. Journal of Medical Ethics 2015; 41: 592-598
- 2 Graefe S. Autonomie am Lebensende? Biopolitik, Ökonomisierung und die Debatte um Sterbehilfe. Frankfurt: Campus; 2007
- 3 Doernberg SN, Peteet JR, Kim SYH. Capacity Evaluations of Psychiatric Patients Requesting Assisted Death in the Netherlands. Psychosomatics 2016; Jun 29 (Epub ahead of print)
- 4 Kim SYH, De Vries RG, Peteet JR. Euthanasia and Assisted Suicide of Patients With Psychiatric Disorders in the Netherlands 2011 to 2014. JAMA Psychiatry 2016; 73: 362-368
- 5 Thienpont L, Verhofstadt M, Van Loon T et al. Euthanasia requests, procedures and outcomes for 100 Belgian patients suffering from psychiatric disorders: a retrospective, descriptive study. BMJ Open 2015; 5: e007454

