Psychiatr Prax 2017; 44(01): 7-9
DOI: 10.1055/s-0042-121777
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die aktuelle Situation der Versorgung von Flüchtlingen in psychiatrischen Kliniken in Deutschland – Eine Bestandsaufnahme der BDK

The Current Situation of Care for Refugees in Psychiatric Hospitals in Germany – A Survey of the BDK
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
1   LVR-Klinik Köln, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln
,
Mario Schmitz-Buhl
1   LVR-Klinik Köln, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln
,
Jonas Schaffrath
1   LVR-Klinik Köln, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln
,
Thomas Pollmächer
2   Zentrum für Psychische Gesundheit, Klinikum Ingolstadt
› Institutsangaben
Weitere Informationen

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
LVR-Klinik Köln, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln
Wilhelm-Griesinger-Straße 23
51109 Köln

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
03. Januar 2017 (online)

 

Neben den integrativen Herausforderungen für die Gesellschaft bedeutet das aktuell hohe Aufkommen von Flüchtlingen aus den verschiedenen Krisengebieten auch eine Herausforderung für die medizinische und insbesondere für die psychosoziale Versorgung. In großen internationalen Studien und Metaanalysen wurde eine hohe Prävalenz von schweren psychischen Erkrankungen bei Geflüchteten nachgewiesen [1] [2] [3] [4]. So berichtete die bislang umfangreichste Metaanalyse mit Daten über mehr als 80 000 Geflüchtete Prävalenzen von jeweils ca. 30 % für die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und für depressive Störungen [3].

Die Größenordnung des Aufkommens psychischer Erkrankungen in der heutigen Population von Geflüchteten in Deutschland und die daraus resultierenden Therapiebedarfe können nur geschätzt werden, da es hierfür kaum belastbare repräsentative Daten gibt. Uns ist lediglich eine Untersuchung an einer Zufallsstichprobe von 125 Asylsuchenden in einer bayerischen Erstaufnahmeeinrichtung bekannt: Diese ergab Prävalenzen von ca. 25 % für die Gruppe der F4-Diagnosen, darunter 17,6 % für die PTBS und ca. 13 % für affektive Störungen; darüber hinaus gaben 6 % der Menschen Suizidgedanken an [5].

Daten zu der aktuellen Situation der Versorgung von Flüchtlingen in psychiatrischen Kliniken fehlen mit Ausnahme eines Berichts aus einem großen Fachkrankenhaus im Rheinland [6]. Die BDK führte im Zeitraum Februar bis März und Juni/Juli 2016 eine Befragung ihrer Mitglieder mittels survey monkey durch, mit dem Ziel einen ersten orientierenden Eindruck über die bundesweite Situation bei der klinisch-psychiatrischen Versorgung von Flüchtlingen zu erhalten. Die Befragung bezog sich auf das Jahr 2015. Der Gesamtumfang umfasste 5 Fragen zu Eigenschaften der Klinik (Größe, Bundesland, regionales Umfeld, ambulante Dienste) und 10 Fragen zum Umfang und Setting der nachgefragten und angebotenen Leistungen für Flüchtlinge, zum Diagnosespektrum, dem Umgang mit der Sprachbarriere und den Erfahrungen mit der Kostenerstattung. Insgesamt haben 67 von 209 Kliniken geantwortet; dies entspricht einem Rücklauf von 32 %. Die Ergebnisse wurden während der Frühjahrstagung der BDK im April 2016 vorgestellt.

Die Kliniken, die sich an der Befragung beteiligten, waren überwiegend mittelgroß bis groß (Behandlungsplätze: > 200: 46,3 %; 100 – 200: 38,8 %; < 100: 14,9 %). Ein relativ großer Anteil lag in NRW (32,8 %) und Bayen (17,9 %), die restlichen Kliniken verteilten sich auf die anderen Bundesländer mit Anteilen von 3 – 6 %. Das regionale Umfeld der Kliniken zeigte einen leichten Überhang ländlicher Regionen (38,8 %); ansonsten war die Verteilung zwischen städtischem und großstädtischem Umfeld sowie Ballungsraum etwa gleichmäßig (jeweils 23,9 %, 22,4 % und 14,9 %). Fast alle Kliniken hatten eine PIA (98,5 %) und mehr als die Hälfte verfügte über eine Traumaambulanz (56,7 %).

Nur 22,7 % der Kliniken gaben an, dass sie die Behandlung von Flüchtlingen zahlenmäßig genau erfassen; somit haben mehr als drei Viertel der Kliniken lediglich auf der Basis von Schätzungen geantwortet. Die Angaben zum Anteil der Flüchtlinge an den Behandlungsfällen finden sich in [Tab. 1]. In den meisten Fällen haben die Kliniken keine Probleme bei der Kostenerstattung angegeben (Probleme bei 21,3 % der stationären, 7,1 % der teilstationären und 18,8 % der ambulanten Fälle).

Tab. 1

Anteil von Flüchtlingen an den Behandlungsfällen im Jahr 2015.

Anteil an Fällen

MW ± SD

vollstationär, freiwillig

1,70 ± 1,26 %

vollstationär, geschützt

2,27 ± 1,45 %

teilstationär

0,34 ± 0,72 %

PIA

2,16 ± 2,30 %

Bei der Frage nach den häufigsten Ursprungsländern oder -regionen der Patienten wurde die Erstplatzierung überwiegend an Syrien vergeben (56,1 %), gefolgt von den Balkanländern (25,0 %), Afghanistan (13,7 %) und dem Irak (5,0 %). Die Zweitplatzierung ging in absteigender Folge an Afghanistan (33,3 %), Nordafrika (29,8 %), die Balkanländer (27,1 %) und Syrien (10,5 %); die Drittplatzierung an Afghanistan (27,5 %), die Balkanländer (20,8 %), Syrien (19,3 %) und den Irak (15,3 %); und die Viertplatzierung an den Irak (27,5 %), Nordafrika (25,5 %), die Balkanländer (12,5 %) und Afghanistan (11,8 %). Deutlich seltener erhielten der Iran und Pakistan hohe Platzierungen (Erst-, Zweit-, Dritt- oder Viertplatzierung für Iran: insgesamt 33,3 %; für Pakistan insgesamt 17,6 %).

Bei der Frage nach den wesentlichen Anliegen der Flüchtlinge wurde an erster Stelle die Behandlung (93,3 %), gefolgt von Diagnostik (50,0 %) und Attesten für Behörden (43,3 %) angegeben (mehrere Antworten möglich).

Die Angaben zu den häufigsten Diagnosen der Behandlungsfälle finden sich in [Abb. 1].

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Abb. 1 Häufigste Diagnosen bei den behandelten Flüchtlingen (F1: Abhängigkeitserkrankungen, F2: Psychosen, F3: affektive Störungen, F40: phobische Störungen, F41: sonstige Angststörungen, F43.0: akute Belastungsreaktion, F43.1: posttraumatische Belastungsstörung, F43.2: Anpassungsstörungen, F6: Persönlichkeitsstörungen).

Bei der Frage nach dem Umgang mit den Sprachbarrieren gaben 95 % an, dass sie sprachkundige Mitarbeitende hinzuziehen; 91,7 % nutzten Dolmetscher, 30,0 % nutzten Sprach- und Integrationsmittler (SIM) und 18,3 % nutzten Video- oder Telefondolmetscherdienste (mehrere Antworten möglich). Die Ausgaben für die Dolmetscher- und SIM-Dienste betrugen im Mittel 7746 ± 13 640 € mit einer erheblichen Varianz (2-mal > 10 000 €, 1-mal > 15 000 € und 1-mal > 50 000 €). Dolmetscher bzw. SIMs wurden überwiegend als sehr wichtig (73,0 %) oder wichtig (20,6 %) für die Arbeit mit den Flüchtlingen erachtet (eher unwichtig: 6,3 %; ganz unwichtig: 0 %).

25,8 % der Befragten gaben an, dass sie ein spezialisiertes Angebot für Flüchtlinge vorhalten und 19,7 % gaben an, dass sie ein solches planen. Entsprechend gaben 54,5 % der Befragten an, dass sie kein spezialisiertes Angebot vorhalten.

Die hier vorgestellte Befragung hat zweifelsohne erhebliche methodische Limitationen. Zwar war der Rücklauf der Befragung mit 32 % noch akzeptabel, andererseits basieren die Ergebnisse größtenteils auf Schätzungen. Die meisten Fragen wurden von allen oder fast allen Teilnehmern beantwortet, bei zwei Fragen (Anteil von Flüchtlingen an den Behandlungsfällen und Ausgaben für die Dolmetscher- und SIM-Dienste) erhielten wir jedoch Antworten von lediglich 16 Teilnehmern (entspricht einem Rücklauf von nur 7,7 %). Somit geben die Ergebnisse lediglich Hinweise bzw. eine allererste Orientierung. Unter Berücksichtigung dieser Limitationen können wir mit Vorsicht schlussfolgern, dass Flüchtlinge aktuell ca. 2 % des Patientenklientels im ambulanten und stationären Bereich psychiatrischer Kliniken ausmachen. In etwa 20 % der Fälle kommt es zu Problemen bei der Kostenerstattung. Das in der allgemeinen Flüchtlingspopulation prävalente Spektrum an psychischen Störungen mit einer Prädominanz von Belastungsstörungen und Depressionen findet sich auch im klinisch-psychiatrischen Hilfesystem wieder. Darüber hinaus werden aber auch häufig Abhängigkeitserkrankungen und Psychosen genannt, d. h. das Diagnosespektrum ist bei klinischen Flüchtlingspopulationen breiter im Vergleich zu der allgemeinen Flüchtlingspopulation. Als vorrangiges Anliegen der Betroffenen wird fast immer an erster Stelle die Behandlung angegeben, unabhängig davon, ob gleichzeitig auch Atteste für Behörden gewünscht wurden. Fast die Hälfte der Kliniken gibt an, dass sie ein Spezialangebot für psychisch kranke Flüchtlinge vorhalten oder ein solches planen. Die meisten Kliniken nutzen professionelle Dolmetscher bzw. SIMs und sie betrachten sie überwiegend als sehr wichtig für die Behandlung. Allerdings dürfte die ausgeprägte Varianz bei den angegebenen Kosten einen erheblich differierenden Umfang der Inanspruchnahme dieser Dienste widerspiegeln; dies dürfte wiederum mit der fehlenden Möglichkeit für eine Kostenerstattung zusammenhängen.

Angesichts der gesamtgesellschaftlichen Relevanz der Versorgung und Integration von Flüchtlingen sind einerseits fundiertere Datenerhebungen und andererseits Bemühungen um eine Verbesserung der Behandlungsbedingungen gerade im psychosozialen Bereich vordringlich. Dabei gibt es durchaus regionale Unterschiede in der Versorgungsorganisation und der Bereitstellung von Ressourcen. Beispielsweise stellt das Land NRW seit 2015 Mittel für bis zu 10 Therapiesitzungen bei traumatisierten Flüchtlingen zur Verfügung, die niederschwellig ohne Antragsverfahren abgerufen werden können (Beratung und Akutpsychotherapie, zzgl. Dolmetscher- oder SIM-Kosten; zunächst nur für Frauen, ab 2016 auch für Männer). Darüber hinaus stellt ein großer kommunaler Träger psychiatrischer Krankenhäuser in NRW Mittel für den Einsatz von SIMs zur Verfügung [6]. Dabei werden gute Erfahrungen mit dem Einsatz von Dolmetschern und SIMs auch in der Psychotherapie und Traumatherapie berichtet. Eine Ausweitung und einheitlich geregelte Finanzierung der spezialisierten Sprachmittlerdienste wäre eine Voraussetzung für eine flächendeckend gute psychosoziale Versorgung der Menschen mit Fluchterfahrung. Dazu gehört allerdings nicht nur die Sprachkompetenz, sondern auch eine kultursensible Kommunikation. Somit kommt dem Kompetenzerwerb des Personals in transkulturellen und migrations- bzw. flüchtlingsspezifischen Themen eine wichtige Rolle zu [6]. Eine gute psychosoziale Versorgung ist eine Voraussetzung für das Gelingen der Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft und damit eine wichtige Aufgabe und Herausforderung für unser Versorgungssystem.


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Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank (Foto: LVR)

Interessenkonflikt

Frau Prof. Dr. E Gouzoulis-Mayfrank gehört dem geschäftsführenden Vorstand der Bundesdirektorenkonferenz (BDK) an, Herr Prof. Dr. T. Pollmächer ist Vorsitzender des Vorstands, Herr M. Schmitz-Buhl und Herr J. Schaffrath haben keine wirtschaftlichen oder persönlichen Verbindungen im genannten Sinne.

  • Literatur

  • 1 Fazel M, Wheeler J, Danesh J. Prevalence of serious mental disorder in 7000 refugees resettled in western countries: a systematic review. The Lancet 2005; 365: 1309-1314
  • 2 Lindert J, Ehrenstein OS, Priebe S et al. Depression and anxiety in labor migrants and refugees – a systematic review and meta-analysis. Soc Sci Med 2009; 69: 246-257
  • 3 Steel Z, Chey T, Silove D et al. Association of torture and other potentially traumatic events with mental health outcomes among populations exposed to mass conflict and displacement: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2009; 302: 537-549
  • 4 Bogic M, Njoku A, Priebe S. Long-term mental health of war-refugees: a systematic literature review. BMC Int Health Hum Rights 2015; 15: 29
  • 5 Richter K, Lehfeld H, Niklewski G. Waiting for Asylum: Psychiatric Diagnosis in Bavarian Admission Center. Gesundheitswesen 2015; 77: 834-838
  • 6 Schaffrath J, Schmitz-Buhl M, Gün AK et al. Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Geflüchteten am Beispiel eines großen psychiatrischen Versorgungskrankenhauses im Rheinland. Psychother Psych Med 2016; (ePub ahead of print) DOI: 10.1055/s-0042-116081.

Korrespondenzadresse

Prof. Dr. Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank
LVR-Klinik Köln, Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität zu Köln
Wilhelm-Griesinger-Straße 23
51109 Köln

  • Literatur

  • 1 Fazel M, Wheeler J, Danesh J. Prevalence of serious mental disorder in 7000 refugees resettled in western countries: a systematic review. The Lancet 2005; 365: 1309-1314
  • 2 Lindert J, Ehrenstein OS, Priebe S et al. Depression and anxiety in labor migrants and refugees – a systematic review and meta-analysis. Soc Sci Med 2009; 69: 246-257
  • 3 Steel Z, Chey T, Silove D et al. Association of torture and other potentially traumatic events with mental health outcomes among populations exposed to mass conflict and displacement: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2009; 302: 537-549
  • 4 Bogic M, Njoku A, Priebe S. Long-term mental health of war-refugees: a systematic literature review. BMC Int Health Hum Rights 2015; 15: 29
  • 5 Richter K, Lehfeld H, Niklewski G. Waiting for Asylum: Psychiatric Diagnosis in Bavarian Admission Center. Gesundheitswesen 2015; 77: 834-838
  • 6 Schaffrath J, Schmitz-Buhl M, Gün AK et al. Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Geflüchteten am Beispiel eines großen psychiatrischen Versorgungskrankenhauses im Rheinland. Psychother Psych Med 2016; (ePub ahead of print) DOI: 10.1055/s-0042-116081.

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Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank (Foto: LVR)
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Abb. 1 Häufigste Diagnosen bei den behandelten Flüchtlingen (F1: Abhängigkeitserkrankungen, F2: Psychosen, F3: affektive Störungen, F40: phobische Störungen, F41: sonstige Angststörungen, F43.0: akute Belastungsreaktion, F43.1: posttraumatische Belastungsstörung, F43.2: Anpassungsstörungen, F6: Persönlichkeitsstörungen).