ergopraxis 2017; 10(02): 14-15
DOI: 10.1055/s-0042-122594
Wissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart – New York

Linda Kanzler – Blind vertrauen

Heike Meyer

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Publication Date:
03 February 2017 (online)

 

Als persönliche Assistentin begleitet Linda Kanzler blinde und sehbehinderte Menschen im Haushalt, beim Sport und bei Einkäufen. In ihrer Bachelorarbeit untersuchte die Ergotherapeutin, welche iOS Apps aktuell verfügbar sind, die eine sehende Hilfe oder teure Hilfsmittel ersetzen können.


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Linda Kanzler …

… ist 1990 in Graz geboren. Nach ihrer Matura war sie vier Monate als Au-pair in den USA. Sie begann, Lehramt zu studieren, und pflegte nebenbei ihre Großmutter. Deren Erzählungen über den blinden Urgroßvater, seine Lebensfreude und Leidenschaft fürs Klavierspielen faszinierten sie. Um das Studium zu finanzieren, arbeitete sie als Assistentin für den Blindenverband und begleitete Menschen mit eingeschränkter Sehfähigkeit bei Freizeitaktivitäten. Als sie vom Beruf Ergotherapie erfuhr, wechselte sie die Studienrichtung. Während des Bachelorstudiums absolvierte sie ein Praktikum im fast 700 Kilometer entfernten Stuttgart. Dort betreute sie eine Berufsschulklasse mit geistig und sehbehinderten Schülern. Im Juli 2016 schloss sie ihr Ergotherapiestudium an der FH Oberösterreich ab und heiratete kurz darauf ihren Mann, der im Alter von zwölf Jahren erblindet ist. Zusammen erfüllen sie sich nun einen Lebenstraum und gehen auf Weltreise.

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Abb.: privat

Die Bachelorarbeit

In ihrer Bachelorarbeit untersuchte Linda Kanzler, welche iOS Apps für blinde und sehbehinderte Menschen aktuell verfügbar sind und das Potenzial haben, eine sehende Hilfe oder ein teures Hilfsmittel ersetzen zu können.

Zunächst erfasste sie Barrieren im Lebensalltag Sehbehinderter, welche eine technische oder sehende Hilfe erfordern: ein Lebensmittelgeschäft auffinden, den Bezahlvorgang abwickeln oder den Inhalt einer Konservendose bestimmen. Hilfsmittel wie Messschablonen für Geldscheine oder Farberkennungsgeräte für Kleidungsstücke sind meist schwer erhältlich, kostspielig und ziehen nicht selten eine Stigmatisierung nach sich. Im Gegensatz dazu besitzt heute nahezu jeder ein Tablet oder Smartphone, das als gewöhnlicher Alltagsgegenstand gilt.

iOS Apps können in allen Lebensbereichen eine große Alltagserleichterung mit sich bringen.

Um Anwendungen zu finden, die explizit als Hilfsmittel für sehbehinderte Menschen entwickelt wurden, recherchierte Linda Kanzler im App Store, unter Google und im „International Handbook of Occupational Therapy Interventions“. Die Ergotherapeutin testete die Apps mit sechs blinden und sehbehinderten Menschen hinsichtlich Übersichtlichkeit, Bedienbarkeit, Einstellmöglichkeiten und Praktikabilität unter Alltagsbedingungen. Daraufhin erstellte sie eine Übersicht bezüglich Preis, Vor- und Nachteile und ordnete sie den relevanten Lebensbereichen des „Occupational Performance Model of Australia“ (OPM) zu.


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Ergebnis

Ziel der Bachelorarbeit war, ein Nachschlagewerk für die Ergotherapie zu erstellen, welches geeignete Apps als Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen auflistet. Die über 20 aufgefundenen iOS Apps umfassen die Lebensbereiche Selbsterhaltung, Produktivität und Freizeit. Zudem sind sie mit VoiceOver, einer von Apple bereits vorinstallierten Sprachausgabe, bedienbar. Diese Voraussetzungen erfüllen unter anderem Apps für Fotografie, Filmdeskriptionen, Barcodeleser, Texterkennung und Geldleser.

Ähnlich wie „Seeing Assistant Light“ übernimmt „Light Detector“ die Funktion, Lichtquellen und deren Intensität zu erkennen. So gelingt es einem nicht sehenden Menschen, nachdem sein Besuch gegangen ist, das Licht wieder zu löschen. Bei der farblichen Abstimmung der Kleidung bieten „Colour Visor“ und „Color ID Free“ Unterstützung. Mit „Be My Eyes“ ersetzt ein Netzwerk an Helfern, Sehbehinderten per Video- und Tonverbindung die visuelle Wahrnehmung. Der blinde Mensch hält zum Beispiel eine Milchpackung in die Kamera und fragt, wann diese abläuft. Die Antwort liefert ein Helfer.

Die meisten Applikationen gingen aus dem Test zufriedenstellend hervor. Sie bilden eine solide Basis, um ohne sehende Hilfe zurechtzukommen. Kritikpunkte waren eine teilweise nicht sinngemäße Übersetzung aus dem Englischen sowie laufende Kosten in Zusammenhang mit einem monatlichen Abo. Zudem fanden sich einige Apps, welche zwar nicht gezielt als Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen entwickelt wurden, jedoch hervorragend als solche einsetzbar sind. Die Preisspanne reichte von kostenfrei bis etwa 100 Euro.


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Fazit

Die Anwendung von iOS Apps bietet sich vor allem bei Klienten an, die sich der Herausforderung stellen, moderne innovative Technik als Hilfsmittel zu verwenden. Vorausgesetzt ist ein gewisses Maß an kognitiven und feinmotorischen Fähigkeiten. Die Anwendungen können eine große Alltagserleichterung mit sich bringen und sind für alle Lebensbereiche einsetzbar. Dennoch sollten blinde und sehbehinderte Menschen weitere kompensatorische Strategien beherrschen, um im Falle eines defekten Smartphones oder eines leeren Akkus nicht handlungsunfähig zu werden.

Heike Meyer


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Bachelorarbeit

Kanzler L. iOS Apps als Hilfsmittel für blinde und sehbehinderte Menschen. Linz: FH Gesundheitsberufe Oberösterreich; 2016


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4 Fragen an Linda Kanzler

Welche neuen Möglichkeiten hat Ihnen das Bachelorstudium eröffnet?

Das Studium ermöglicht mir, die Vielseitigkeit des Berufsfeldes Ergotherapie voll auszuschöpfen. Es hat mein Selbstvertrauen gestärkt, und ich kann überzeugt sagen: Ergotherapie ist mein Traumberuf.

Woraus schöpfen Sie in Ihrer Freizeit Kraft?

Ich liebe Radfahren – vor allem Tandem – und ich bin Torballschiedsrichterin im Blindensport. Zudem geben mir mein Ehemann und unsere gemeinsamen Reisen Kraft.

Was würden Sie sich für die Ergotherapie in Zukunft wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass in Österreich verschiedene Institutionen beginnen, Ergotherapeuten für die Arbeit mit blinden und sehbehinderten Menschen einzusetzen, und den Wert dieser Arbeit erkennen.

Gibt es jemanden, der in der Öffentlichkeit steht und den Sie als Mutmacher für blinde oder sehbehinderte Menschen ansehen?

Da fällt mir spontan Verena Bentele ein, die Behindertenbeauftragte der deutschen Bundesregierung. Sie kennt ihre Grenzen, ist eine Kämpfernatur und hat im Leben sehr viel erreicht.


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Abb.: privat