Einleitung
Der Goldstandard zur Behandlung von dislozierten Tibiakopffrakturen ist die Schrauben-
und Plattenosteosynthese nach offener Reposition [2], [5]. Die häufigsten Frakturtypen sind Impressionsspaltbrüche (AO OTA Typ B3 bzw. Schatzker
Typ II) und Impressionsfrakturen des lateralen Plateaus (AO OTA Typ B2 bzw. Schatzker
Typ III) [1]. Letztere machen bei älteren Patienten mit Osteopenie oder Osteoporose den größten
Anteil der Tibiakopffrakturen aus [6].
Merke
Bei der operativen Behandlung von Tibiakopfimpressionsfrakturen sind die anatomische
Reposition und Rekonstruktion der imprimierten lateralen Gelenkfläche von größter
Wichtigkeit, da eine Inkongruenz zu posttraumatischer Arthrose und Valgusfehlstellung
führt [4].
Das Anheben der Gelenkfläche stellt den Operateur jedoch regelmäßig vor große Herausforderungen.
Es wurden zahlreiche verschiedene Techniken zur Versorgung von Impressionsfrakturen
des Tibiakopfs beschrieben. Bei nahezu allen Methoden muss die imprimierte Gelenkfläche
durch ein Knochenfenster mit Stößeln oder anderen chirurgischen Instrumenten angehoben
werden [1]. Je nach verwendetem Instrument und Knochenqualität kann es beim Anheben des Fragments
jedoch zu einer Vergrößerung der Defektzone oder zur Penetration des Kniegelenks kommen.
Um gleichzeitig die notwendige Größe des Knochenfensters zu verkleinern und die Angriffsfläche
für die Kraftübertragung zum Anheben des imprimierten Tibiaplateaus zu maximieren,
kann jedoch auch ein üblicherweise zur Kyphoplastie verwendeter Ballon als Repositionshilfe
eingesetzt werden [3]. Im Folgenden sollen die technischen Aspekte der sog. Ballontibioplastie erläutert
werden.
Indikationsstellung
Das Prinzip der im Folgenden beschriebenen Technik beruht darauf, eine möglichst minimalinvasive
Reposition und Stabilisierung von Impressionsfrakturen des lateralen Tibiaplateaus
zu erreichen. Aus diesem Grund eignen sich lediglich solche Frakturen für die Tibioplastie,
bei denen keine offene Reposition stark dislozierter Fragmente notwendig ist.
Merke
Die Frakturmodifikationen, bei denen die Impression der Gelenkfläche im Vordergrund
steht (AO Typ B2 und B3 bei undisloziertem Spaltbruch), stellen gute Indikationen
zur Tibioplastie dar.
Kontraindikationen
Für Frakturen, die eine offene Reposition dislozierter Fragmente erfordern, kommt
die Tibioplastie aufgrund der Instrumentenkosten weniger infrage. Bei Patienten mit
bekannter Allergie gegen jodhaltige Kontrastmittel sollte die Tibioplastie nicht angewandt
werden, da es bei einem eventuellen Defekt des Ballons zum Einschwemmen des Kontrastmittels
mit nachfolgenden schwerwiegenden Komplikationen kommen kann.
Operationstechnik
Der Patient wird in Rückenlage auf dem OP-Tisch positioniert. Das verletzte Bein wird
mit etwa 45° flektiertem Kniegelenk, üblicherweise durch Unterlegen einer Tuchrolle,
gelagert. Im eigenen Vorgehen wird präoperativ regelmäßig eine Narkoseuntersuchung
zur Beurteilung der Gelenkstabilität durchgeführt. In einer Serie von 186 eigenen
Patienten zeigte diese Untersuchung in keinem Fall eine relevante Bandinstabilität.
Die Operation wird über einen lateralen Zugang zum Tibiakopf durchgeführt. Eine kleine
laterale Arthrotomie im proximalen Anteil des Zugangs erlaubt die Abhebung des Außenmeniskus
und somit die Entlastung des regelhaft vorliegenden Hämarthros und die Sichtkontrolle
des lateralen Tibiaplateaus. Je nach Ausdehnung und Position des imprimierten Defekts
kann zur visuellen Kontrolle jedoch auch eine Arthroskopie notwendig sein.
Merke
Zunächst sollte unbedingt eine Abstützplatte am lateralen Tibiakopf platziert werden,
um eine Dislokation der lateralen Kortikalis durch die Kraft des sich entfaltenden
Ballons zu verhindern.
Wir sehen hierfür zum Beispiel eine winkelstabile Kleinfragment-T-Platte als geeignet
an, die zunächst mit einer einzelnen Kortikalisschraube im Langloch befestigt wird,
um später noch eine genaue Ausrichtung des proximalen Plattenendes vornehmen zu können
([Abb. 1]).
Abb. 1 Positionierung einer lateralen Abstützplatte am Tibiakopf um beim Füllen des Ballons
ein Ausbrechen nach lateral zu verhindern.
Die Position des Knochenfensters zum Einbringen des Ballons muss prä- und intraoperativ
unter Beachtung der Lage des Imprimats oder der Impressionszone sorgfältig geplant
werden, um den Ballon optimal platzieren zu können. Das Knochenfenster kann dabei
entweder durch den Operationszugang oder über eine separate Stichinzision angelegt
werden. Zunächst wird ein Arbeitstrokar mithilfe eines Führungsdrahts in anterior–posteriorer
Richtung direkt unter dem imprimierten Fragment im lateralen Tibiakopf platziert.
Die weiteren Schritte ähneln technisch weitgehend der Vorgehensweise bei der Kyphoplastie
zur Aufrichtung von Wirbelkörperfrakturen. Der Ballon wird unter Bildwandlerkontrolle
durch den Arbeitstrokar in den Tibiakopf eingebracht.
Merke
Während des Füllens kann und muss durch die Verwendung von kontrastmittelhaltiger
Flüssigkeit kontinuierlich der Fortschritt der Reposition mit dem Bildwandler in mehreren
Ebenen kontrolliert werden ([Abb. 2]).
Die zusätzliche Sichtkontrolle unter dem abgehobenen Außenmeniskus hindurch oder durch
eine Arthroskopie vervollständigt das Repositionsmanöver.
Abb. 2 Bildwandlerkontrolle der Reposition beim Füllen des Ballons im seitlichen (a–d) und anterior–posterioren Strahlengang (e). Man beachte die kontinuierliche Anhebung der imprimierten Gelenkfläche (a–d, weiße Pfeile).
Besondere Aufmerksamkeit muss darauf verwendet werden, die Oberkante des imprimierten
Areals sicher zu identifizieren. Nur so kann eine optimale Reposition und Wiederherstellung
der Kongruenz der Gelenkflächen sichergestellt werden. Die Menge an benötigter Kontrastmittellösung
gibt das minimale Volumen des anschließend benötigten Knochenzements vor. Als Richtwerte
wurden hier in eigenen Untersuchungen durchschnittliche Volumina zwischen 4 und 6 ml
gemessen. Nach Entfernung des Ballons wird der Zement unter größter Sorgfalt in den
entstandenen Hohlraum injiziert. Im eigenen Vorgehen wird ein Kalziumphosphatzement
verwendet, der sich innerhalb von 12 Minuten zu Kalziumapatit umwandelt (HydroSet,
Stryker, Portage, MI, USA).
Merke
Eine kontinuierliche Kontrolle des Vorgangs mit dem Bildwandler ist unbedingt notwendig,
um einen Zementaustritt zu verhindern.
Nach Aushärten des Zements wird die Befestigung der Abstützplatte mit winkelstabilen
Schrauben vervollständigt. Der Wundverschluss erfolgt unter Einlegen einer Drainage
in üblicher Technik.
Intraoperative Tricks
In einigen Fällen, insbesondere bei osteoporotischem Knochen, hat es sich als sehr
hilfreich erwiesen, die resultierende Kraft bei der Ausdehnung des Ballons in Richtung
der gewünschten Reposition zu dirigieren. Dies kann dadurch erreicht werden, dass
der Ballon medial und distal palisadenartig mit Kirschner-Drähten eingefasst wird
([Abb. 2] und [3]).
Abb. 3 Durch palisadenartiges Umstellen des Ballons kann die resultierende Kraft beim Füllen
in die gewünschte Richtung dirigiert werden.
Wenn beim Ablassen der Flüssigkeit aus dem Ballon ein Repositionsverlust droht, kann
es hilfreich sein, bis zur Aushärtung des Zements subchondrale Kirschner-Drähte einzubringen
([Abb. 4]), ohne dabei den Ballon zu treffen.
Abb. 4 Um einen Repositionsverlust beim Ablassen des Ballons verhindern zu können werden
temporär subkortikale Kirschner-Drähte unter der angehobenen Gelenkfläche platziert.
Nachbehandlung
Die Nachbehandlung erfolgt schienenfrei und ohne Einschränkung des Bewegungsausmaßes.
Merke
Über einen Zeitraum von 8 Wochen postoperativ sollte das operierte Bein nur mit Sohlenkontakt
belastet werden.
Nach radiologischer Verlaufskontrolle kann anschließend unter physiotherapeutischer
Anleitung schrittweise aufbelastet werden. Die medikamentöse Thromboseprophylaxe wird
im eigenen Vorgehen bis zum Erreichen der sicheren Vollbelastung fortgeführt.
Eigene Erfahrungen
Initial wurden 5 Patienten im Alter zwischen 44 und 80 Jahren, bei denen eine Tibioplastie
durchgeführt wurde, nachuntersucht. Alle Patienten zogen sich die Tibiakopffraktur
im Rahmen eines Niedrigenergietraumas zu. In 4Fällen handelte es sich um Frakturen
des Typs Schatzker III/AO OTA B2.2. Bei einem Patienten lag eine Fraktur des Typs
Schatzker II/AO OTA B3 vor. Die Tiefe der Impression betrug in präoperativen CT-Schnitten
8 – 12 mm. In allen Fällen konnte eine anatomische Reposition der imprimierten Gelenkfläche
erzielt werden. Die radiologischen Verlaufskontrollen bei erreichter Vollbelastung
nach 8Wochen zeigten keinen sekundären Repositionsverlust sowie keine Valgusdeformität.
Die Nachuntersuchungen (nach 12 – 36 Monaten) zeigten in keinem Fall Zeichen einer
posttraumatischen Arthrose oder einer Implantatlockerung. In keinem Fall kam es zu
postoperativen Komplikationen.
Alle Patienten waren subjektiv mit dem Ergebnis zufrieden und erreichten den ursprünglichen
Aktivitätsgrad. Das funktionelle Ergebnis wurde anhand der Rasmussen- und Lysholm-Scores
evaluiert. Hier lagen Werte von 28 – 30 (bei maximal 30 möglichen Punkten) bzw. von
95 – 100 Punkten (bei maximal 100 möglichen Punkten) vor.
Bis dato haben wir weitere Fälle von geeigneten Tibiakopfimpressionen durch Ballons
erfolgreich und minimalinvasiv reponieren können. Nicht jede Verletzung ist jedoch
von ihrer Konfiguration ideal für dieses Verfahren, sodass keine hohe Fallzahlen existieren.
Fallstricke
Impressionsfrakturen, die das posterolaterale Tibiaplateau betreffen, stellen keine
gute Indikation für die Tibioplastie dar, da hier eine suffiziente Abstützung durch
eine Platte nicht minimalinvasiv möglich ist. Sie erfordern die offene Reposition
und Stabilisierung.
Merke
Die exakte Visualisierung der Fraktur durch eine präoperative Computertomografie ist
daher zur Indikationsstellung unumgänglich ([Abb. 5]).
Abb. 5 3-D-Rekonstruktion einer Impressionsfraktur des lateralen Tibiaplateaus. Es wird
deutlich, dass die Impression bis weit nach posterior reicht. Eine derartige Fraktur
stellt keine Indikation für die Tibioplastie dar, weil eine suffiziente Abstützung
der Kortikalis über den lateralen Zugang nicht möglich ist.
Während des Einbringens von Knochenzement muss die Auffüllung des Hohlraums im Tibiakopf
kontinuierlich mit dem Bildwandler in mehreren Ebenen und visuell kontrolliert werden,
damit eine eventuelle Leckage frühzeitig erkannt werden kann ([Abb. 6]). Zementleckagen sind insbesondere entlang der Frakturspalten zu befürchten. Bei
Spaltkomponenten der Fraktur, die offen nachreponiert werden und bei denen über den
Frakturspalt die Impression angesteuert werden kann, verliert die Ballontibioplastie
an Wertigkeit.
Abb. 6 Ventrale Leckage des Knochenzements am lateralen Tibiaplateau aufgrund unbefriedigender
intraoperativer Visualisierung (2. Ebene).
Schlussfolgerung
Zur operativen Behandlung von ausgewählten Impressionsfrakturen des lateralen Tibiaplateaus
stellt die hier vorgestellte Ballontibioplastie eine praktikable Methode und wertvolle
Alternative zum konventionellen Vorgehen dar. Sie ermöglicht eine anatomische Rekonstruktion
der tibialen Gelenkfläche über einen minimalinvasiven Zugang. Eigene Erfahrungen zeigen
sehr gute Ergebnisse. Intraoperativ muss insbesondere auf eine eventuelle Leckage
des Knochenzements geachtet werden. Darüber hinaus ist eine sorgfältige visuelle und
radiologische Kontrolle der Reposition notwendig. Bei osteoporotischem Knochen kann
es notwendig sein, die resultierende Kraft beim Auffüllen des Ballons durch palisadenartiges
Umstellen mit Kirschner-Drähten in die gewünschte Richtung zu dirigieren. Bei aller
Attraktivität und Eleganz dieses minimalinvasiven Verfahrens sollte die Indikationsstellung
und Technik der Ballontibioplastie auch angesichts der Materialkosten nicht überstrapaziert
werden.