Liebe Leserinnen und Leser,
die erste Ausgabe von „Bewegungstherapie & Gesundheitssport“ setzt sich mit der Kampfkunst
(Budo als Oberbegriff für alle japanischen Kampfkünste wie Aikido, Judo Kendo u. a.) in
Therapie, Rehabilitation und im Behindertensport auseinander. Kampfkunst, aber auch
Kampfsportarten (wie z. B. das Boxen) haben in den letzten Jahren eine erstaunliche Verbreitung
zumindest in städtischen Großräumen gefunden und sind institutionell in der Sportlandschaft fest
verankert. Zudem gibt es eine rege Nachfrage nach Budo-Angeboten im (förder-)schulischen
Kontext, im Erwachsenenbereich, im Managementbereich, selbst im Senioren- und im
Behindertensport. Es stellt sich für mich die Frage, wieso gerade in heutiger Zeit die
Kampfkunst oder auch Kampfsportarten wieder so nachgefragt sind? Beide Formen können ja auf eine
lange Tradition und Geschichte verweisen. Liegt es daran, dass man die pädagogischen und
therapeutischen Potenziale neu entdeckt und wieder wertzuschätzen weiß, z. B. durch die
Erfahrungen im Umgang mit eigenen Grenzen und denen des Mitkämpfers, mit festgelegten Regeln und
Ritualen, mit einer direkten nonverbalen kämpferischen Auseinandersetzung mit einem Gegenüber?
Unbestreitbar verfügt die Kampfkunst zunächst einmal über eine Fülle von motorisch koordinativen
und konditionellen Elementen, mit denen Kraft, Flexibilität, Schnelligkeit, Ausdauer oder auch
Reaktionsfähigkeit, Gleichgewicht und Kombinationsfähigkeit beansprucht und trainiert werden.
Untrennbar damit sind jedoch auch psychische Prozesse verbunden wie beispielsweise eine
umfassende Wahrnehmungsschulung, Disziplin, Emotions- und Verhaltenskontrolle, der Erwerb von
Selbstvertrauen, die Konzentration auf die gegenwärtige Situation oder auch die Entwicklung von
Einsichtsfähigkeit, dass Respekt und Achtung vor dem Gegner notwendig sind zur persönlichen
Weiterentwicklung und zu Persönlichkeitswachstum. Hier ist daran zu erinnern, dass im Budo auch
die Idee der „Kampfvermeidungskunst“ verbunden ist. Mit entsprechenden Modifikationen in Bezug
zu den jeweiligen funktionellen Bedingungen der Teilnehmer können diese genannten Prozesse und
Werte auch hervorragend für Therapie und Rehabilitation genutzt werden.
In meiner subjektiven Wahrnehmung steht die zunehmende Inanspruchnahme von Kampfkunst jedoch auch
in Zusammenhang mit den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen, die sich mit solchen
Schlagworten füllen lassen wie Zukunftsängste, Jobunsicherheit, Werteverlust, Respektlosigkeit,
Rücksichtslosigkeit oder allgemein mit einem raueren Geschäfts- und Gesellschaftsklima. Insofern
kann die Inanspruchnahme solcher Angebote dem Wunsch entspringen, nicht hilflos diesen
gesellschaftlichen Veränderungen ausgesetzt zu sein und genügend gegenüber diesen Widrigkeiten
gewappnet zu sein. Wenn über diesen Weg die in der Kampfkunst enthaltenen Werte neu erfahren und
verinnerlicht werden, ist dies sehr zu begrüßen, stärkt es doch das Körpergefühl, das
Selbstbewusstsein und die Einsicht, dass Auseinandersetzung oder Interessensvertretung zwar
unvermeidbar sind, jedoch unter demokratischen Spielregeln ablaufen sollten.
Kampfkunst besitzt weitgehend einen sehr guten inklusiven Charakter, sodass sie ausgezeichnet in
integrativen Gruppen eingesetzt werden kann, wenn die verschiedenen Techniken auf die
Bewegungsfähigkeiten von behinderten Teilnehmern angepasst werden. Die in diesem Heft
aufgeführten Beiträge verdeutlichen dies in ausdrucksvoller Weise. Ich wünsche mir, dass
Kampfkunst in der Zukunft mehr in vielen gesundheitssportlichen und bewegungstherapeutischen
Kontexten Beachtung finden könnte.
Ihr
Hubertus Deimel