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DOI: 10.1055/s-0043-102906
Akutrehabilitation querschnittverletzter Patienten
Korrespondenzadresse
Publication History
Publication Date:
27 September 2017 (online)
- Einleitung
- Diagnostisches Vorgehen
- Frühkomplikationen
- Therapeutische Maßnahmen
- Spastik
- Neurourologische Aspekte beim Querschnittsyndrom
- Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
- Literatur
Einschränkungen oder auch kompletter Verlust von Motorik und Sensibilität sind die Folgen von Rückenmarkverletzungen, und je nach Lähmungshöhe sind die Blasen- und Darmfunktion und das vegetative Nervensystem ebenfalls betroffen. Um diese Patienten wieder in ihr Umfeld einzugliedern, ist die Zusammenarbeit eines interdisziplinären Teams aus Orthopäden/Unfallchirurgen, Neurologen, Neurourologen und Internisten wie auch aus Krankenpflege, Physio-, Ergo- und Sporttherapeuten, Psychologen und Sozialdienstmitarbeitern notwendig.
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Schlüsselwörter
Rückenmarkverletzung - Frührehabilitation - Blasenentleerungsstörung - Mastdarmentleerungsstörung - LähmungshöheAbkürzungen
Einleitung
Nach Rückenmarkverletzungen kommt es zu einer Einschränkung oder auch zum kompletten Verlust von Funktionen wie Motorik und Sensibilität, wobei auch die Blasen- und Darmfunktion und das vegetative Nervensystem einer ausgeprägten Störung unterworfen sind.
Die Inzidenz für Rückenmarkverletzungen liegt in Nordamerika bei 39 pro 1 Million, in Westeuropa bei 15 pro 1 Million und in Australien bei ca. 16 pro 1 Million.
Die Hauptursache für traumatische Rückenmarkverletzungen sind Unfälle, im Wesentlichen Verkehrsunfälle.
Die frühe Rehabilitation rückenmarkverletzter Patienten ist ein essenzieller Bestandteil der Maßnahmen, diese Menschen wieder in das gewohnte Umfeld hinsichtlich sozialer Teilhabe und Arbeit zu bringen. Hierzu ist ein interdisziplinäres Team aus Orthopäden/Unfallchirurgen, Neurologen, Neurourologen und Internisten auf der einen Seite und ein spezialisiertes Team aus Krankenpflege, Physio-, Ergo- und Sporttherapeuten sowie Psychologen und Sozialdienstmitarbeitern notwendig, um die vielfältigen Probleme eines Querschnittpatienten professionell zu adressieren.
Die Zeit und die Kosten, welche für die Frührehabilitation benötigt werden, sind immens. Die Kosten einer querschnittspezifischen Akuttherapie im Sinne einer spezifischen Frührehabilitationsmaßnahme belaufen sich für Tetraplegiker auf ca. 95 000 – 120 000 Euro und für Paraplegiker auf ca. 45 000 – 85 000 Euro. Entsprechend sind die Liegezeiten bei Tetraplegikern zwischen 95 und 180 Tagen und bei Paraplegikern zwischen 60 und 90 Tagen anzusiedeln. Aufgrund der kürzer werdenden Verweildauern ist eine enge Zusammenarbeit und gute Kommunikation im interdisziplinären Team unabdingbar. Hierbei werden vor allem koordinatorische Fähigkeiten benötigt, um die speziellen Anforderungen eines Querschnittpatienten erfüllen zu können.
Eine frühe Rehabilitation von Querschnittgelähmten in einer geeigneten Facheinrichtung konnte bessere Behandlungsergebnisse, eine kürzere Verweildauer und im Endeffekt niedrigere volkswirtschaftliche Kosten aufzeigen [1].
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Diagnostisches Vorgehen
Um eine korrekte Abschätzung der Lähmungshöhe, des Lähmungsgrades, der prognostischen Aussagen und der geeigneten Anforderungen hinsichtlich der Therapieziele und Möglichkeiten des individuellen Patienten treffen zu können, steht vor jeder Therapieverordnung eine zielführende Diagnostik, die aus den unten ausgeführten Bestandteilen besteht. Ohne diese Art der Herangehensweise läuft man Gefahr, wichtige Kriterien und Frühkomplikationen zu übersehen und zu riskieren.
Anamnese
Die Anamnese ist, ebenso wie in allen anderen Bereichen der Medizin, ein unabdingbares Instrument der Diagnosefindung. Hierzu gehört eine Unfallanamnese mit Erhebung des genauen Unfallmechanismus, sofern dieser vom Patienten wiedergegeben werden kann. Auch die Erhebung einer Fremdanamnese ist sinnvoll, da wichtige Zusatzinformationen und -diagnosen eruiert werden können, die von großem Wert für die weitere Therapieplanung sein können. Des Weiteren muss eine Befragung zur Medikamenteneinnahme, Ess-, Trink-, Schlaf- und Stuhlgewohnheiten stattfinden. Auch früherer Drogenkonsum sollte abgefragt werden, da es gerade bei ehemaligen Drogenabhängigen durch neue Medikamentenverordnungen zu einem Rückfall kommen kann. Zur weiteren Anamneseerhebung gehört die Befragung zu bisherigen Sportgewohnheiten.
Speziell Ausdauersportler bedürfen einer aktivierenden Therapie, da sie verstärkt kollaptisch in der Frühphase der Mobilisationstherapie reagieren.
Zur Vervollständigung sollte auch die Sozialanamnese gehören. Von besonderer Wichtigkeit sind Familienverhältnisse und Berufsausbildung, da zu späteren Zeitpunkten die Angehörigen und Arbeitgeber in die Rückführung in das poststationäre Leben einbezogen werden.
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Körperliche Untersuchung
Um eine Tetra- oder Paraplegie richtig einzuschätzen und den Patienten der für ihn am besten geeigneten Therapie zuführen zu können, sollte jeder Patient gemäß des ISNCSCI-Schema (ehemals ASIA-Untersuchung) untersucht werden. Hierzu gehört neben der Untersuchung der motorischen Kraftgrade, gemessen über die gesamte „Range of Motion“ (ROM), die Untersuchung der Oberflächen- (Light-Touch) und Tiefensensibilität (Pin-Prick) ([Abb. 1]).
ISNCSCI-Klassifikation |
Querschnittlähmung |
Kennzeichen |
---|---|---|
AIS A |
komplett |
keine sensible oder motorische Funktion in den sakralen Segmenten S4 und S5 erhalten |
AIS B |
inkomplett |
sensible Funktion unterhalb des neurologischen Niveaus und bis in die sakralen Segmente S4 und S5 erhalten |
AIS C |
inkomplett |
motorische Funktion unterhalb des neurologischen Niveaus erhalten die Mehrzahl der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus haben einen Kraftgrad < 3 |
AIS D |
inkomplett |
motorische Funktion unterhalb des neurologischen Niveaus erhalten die Mehrzahl der Kennmuskeln unterhalb des neurologischen Niveaus haben einen Kraftgrad ≥ 3 |
AIS E |
normal |
sensible und motorische Funktion normal |
Unabdingbar für die korrekte Bestimmung einer kompletten bzw. inkompletten Querschnittlähmung ist die rektale Untersuchung. Hierbei sollte sowohl die motorische Kraft des Schließmuskels als auch die tiefe anale Sensibilität aufgezeichnet werden, da diese Region durch das letzte Rückenmarksegment (S4/5) innerviert wird.
Liegt bei einem Patienten bei der rektalen Untersuchung weder eine motorische Antwort noch eine Form der Sensibilität vor, so besteht definitionsgemäß immer eine komplette Querschnittlähmung.
Man beschreibt diesen Zustand dann als „komplette Querschnittlähmung – AIS A (ASIA Impairment Scale)“ und notiert die weiteren Zonen der regelrechten bzw. gestörten Motorik und Sensibilität ([Abb. 1 ] [2] u. [Tab. 1]).
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Neurophysiologie
Um besser objektivierbare Messwerte und eine prognostische Aussagekraft zu kreieren, sollte eine elektrophysiologische Messung zu Beginn der Therapie und nach definierten Zeitabständen durchgeführt werden. Hierbei werden die durch das EMSCI-Projekt vorgegebenen Zeitabstände empfohlen. Diese sind in 4 Phasen aufgeteilt (s. Übersicht).
Von European Multicenter Study about Spinal Cord Injury (EMSI-Projekt) empfohlene Untersuchungsintervalle der neurophysiologischen Diagnostik
-
very acute (Tag 1 – 15)
-
acute I (Tag 16 – 40)
-
acute II (Tag 70 – 98)
-
chronic (Tag 300 – 400)
Bei den neurophysiologischen Messungen werden magnetisch evozierte Potenziale (MEP) und somatosensorisch evozierte Potenziale (SSEP) abgeleitet.
Zusätzlich empfiehlt es sich, beim rückenmarkverletzten Patienten folgende Parameter mitzubestimmen:
-
die sympathische Hautreaktion, die ein Maß für die vegetative Störung bei Rückenmarkverletzten darstellt, und
-
den H-Reflex als Maß der Integrität des Eigenreflexbogens.
Auch Zusatzuntersuchungen wie Elektromyelografie (EMG) und Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) sind in die Diagnostik miteinzubeziehen, um zusätzliche Plexusschäden verifizieren zu können.
Die neurophysiologische Untersuchung kann durch Umwelteinflüsse wie Licht und Lärmreize beeinflusst werden, weshalb man diese Untersuchung nach Möglichkeit immer unter den gleichen Bedingungen durchführen sollte. Auch begleitende Schädel-Hirn-Verletzungen haben einen Einfluss auf die Untersuchungsergebnisse der Neurophysiologie.
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Bildgebung
Röntgen
Zumeist liegt bei Eintreffen des querschnittverletzten Patienten in einer Rehabilitationseinrichtung eine komplette Röntgendiagnostik vor. Die konventionelle Röntgendiagnostik hat jedoch in der Verlaufskontrolle nach wie vor ihren Stellenwert. So sollte vor allem bei von ventral stabilisierten HWS-Verletzungen vor Abnahme der weichen Halskrawatte eine Verlaufskontrolle durchgeführt werden, um frühzeitig auftretende Materialauslockerungen oder Fehlstellungen zu erfassen und dementsprechend reagieren zu können. Auch vor Entlassung eines Patienten in die Spätrehabilitation sollte eine Verlaufskontrolluntersuchung durchgeführt werden ([Abb. 2]).
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Computertomografie
Da frischen, traumatischen Querschnittverletzungen zumeist Hochrasanztraumata vorausgegangen sind, sollte dem weiterbehandelnden Querschnittzentrum eine CT-Polytraumaspirale vorliegen. Die Häufigkeit von Begleitverletzungen bei Wirbelsäulentraumata ist nicht unerheblich und umfasst bei HWS-Verletzungen zu einem Prozentsatz von 25% ein begleitendes Schädel-Hirn-Trauma und zu etwa 17% ein schweres Thoraxtrauma. Diese Begleitverletzungen sollten durch eine CT-Diagnostik verifiziert sein, da der weitere Behandlungsverlauf hierdurch wesentlichen beeinflusst sein kann und konsekutive Komplikationen frühzeitig erkannt werden sollten. Vor allem sollte nach operativen Eingriffen die Implantatlage durch eine CT-Bildgebung dargestellt und dokumentiert werden, sofern keine intraoperative CT-Bildgebung vorliegt.
Oftmals ergeben sich im Behandlungsverlauf zunehmende Haltungsstörungen, die mit einer Sinterung der verletzten Wirbelkörper zusammenhängen. Dies kann am besten mit der CT-Diagnostik nachvollzogen werden, und der Patient kann der entsprechenden Therapie unterzogen werden ([Abb. 3]).
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MRT
Ist die MRT-Untersuchung zum Zeitpunkt der akuten Rückenmarkverletzung aufgrund der relativ langen Untersuchungsdauer als umstritten zu betrachten, so nimmt der Stellenwert zum Zeitpunkt der querschnittspezifischen Akuttherapie bzw. -rehabilitation zu. Störungen in der Beurteilbarkeit durch Metallartefakte liegen zwar vor, jedoch kann mithilfe geeigneter Softwareadaptationen dieses Störrauschen minimiert und Veränderungen der Rückenmarkläsion beurteilt werden.
Von Interesse sind hierbei die Ausdehnung des Myelonödems ([Abb. 4 a]) sowie die Veränderung der Strukturen bei Exazerbation einer Spastik der quergestreiften Skelettmuskulatur oder Verlust bereits vorhandener muskulärer sowie sensibler Funktionen, da man in einem solchen Fall eine Syrinx ([Abb. 4 b]) ausschließen sollte. Auch zum Ausschluss liquider Verhalte kann die MRT hinzugezogen werden.
Neben der Diagnostik der Rückenmarkstrukturen kann die MRT-Diagnostik auch Aufschluss darüber geben, ob vor allem im Bereich der Hüftgelenke Vorstufen von heterotopen Ossifikationen vorliegen ([Abb. 5]).
Zum derzeitigen Augenblick liegen noch keine Studien vor, die uns über die Wertigkeit der MRT hinsichtlich der Prognostik einer Querschnittlähmung Aufschluss geben können.
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Sonografie
Die Ultraschalluntersuchung wird zum Zeitpunkt der frühen Rehabilitation genutzt, um rechtzeitig die Entwicklung heterotoper Ossifikationen (HO) erkennen zu können.
Ultraschalluntersuchungen sollten alle 3 Wochen oder bei einem Auftreten unklaren Fiebers, Schwellungen, Bewegungseinschränkungen und Rötungen im Hüftbereich sowie einem Ansteigen der D-Dimere in einen vierstelligen ng/ml-Bereich durchgeführt werden.
Hierbei sollte von lateral begonnen werden und der Trochanter major, der Hüftkopf sowie der Venenstern als Strukturen identifiziert werden. Zu beachten ist die Struktur der Muskulatur. Im Normalfall findet man eine homogene Fiederung der Muskelpakete. Liegen jedoch ödematöse Vorstufen einer HO vor, so ist diese homogene Struktur durch ein chaotisches intramuskuläres Schallmuster ersetzt, ggf. sind bei beginnenden Kalzifizierungen bereits Schallauslöschungen zu sehen ([Abb. 6]).
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Labordiagnostik
Die Labordiagnostik dient der Verlaufsbeobachtung von postoperativen Befunden. Ein Augenmerk sollte hierbei gelegt werden auf
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die Entzündungswerte,
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den Hb-Wert sowie
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die Leber- und Nierenwerte.
Die Leberwerte sind vor allem nach längeren und komplikationsreichen Intensivaufenthalten zu beachten, da eine sekundär sklerosierende Cholangitis fatale Folgen haben kann.
Auch die Gerinnungsdiagnostik ist von besonderem Interesse, da diese Werte besonders bei septischem Geschehen leicht entgleisen können und dem Arzt einen Hinweis auf drohende Komplikationen geben können.
Im Hinblick auf die Entwicklung von heterotopen Ossifikationen sind die D-Dimere interessant. Zudem sollte in regelmäßigen Abständen – d. h. zumindest einmal pro Woche – der Urin kontrolliert werden, um Harnwegsinfekte rechtzeitig zu erkennen.
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Lungenfunktionsdiagnostik
Vor allem bei tetraplegischen Patienten mit einem Lähmungsniveau oberhalb von C4 und der Notwendigkeit zur Dauerbeatmung wird eine Lungenfunktionsdiagnostik über die Ermittlung der Blutgase durchgeführt. Diese wird benötigt, um die Heimbeatmungsmaschine korrekt einstellen zu können.
Im Vorfeld zu Schluckendoskopien, Videofluoroskopien und ventralen thorakoskopischen Spondylodesen ist eine Lungenfunktionsdiagnostik beim nicht dauerhaft beatmeten Patienten durchzuführen. Lungenkapazitätsbestimmungen sind sinnvoll, um das Weaning-Potenzial festzustellen und das Weaning zu steuern.
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Frühkomplikationen
Heterotope Ossifikationen
Zu den querschnittassoziierten Frühkomplikationen zählen u. a. heterotope Ossifikationen (HO). Diese treten in ca. 5 – 12% der Fälle nach traumatischer Rückenmarkverletzung und gehäuft bei Männern auf. Zur suffizienten Früherkennung gehören ein regelmäßiges Ultraschallscreening in 3-wöchentlichen Intervallen sowie die regelmäßige Bestimmung der D-Dimere.
Ein gehäuftes Auftreten der HO liegt in der 5. – 8. Woche nach Trauma vor.
Heterotope Ossifikationen werden zunächst durch Ultraschall gesichert und bei Verdacht durch ein MRT des Beckens verifiziert. Hierzu reicht ein MRT mit 1,5 Tesla aus, wobei vor allem die ventralen Muskeln beurteilt werden sollen. Dorsal ist meist ein Ödem sichtbar, das jedoch nur selten einen pathologischen Charakter hat, da Ödeme in dieser Region durch die meist sitzende Belastung die Regel sind.
Die Klassifikation der HO wird nach Brooker [3] vorgenommen, der die Ossifikationen in 4 Stadien eingeteilt hat.
Die Ödeme zählen zu den Vorstufen und sind durch eine fraktionierte 5-malige Bestrahlung mit 3 Gray (Gy) gut zu therapieren. Bis dato ergaben unsere hausinternen Nachuntersuchungen eine Restitutio ad integrum von 98% [4].
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Thrombose
Eine weitere Frühkomplikation ist, wie bei allen traumatischen Ereignissen, die erhöhte Thromboserate. Sie beträgt je nach Literaturangabe bis zu 81% und ist somit ähnlich wie bei polytraumatisierten Patienten anzusehen. Gemäß der Untersuchung einer speziellen Fachgruppe [5] wird eine Thromboseprophylaxe von 2 × täglich 30 mg Enoxaparin empfohlen. Hierdurch kann die Entstehung evon TVT und Lungenembolie signifikant gemindert werden.
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Dekubitalulzera
Eine ebenfalls durch eine akute Verletzung des Rückenmarks hervorgerufene Frühkomplikation kann die Entstehung von Druckulzera sein. Dieses Problem kann zum einen durch die gestörte Sensibilität, zum anderen aber auch durch die Veränderung der Schweißsekretion und das gestörte Temperaturempfinden verursacht werden.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf Hautrötungen oder Mazerationen im Rahmen der Lagerungsmanöver zu achten.
Sind Hautveränderungen entstanden, so ist es primär von Bedeutung, die betroffenen Stellen zu entlasten, da vor allem die Druck- und Scherbelastung der Weichteile zu einem Fortschreiten der Weichteilschäden führen kann. Zur Weichteilschonung und Vermeidung von Scherbelastung ist es wesentlich, Schädigungen vor allem bei den Transfers durch eine schonende Mobilisation, z. B. durch ein Liftersystem, zu vermeiden.
Oberflächliche Hautläsionen können zum einen mit einer Softlaserbehandlung therapiert werden, aber auch das Betupfen der Haut mit einer gerbenden Lösung, wie z. B. Eosinlösung, kann zu einer raschen Abheilung und Stabilisierung der betroffenen Weichteile führen.
Sollte die Hautläsion durch eine vermehrte Schweißsekretion hervorgerufen werden ([Abb. 7]), so kann man bei Versagen der konventionellen Behandlung mit schweißabsorbierenden Verbandsmaterialien, wie z. B. Kaltostat oder Nextra, arbeiten oder auch eine intrakutane Botulinumtoxinbehandlung durchführen. Hierzu markiert man die betroffene Region mit 20 Feldern à 1 cm2 und appliziert pro Feld 1 MU Botox intrakutan.
Bei tiefergreifenden Weichteilschäden Grad III ([Abb. 8]) kann zusätzlich zu den entlastenden Maßnahmen auch eine funktionelle Elektrostimulation (FES) durchgeführt werden, um die Durchblutungssituation der Weichteile zu verbessern.
Liegen Nekrosen oder schmierige Beläge vor, so hilft in der Regel nur die chirurgische Therapie mit Abtragung der abgestorbenen Gewebeanteile und die anschließende Gewebskonditionierung ([Abb. 9] u. Fallbeispiel 1). Hierzu muss keine teure VAC-Therapie durchgeführt werden. Die Konditionierung kann durch tägliches Ausduschen der Wunde und Stimulation des Gewebes durch Polyurethanschwämme und Alginaten herbeigeführt werden. Zeigt sich nach entsprechender Therapie ein gut durchbluteter Granulationsrasen, so kann eine Lappendeckung erfolgen.
Insgesamt ist die Entstehung eines Druckulkus in der Frühphase nach einer Rückenmarkverletzung jedoch eher selten und entsteht meist erst nach 1 – 3 Jahren.
Anamnese
Männlicher, 38-jähriger Paraparetiker sub Th9 (AIS B) mit traumatischem Bandscheibenvorfall vor einem halben Jahr.
Ausbildung eines III.-gradigen Ulkus in der Rima ani durch starkes Schwitzen. Im MRT zeigt sich ein deutliches Myelonödem; am selben Tag erfolgt die Diskektomie.
Zuverlegung in ein Querschnittzentrum zur querschnittspezifischen Akuttherapie.
Diagnostik
Am Aufnahmetag wird eine Untersuchung nach ISNCSCI-Schema durchgeführt mit folgenden Befunden:
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inkomplette Paraparese unterhalb von Th9
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AIS B nach ISNCSCI-Schema.
Am Folgetag schließt sich die neurophysiologische Untersuchung an und zeigt H-Reflexe an den Füßen zeitverzögert, SEP schwach, MEP nicht auslösbar. Es zeigt sich darüber hinaus eine sympathische Hautreaktion mit schwachen Potenzialen an den Füßen.
Therapeutisches Vorgehen
Aufnahme von Trainingstherapie, Transferübungen, Stabilitätstraining, Beginn mit intermittierendem Selbstkatheterismus und Etablierung eines Darmmanagements.
Im Verlauf kommt es jedoch zu folgenden Frühkomplikationen:
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1. Frühkomplikation:
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Fieberhafter Harnwegsinfekt; der Patient bleibt im Bett, schwitzt stark.
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Gabe einer testgerechten Antibiotikatherapie.
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-
2. Frühkomplikation:
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Hautläsion in der Rima ani.
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Trotz Lagerungstherapie entwickelt sich ein III.-gradiger Dekubitus ([Abb. 10 a]).
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Es besteht die Notwendigkeit der Ausschneidung der Nekrosen und der konservativen Wundkonditionierung mit Ausduschen, Bettruhe und FES (= funktionelle Elektrostimulation) bis zur Epithelialisierung ([Abb. 10 b]). Es kommt zur trockenen Abheilung des Ulkus nach FES-Therapie und intrakutaner Injektion von 20 MU („mouse units“) Xeomin, sodass unter weiterer Wundkonditionierung eine Gewebeverpflanzung nicht notwendig wird.
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Erneute Mobilisation mit Liftersystem und Transfers mit Rutschbrett bei weiterer Hautstabilisierung.
Bei stabilen Hautverhältnissen entscheiden wir uns zur i. c. Injektion von 20 MU Botulinumtoxin A entlang der Rima ani zur Rezidivprophylaxe.
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Pneumonie
Pulmonale Infektionen sind vor allem bei polytraumatisierten Patienten und langzeitbeatmeten Patienten mit einer hochzervikalen Querschnittlähmung von C0–C4 zu beachten. Bei diesen Patienten liegt das Risiko für eine Pneumonie bei ca. 40% innerhalb der ersten 5 Jahre nach Trauma.
Eine engmaschige Kontrolle der Lungenfunktion mit täglichem Auskultieren der Lunge sowie frühzeitiger Intervention bei sich anbahnendem Infekt mittels Inhalationen und topischer Antibiotikagabe wird empfohlen. Um pulmonale Erschöpfungsphasen, Aspirationen und Schluckstörungen zu vermeiden, ist ein langwieriger Weaning-Prozess mit stundenweiser Entwöhnung durchzuführen, die von Atmungstherapeuten und Logopäden begleitet werden sollte.
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Therapeutische Maßnahmen
Die rehabilitative Therapie beginnt bereits auf der Intensivstation.
Hier ist vor allem auf die Aufrechterhaltung eines suffizienten Kreislaufs zu achten, da bei rückenmarkverletzten Patienten eine hypotone Kreislaufsituation aufgrund der a- bzw. hyposympathikotonen Dysregulation vorliegt. Viele ältere Querschnittpatienten sind anamnestisch mit blutdrucksenkenden Medikamenten behandelt. Es empfiehlt sich, eine dezidierte Blutdruckdiagnostik mit Langzeitblutdruckmessung und Langzeit-EKG durchzuführen, um im Rahmen einer Medikamentenvisite überflüssige „Blutdrucksenker“ abzusetzen.
Da bei den Patienten eine Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung besteht, müssen eine Blasendrainage, zunächst mit transurethralem Dauerkatheter, durchgeführt und ein regelmäßiges und praktikables „Darmmanagement“ etabliert werden. Zudem liegt ein erhöhtes Thrombose- und Embolierisiko vor, weshalb wir eine Antikoagulationstherapie mit 0,3 mg Enoxaparin, 2 × täglich für 8 Wochen und das Tragen von Kompressionsstrümpfen für 10 Wochen empfehlen.
Ebenso wird bereits während des Intesivaufenthaltes eine Lagerungstherapie von Händen und unteren Extremitäten empfohlen, um zum einen eine Kontrakturprophylaxe zu erreichen und zum anderen noch erhaltene Funktionen zu fördern. Speziell für inkomplette Lähmungsbilder ist die Lokomotionstherapie durchzuführen [6], [7].
Zur Vermeidung von Komplikationen wie z. B. Druckulzera und Komplikationen ist zu beachten, dass eine konsequente Lagerungstherapie sowie die Erprobung von geeigneten Hilfsmitteln unerlässlich ist.
Da vor allem bei hochgelähmten Querschnittpatienten die Temperaturregulation gestört ist, muss bei subfebrilen und febrilen Körpertemperaturen für eine entsprechende Diagnostik und Therapie Sorge getragen werden.
Ergotherapie
Die Ergotherapie hat das Ziel, die Handlung des Patienten in seiner Umwelt zu verbessern. Das bedeutet, dass affektive, kognitive und physische Aspekte in der Behandlung angesprochen werden. Die Patienten werden deshalb unter Berücksichtigung der Tätigkeitsräume Freizeit, Produktivität und Selbstversorgung gefördert.
Ergotherapeutische Diagnostik
An ergotherapeutischen Assessments werden zunächst die Körperstrukturen nach der Neutral-Null-Methode erfasst sowie die Körperfunktionen hinsichtlich der Handkraft und Sensibilität mittels folgender Tests erfasst:
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Van-Lieshout-Test (VLT),
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Graded Redefined Assessment of Strength Sensibility and Prehension (GRASSP),
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Zwei-Punkte-Diskrimination.
Zur Bewertung der Selbstversorgung werden in der Ergotherapie der SCIM-III-Test (Spinal Cord Injury Measure) durchgeführt und zusätzlich eine Wohnungs- und Hilfsmittelcheckliste angefertigt (s. Infobox).
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Adaptierung von Essbesteck und Zahnbürste
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Erprobung und Bedienungshilfe für Kommunikationsmedien
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Verordnungen von Hilfsmitteln für die tägliche Hygiene (Duschklappsitz, Badewannenbrett etc.)
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Verordnung von Pflegebett und Einlegerahmen
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Ergotherapeutische Maßnahmen
Die ergotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen richten sich nach patientenindividuellen Umständen wie z. B. Motivation, Wille, kulturellem Hintergrund, Herkunft und Alter. Auch der Umgang mit Schmerzen, Spastizität und Krankheitsverarbeitung sind in die Therapiemaßnahmen einzubeziehen. Die Anpassung der Therapiemaßnahmen ist ein dynamischer Prozess und orientiert sich an der Ausprägung der Lähmung (AIS A – D) sowie der Lähmungshöhe.
Die verwendeten Therapiekonzepte, die auch durch die DMGP (Deutschsprachige Medizinische Gesellschaft für Paraplegiologie) empfohlen werden, sind
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Propriozeptive Neuromuskuläre Fazilitation (PNF),
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Bobath-Therapie,
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Manuelle Therapie,
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thermoplastische Schienenversorgung,
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Sitzpositionsoptimierung,
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Ergonomie,
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sensomotorische Rehabilitation bei Restsensibilität.
Zur weiterführenden fachlichen Qualifikation sind folgende Konzepte zu empfehlen:
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Funktionelle Elektrostimulation (FES) (mit/ohne Biofeedback),
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Spiegeltherapie,
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Kinästhetik,
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Triggerpunktbehandlung und/oder Myofascial Release,
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funktionelle Bewegungslehre,
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Affolter-Modell, Prä-Affolter,
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Spiraldynamik und Neurodynamik zur Funktionsverbesserung und zum Funktionsersatz.
Aus orthopädischer Sicht ist speziell für tetraplegische Patienten die Einsetzbarkeit der gelähmten Hände von Interesse. Geeignet für diese Maßnahmen sind Patienten mit einem Lähmungsniveau von C6/7.
Hier werden in der Frühphase mittels individuell angepasster Handlagerungsschienen eine Kontrakturprophylaxe sowie ein spezielles Funktionshandtraining durchgeführt, das über einen Tenodeseeffekt den Handschluss und die Daumenadduktion bei der Handgelenkextension fördern soll. Hierdurch kann eine Haltefunktion erreicht werden, die zur Benutzung eines adaptierten Schreibstiftes oder auch von Haushaltsartikeln benötigt wird.
Die Patienten werden auf eine „aktive Funktionshand“ vorbereitet. Zunächst muss die passive Beugesehnenspannung erhalten bzw. eine Verkürzung durch eine spezielle Handlagerung gefördert werden. Dies erfolgt über ein Lagerungsschema, welches durch individuell angepasste IPP-Schienen (Intrinsic-Plus-Position) durchgeführt wird ([Abb. 11]). Um Fingergelenkkontrakturen zu vermeiden, erfolgt ein passives Durchbewegen ohne Überdehnen der Fingerbeugesehnen ([Abb. 12]).
Die wichtigste Verhaltensregel für das Bewegen einer Funktionshand ist, dass die Finger nur in Beugestellung des Handgelenkes gestreckt werden dürfen.
Sind die Hände anfangs noch schwach, so werden sie tagsüber in Cock-up-Schienen gelagert. Hierbei wird die Fauststellung ggf. durch ein Kleben der Finger unterstützt ([Abb. 13]). Bei jedem Abnehmen der Schienen ist auf Rötungen und Druckstellen zu achten.
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Physiotherapie
Ziele
Zielsetzung der Physiotherapie bei Querschnittpatienten ist im akuten Stadium einer Querschnittlähmung die Aktivierung des Patienten mit einem der Lähmungshöhe entsprechenden funktionellen Training mit den in der Übersicht zusammengefassten Therapiezielen.
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Förderung von
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Innervation
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Koordination
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Kraft
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Ausdauer
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Schulung der Körperwahrnehmung
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Erarbeitung eines Eigentrainings
Im chronischen Stadium sollen vor allem die Komplikationsprophylaxe und die neurologische Dysregulation geschult werden. Des Weiteren werden durch eine besondere Sporttherapie eine Unterstützung der therapeutischen Ziele unter gruppendynamischen Aspekten gefördert und die Erprobung von Hilfsmitteln durchgeführt.
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Lähmungshöhe C0–C4
Die Schwerpunkte der Physiotherapie sind abhängig von der Lähmungshöhe. So liegt bei Patienten mit einem Lähmungsniveau von C0–C4 das Augenmerk auf der Verbesserung der Funktionen des faziooralen Traktes und der Atemfunktion. Hinsichtlich der Hilfsmittelversorgung werden vor allem Hilfsmittel zur Mobilisation und Atemunterstützung erprobt.
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Lähmungshöhe unterhalb von C5
Bei Patienten mit einem Lähmungsniveau unterhalb von C5 kommen Übungen zur Unterstützung des Gleichgewichts hinzu, die einen instabilen, unterstützten Sitz ermöglichen sollen. Die Aktivitäten sollen bis zur Mithilfe bei unterstützten Bewegungsübergängen bis hin zum Transfer erarbeitet werden. Weiterhin soll die Handhabung eines mechanischen Rollstuhles, evtl. mit elektrischer Unterstützung erprobt werden. Des Weiteren werden durch die Physiotherapie das Transfertraining vom Rollstuhl auf die Untersuchungsliege und zurück sowie der Boden-Rollstuhl-Transfer geübt. Dies wird durch eine additive Sporttherapie mit Rollstuhltraining, Gerätetraining zur Förderung der Kraft und Ausdauer erreicht. Zusätzlich wird auch Rollstuhlrugby als Sportart angeboten.
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Inkomplette Lähmung
Speziell für inkomplette Lähmungsbilder ist das aktivierende Training mittels robotikgestützter Systeme, vor allem stationärer Art, wichtig. Studien von Wirz sowie Curt haben gezeigt, dass ein häufiges Trainieren der teilgelähmten Gliedmaßen in immer gleicher Art und Weise zu einer Verbesserung des Lähmungsgrades führt.
Mithilfe der stationären Robotiksysteme können Gewichtsabnahme und Kraft computergestützt gesteuert werden und somit dazugewonnene Muskelfunktionen weiter trainiert werden ([Abb. 14]).
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Pflege
Durch die Krankenpflege werden primär die erste Mobilisation und das Kreislauftraining durch Etablierung eines stabilen Sitzes durchgeführt. Zunächst im Bett wird der Patient unter Aufrichtung des Oberkörpers in den sog. Pilotsitz gebracht; weiterführend erfolgt die Mobilisation im Pflege- und Aktivrollstuhl. Im Zusammenhang mit der Verrichtung von Alltagstätigkeiten trainieren die Patienten das in der Physiotherapie Erlernte, wie z. B. sich die Zähne zu putzen oder zu rasieren. Auch die erlernten Transfers werden zur Vertiefung und Überführung in die Alltagstauglichkeit auf Stationsebene – zunächst gemeinsam mit dem Pflegepersonal – durchgeführt.
Einen weiteren Schwerpunkt im Bereich Pflegeverrichtungen liegt bei der Erprobung einer geeigneten Matratzenversorgung sowie der Erprobung eines geeigneten Dusch- bzw. Toilettenstuhls, immer unter Beachtung der Weichteilsituation. Diese Hilfsmittelversorgung ist individuell auf die anatomischen Gegebenheiten sowie individuellen Bedürfnisse abzustimmen.
In Zusammenhang mit dem Dusch- bzw. Toilettenstuhl steht auch die Darmentleerung als besonders wichtiges Kriterium im Mittelpunkt der Querschnittrehabilitation. In der Regel wird versucht, ein festes Abführschema mit Darmentleerung alle 1 – 2 Tage zu etablieren.
Die Darmentleerung sollte nach Möglichkeit in den Tagesablauf des Patienten integrierbar sein, sodass der Patient regelmäßig und ohne Inkontinenzereignisse den restlichen Tag verbringen kann. Zeitintervalle von 3 – 4 Tagen sollten nicht toleriert werden, da es im Verlauf einer Querschnittlähmung auch zu einer Darmträgheit kommt, die nicht selten von Medikamenten herrührt, welche die Blasenaktivität dämpfen. Durch eine verlängerte Darmpassage kommt es zu vermehrten Ausgasungen des Stuhlbreis, was wiederum zu einer Überblähung und verminderten Darmmotilität führt.
Ein entsprechendes „Darmmanagement“ kann unter Zuhilfenahme von digitaler Entleerung, Zäpfchen, Klysmen oder Irrigationssystemen, aber auch oraler Abführmittel etabliert werden (s. a. Fallbeispiel 2). Spätfolgen einer nicht korrekt durchgeführten Darmentleerung können schwerwiegend sein und über längere Sicht zu einer Ileussymptomatik führen ([Abb. 15]), die gelegentlich nur noch durch die Anlage eines Anus praeter zu beheben ist.
Anamnese
Männlicher, 57-jähriger Paraplegiker – Lähmungsniveau unterhalb von Th8 (AIS A) – seit einem BG-lich versicherten Forstunfall vor 25 Jahren.
Der Patient klagt über ein vermehrtes Völlegefühl und abwechselnd über Koprostase und Durchfälle seit ca. 10 Monaten mit zunehmender Tendenz. Er habe mit Laxanzien versucht, die Koprostasephasen selbstständig in den Griff zu bekommen.
Vorstellung zur BG-Reha in der Rückenmarkverletztenabteilung zur Abklärung der Darmproblematik und Verbesserung der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit.
Diagnostik
Gabe von Kolontransitkapseln für 6 Tage und Anfertigung einer Abdomenübersichtsaufnahme (der Befund ist in [Abb. 15] dargestellt. Es zeigt sich ein massiv stuhlgefülltes Colon ascendens, transversum und descendens mit einer Ansammlung der Marker im Sigma-Rektum-Bereich.
Die berechnete Passagezeit beträgt 122 Stunden (die Norm bei Männern beträgt < 60 Stunden).
Therapeutische Maßnahmen
Daraufhin Entleerung des Dickdarms entsprechend einer Darmreinigung zur Koloskopie, um alle harten Stuhlanteile zu entfernen. Anschließend erfolgt der Neuaufbau des Darmmanagements mit Irrigationssystem.
Auch perianale Fisteln und Abszesse sowie das gehäufte Auftreten von höhergradigen Hämorrhoiden kommt vor ([Abb. 16]).
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Spastik
Die Spastik der quergestreiften Skelettmuskulatur ist ein Phänomen der fehlgeleiteten Informationsverarbeitung auf Rückenmarkebene. Teilweise wird die Spastik als störend und schmerzhaft empfunden, manchmal ist die Spastik auch gefährdend, wenn der Patient Gefahr läuft, aus dem Rollstuhl zu stürzen.
Prinzipiell ist die Spastik jedoch nicht als „Feind“ zu betrachten, da sie die Muskulatur passiv beübt und stabilisierend für die Extremitäten und den Rumpf wirken kann.
Dehnung
Sollte die Spastik jedoch als schmerzhaft oder gefährdend empfunden werden, sodass wichtige Verrichtungen des Alltags nicht mehr getätigt bzw. geübt werden können, wird eine Behandlung notwendig. Generell werden die Gelenke bei Querschnittpatienten gedehnt, was bei leichten Muskelspastiken schon ausreichend sein kann. Auch spezielle, dehnende Lagerungen gehören hier zu den konventionellen Behandlungstechniken.
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Medikamentöse Behandlung
Ist die Spastik nicht durch derartige Mittel zu beeinflussen, wird eine orale Medikation mit Baclofen begonnen. Man beginnt mit einer geringen Dosis und titriert sich bis an die niedrigste notwendige Dosis heran. Eine komplette Ausschaltung der Spastik ist nicht erwünscht.
Sollte die Spastik durch eine singuläre Medikation mit Baclofen nicht zu beeinflussen sein, so empfiehlt sich die zusätzliche Gabe eines weiteren Medikamentes wie z. B. Dantamacrin oder Tizanidin. Sind diese Medikamente oral ausgereizt und spricht der Patient auch nicht auf THC-Derivate an, ist die Anlage einer intrathekalen Baclofen-Pumpe in Erwägung zu ziehen.
Es sollte zunächst eine externe Pumpe für den Zeitraum von ca. 1 Woche angelegt werden. Dieses Vorgehen ermöglicht es dem Arzt und Patienten, die bestmögliche Tagesdosis zu ermitteln. Kommt es zu einer eindeutigen Reduktion der Spastik und profitiert der Patient bei den täglich zu verrichtenden Übungen in Bezug auf seine Selbstständigkeit, wird der intrathekale Katheter nach 7 – 10 Tagen gezogen, und man wartet, ob sich die Spastik wieder im vorherigen Ausmaß einstellt. Tut sie dies, wird eine Baclofen-Pumpe als permanentes Implantat eingesetzt. Hierzu stehen mechanische und programmierbare Pumpen zur Verfügung.
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Neurourologische Aspekte beim Querschnittsyndrom
In faktisch allen Formen und Ausprägungen der Querschnittlähmung kommt es zur Ausbildung einer neurogenen Blase und Einschränkung der Sexualfunktion.
Die Funktionsstörungen sind in Dauer und Beeinträchtigung unterschiedlich und prägen neben den im Vordergrund stehenden Mobilitätseinschränkungen das weitere Leben des Rückenmarkverletzten.
Abhängig vom Verletzungsmuster bleibt im günstigsten Fall die Spontanmiktion erhalten. Die typischen Formen der Entleerung sind
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der intermittierende Selbstkatheterismus und
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die reflektorische Harnentleerung.
Im Fall der fehlenden Handfunktion kann eine dauerhafte Versorgung mit einem suprapubischen Fistelkatheter sinnvoll sein. Seltener besteht die Harnableitung durch einen transurethralen Blasenkatheter.
In der Rehabilitation der Harnblase problematisch sind Harnwegsinfekte und chronische Veränderungen der Harnwege.
Neben bereits in der Antike und im Mittelalter verwendeten Kathetern aus Pflanzenmaterial und tierischem Gewebe begründete sich die Grundlage der Neurourologie im Sinne der Etablierung des Katheterismus. Die fundamentale Erkenntnis zur Gewährleistung der Harnentleerung zur Prophylaxe vor vesikorenalem Reflux, Niereninsuffizienz und Urämie haben zu einer annähernd vergleichbaren Lebenserwartung gegenüber den Nichtverletzten geführt.
Nach Eintritt der Querschnittlähmung liegt die Schockphase vor, die zwischen 4 – 8 Wochen anhalten kann. In dieser Phase zeigt die Harnblase keine Reflexantwort oder Druckanstieg.
Die Harnableitung durch einen Katheter ist in dieser Phase essenziell. Dies wird durch die Anlage eines transurethralen oder suprapubischen Katheters gewährleistet. Bei milder ausgeprägten Lähmungen wie der spastischen Tetraparese kann auch sofort mit dem Einmalkatheterismus begonnen werden.
Diagnostische Säule der Neurourologie ist die urodynamische Untersuchung. Sie dient der Klassifikation der neurogenen Funktionsstörung und liefert genau im Übergang von der Schockphase zur Manifestierung der eigentlichen Störung die therapeutische Grundlage.
Neurogene Blasenfunktionsstörungen lassen sich grundsätzlich in zwei Formen einteilen:
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Detrusorhyperaktivität und
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Detrusorhypoaktivität.
Diese Störungen können zusätzlich mit einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie vorliegen.
Detrusorhypoaktivität
Das Unvermögen zur spontanen Harnentleerung zwingt zur Katheterisierung.
Ziel ist das rasche Erlernen des intermittierenden Selbstkatheterismus oder Fremdkatheterismus.
Ist der Katheterismus nicht umsetzbar, wie es bei der kompletten Tetraplegie der Fall ist, sollte entweder eine Harnableitung durch einen suprapubischen Blasenkatheter etabliert werden oder eine Sphinkterotomie zur inkontinenten reflektorischen Harnentleerung mit Kondomurinalversorgung durchgeführt werden.
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Detrusorhyperaktivität
Zum Erhalt der Blasenentleerung, Schutz des oberen Harntraktes und Rehabilitation der gestörten Blasenfunktion sind die Anwendungen der Detrusorhyperaktivität herauszustellen.
Basis der Therapie ist hierbei die medikamentöse anticholinerge Dämpfung des überaktiven Detrusors, soweit keine Kontraindikationen wie Unverträglichkeit, Nebenwirkungen oder im speziellen Falle einer Darmträgheit bestehen. Die tägliche anticholinerge Dauertherapie führt zum einen zu einer Druckabsenkung im Detrusor, zum anderen wird eine ausreichende Blasenkapazität gewährleistet.
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Vor jeder Therapieverordnung steht die zielführende Diagnostik, um eine korrekte Abschätzung der Lähmungshöhe, des Lähmungsgrades, der prognostischen Aussichten und der geeigneten Anforderungen hinsichtlich der Therapieziele und Möglichkeiten des individuellen Patienten treffen zu können.
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Die Diagnostik besteht aus
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Anamnese,
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körperlicher Untersuchung,
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neurophysiologischer Untersuchung,
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Bildgebung,
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Labordiagnostik,
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Lungenfunktionsdiagnostik.
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Die rehabilitative Therapie beginnt bereits auf der Intensivstation.
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An Frühkomplikationen sind heterotope Ossifikationen, Thrombosegefahr, Druckulzera sowie pulmonale Infektionen zu bedenken.
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Das therapeutische Vorgehen gliedert sich in
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Ergotherapie,
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Physiotherapie,
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pflegerische Maßnahmen.
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Die Spastik ist aufgrund der fehlgeleiteten Informationsverarbeitung auf Rückenmarkebene ein ganz spezielles Problem querschnittgelähmter Patienten; sie ist dann therapeutisch anzugehen, wenn sie schmerzhaft ist oder ein Gefahrenpotenzial für den Patienten beinhaltet.
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Neurogene Blasenfunktionsstörungen müssen ebenfalls in die Akutrehabilitation querschnittgelähmter Patienten einbezogen werden.
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Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag ist Priv.-Doz. (PMU-Salzburg) Dr. Florian Högel, Murnau.
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Florian Högel
Priv.-Doz. Dr. med. Jahrgang 1972. Nach einer Ausbildung zum staatl. examinierten Krankenpfleger 1996 – 2003 Studium der Humanmedizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und LMU München. 2011 Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, 2014 Spezielle Unfallchirurgie sowie ATLS-Zertifizierte. Seit 2011 tätig am Zentrum für Wirbelsäulen und Rückenmarkverletzte der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau, ab 2015 als Oberarzt.
Ryan Patrick Esser
Dr. med., Jahrgang 1969. 1994 – 1998 Studium der Humanmedizin an der LMU München. 2000 Promotion. 2001 – 2010 Urologische Klinik am Klinikum Landshut, 2004 Facharzt Urologie, Zusatzbezeichnungen Notfallmedizin, Medikamentöse Tumortherapie, Fachgebundene genetische Beratung. Seit 2010 in der Urologischen Abteilung der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau beschäftigt.
Volker Bühren
Prof. Dr. med. Medizinstudium und Facharztweiterbildung in der Chirurgie an der MH Hannover. Anschließend Oberarzt der Abteilung für Unfallchirurgie der Chirurgischen Universitätsklinik Homburg/Saar. Kommissarischer Direktor der Abteilung 1990 – 1992. Seit 1993 Ärztlicher Direktor der Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Murnau, seit 2011 deren Klinikgeschäftsführer.
Interessenkonflikt
Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Literatur
- 1 Richard-Denis A, Ehrmann Feldman D, Thompson C. et al. Costs and length of stay for the acute care of patients with motor-complete spinal cord injury following cervical trauma: the impact of early transfer to specialized acute SCI center. Am J Phys Med Rehabil 2017; 96: 449-456
- 2 Vastmans J, Vogel M, Högel F. et al. Verletzungen des Rückenmarks. Orthop Unfallchir up2date 2009; 4: 367-394
- 3 Müller F. Heterotope Ossifikationen. In: Weigel B, Nerlich M. Hrsg. Praxisbuch Unfallchirurgie. Bd. 2, Kap 18.2.3. Berlin: Springer; 2005: 1086-1088
- 4 Krauss H, Maier D, Bühren V. et al. Development of heterotopic ossifications, blood markers and outcome after radiation therapy in spinal cord injured patients. Spinal Cord 2015; 53: 345-348
- 5 Spinal Cord Injury Thromboprophylaxis Investigators. Prevention of venous thromboembolism in the acute treatment phase after spinal cord injury: a randomized, multicenter trial comparing low-dose heparin plus intermittend pneumatic compression with enoxaparin. J Trauma 2003; 54: 1116-1124
- 6 Dietz V. Proprioception and locomotor disorders. Nature Rev Neurosci 2002; 3: 781-790
- 7 Dietz V, Curt A. Neurological aspects of spinal cord repair: promises and challenges. Lancet Neurol 2006; 5: 688-694
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Richard-Denis A, Ehrmann Feldman D, Thompson C. et al. Costs and length of stay for the acute care of patients with motor-complete spinal cord injury following cervical trauma: the impact of early transfer to specialized acute SCI center. Am J Phys Med Rehabil 2017; 96: 449-456
- 2 Vastmans J, Vogel M, Högel F. et al. Verletzungen des Rückenmarks. Orthop Unfallchir up2date 2009; 4: 367-394
- 3 Müller F. Heterotope Ossifikationen. In: Weigel B, Nerlich M. Hrsg. Praxisbuch Unfallchirurgie. Bd. 2, Kap 18.2.3. Berlin: Springer; 2005: 1086-1088
- 4 Krauss H, Maier D, Bühren V. et al. Development of heterotopic ossifications, blood markers and outcome after radiation therapy in spinal cord injured patients. Spinal Cord 2015; 53: 345-348
- 5 Spinal Cord Injury Thromboprophylaxis Investigators. Prevention of venous thromboembolism in the acute treatment phase after spinal cord injury: a randomized, multicenter trial comparing low-dose heparin plus intermittend pneumatic compression with enoxaparin. J Trauma 2003; 54: 1116-1124
- 6 Dietz V. Proprioception and locomotor disorders. Nature Rev Neurosci 2002; 3: 781-790
- 7 Dietz V, Curt A. Neurological aspects of spinal cord repair: promises and challenges. Lancet Neurol 2006; 5: 688-694