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DOI: 10.1055/s-0043-108086
§ 64 StGB sollte abgeschafft werden – Pro
§ 64 of German Penalty Code Should be Abolished – ProEs bereitet Unbehagen, sich mit einer derartigen Position zu exponieren, die viele als Angriff auf ihre Tätigkeit erleben könnten und ich habe auch lange gezögert, dies zu tun. Auch mag es problematisch erscheinen, einen solchen Vorschlag „von außen“, d. h. selbst nicht in der forensischen Psychiatrie arbeitend, zu formulieren. Dennoch gibt es gewichtige Gründe, diese Debatte zu führen, die die Psychiatrie als Fachgebiet insgesamt betrifft.
Bei Gewaltdelikten stehen 30 – 50 % der Täter unter Alkoholeinfluss, 5 – 15 % der Tatverdächtigen sind Konsumenten harter Drogen. Mindestens ein Drittel der Menschen im Strafvollzug ist nach Schätzungen alkohol- und/oder drogenabhängig. Dass eine vergleichsweise kleine Zahl dieser Menschen in der Gesamtzeit des Strafvollzugs oder einem Teil dieser Zeit in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt wird, ist einer der deutschen Sonderwege in der Versorgung psychischer Erkrankungen. Eine Sonderregelung für süchtige Straftäter wurde erstmals bei der Einführung des Maßregelrechts im Strafgesetzbuch des Deutschen Reichs 1933 im Gewohnheitsverbrechergesetz getroffen, damals hieß es „Unterbringung in der Trinkerheilanstalt“. Im Rahmen einer Strafrechtsreform 1969 erfolgte die Umwandlung in den heutigen § 64 StGB: Unterbringung in der Entziehungsanstalt (alle Angaben aus [1]). Man braucht hier nicht argumentativ in die Tiefe zu gehen, um darzulegen, dass sich seit dieser Zeit einige Auffassungen von Krankheit, Patienten- und Bürgerrechten wesentlich geändert haben, sodass es nicht vermessen erscheint, den Geist und Zweck einer solchen Gesetzgebung grundsätzlich zu überprüfen. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Erkenntnisse über die Zusammenhänge von Substanzmissbrauch und Delinquenz sehr vertieft. Neben substanzinduzierten psychopathologischen Auswirkungen und der Beschaffungskriminalität gibt es auch bidirektionale Zusammenhänge und Scheinkausalitäten bei dissozialen Persönlichkeitsmerkmalen, sozialer Deprivation und bestimmten subkulturellen Milieus. Substanzmissbrauch und Delinquenz haben häufig gemeinsame psychosoziale und möglicherweise auch neurobiologische Hintergründe, direkte kausale Zusammenhänge sind allenfalls mäßig. Die zwangsweise Unterbringung und Behandlung eines Teils der straffällig gewordenen Menschen mit einer Suchterkrankung folgt keinem klaren Kriterium wie der Schuldunfähigkeit beim § 63 StGB, sondern hat als Eingangsmerkmale den Rausch oder den „Hang“ – also Merkmale, die im Grunde alle Suchtkranken haben, die die Zielpopulation deshalb sehr unscharf definieren und zwangsläufig zu den schon immer beklagten Fehlzuweisungen führen. Die Gesetzesreform von 2007 mit der Umwandlung einer Muss-Vorschrift in eine Soll-Vorschrift hat die Erwartungen nicht erfüllt – anstelle einer erwarteten Eingrenzung einer sinnvollen Indikation ist eine stetige Zunahme der Zuweisungen zu beobachten [2], nicht zuletzt auch infolge einer Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die die Einweisungsvoraussetzungen immer weiter fasst. Zusätzlich haben in den letzten Jahren einige Argumente an Bedeutung gewonnen, die ich nachfolgend kurz skizzieren möchte:
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Im Zuge der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts von 2013 zur Zwangsbehandlung mussten das Betreuungsrecht und die Gesetze zur öffentlich-rechtlichen Unterbringung der Bundesländer grundlegend reformiert werden. Daran knüpfte sich eine umfangreiche bis heute geführte Diskussion um die ethische Rechtfertigung psychiatrischer Zwangsbehandlungen an. Es besteht inzwischen eine breite Übereinstimmung auch unter Medizinethikern und Psychiatern, dass eine Zwangsbehandlung einwilligungsfähiger Personen aus ethischen Gründen grundsätzlich abzulehnen ist [3]. Die zwangsweise Behandlung im Maßregelvollzug wegen Substanzabhängigkeit oder -missbrauch stellt zwar keine körperlich invasive Behandlung wie die Verabreichung eines Antipsychotikums dar. Dennoch könnte durchaus kritisch diskutiert werden, ob die erzwungene Suchtbehandlung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht ebenfalls eine Zwangsbehandlung darstellt. Anders als bei den nach § 63 StGB im Maßregelvollzug untergebrachten Patienten sind die Betroffenen nahezu immer als einwilligungsfähig anzusehen.
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Ein weiteres Problem könnte sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ergeben, die seit ihrer Ratifizierung durch den Bundestag geltendes Recht in Deutschland ist. Der Artikel 12 der UN-BRK (Gleichheit vor dem Recht) wird dahingehend interpretiert, dass niemand allein aufgrund einer Diagnose oder eines medizinischen Merkmals anders behandelt werden darf als andere Menschen. Genau dies ist aber möglicherweise beim § 64 StGB der Fall, weil kein eindeutig diskriminierendes Eingangskriterium wie die Schuldfähigkeit besteht. Eine eingehende rechtliche Prüfung dieser Problematik steht meines Wissens bisher noch aus.
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Der Nachweis einer Wirksamkeit der Maßregel, d. h. die Evidenz unter medizinischen Kriterien, fehlt bisher im Bereich des § 64 StGB weitgehend. Naturgemäß sind randomisierte kontrollierte Studien aus rechtlichen Gründen nicht durchführbar, insofern bleiben naturalistische deskriptive Studien. Diese weisen nach bisherigen Erkenntnissen eine eher schlechte Bilanz auf: Eine Beendigung mangels Aussicht auf Behandlungserfolg erfolgt in fast der Hälfte der Fälle [1], in einer Studie aus Nordrhein-Westfalen sogar bei 73 % [4]. Mit Spannung darf man auf die im Herbst dieses Jahres zu erwartenden Ergebnisse der prospektiven Studie von Schalast et al. warten, die den Verlauf bei 300 Patienten im Maßregelvollzug nach § 64 StGB mit ebenfalls 300 Menschen mit Suchtproblemen im Strafvollzug vergleichen [5].
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In den letzten Jahren erleben wir bei Entweichungen aus dem Maßregelvollzug (auch bei nicht als aktuell gefährlich eingeschätzten Patienten!) regelmäßig eine Berichterstattung in allen Medien, über dem Klinikgelände kreisende Polizeihubschrauber und alle damit verbundenen Begleiterscheinungen, bis zur hohen angesichts dieser Stimmung gut nachvollziehbaren Nervosität von Geschäftsführern und Ministern in diesen Angelegenheiten. Dies hat sich gegenüber früheren Zeiten dramatisch geändert, und zwar trotz eines drastischen Rückgangs der Häufigkeit von Entweichungen [6]. Die unausweichliche Konsequenz, die in den letzten Jahren auch in einem Land mit bislang sehr rehabilitationsorientiertem Maßregelvollzug wie Baden-Württemberg zu beobachten ist, ist die Umwandlung von psychiatrischen Krankenhäusern in massiv gesicherte Hochsicherheitsanstalten, mit Sicherheitszäunen, Schleusen, Videoüberwachung usw. Angesichts dieser massiven Aufrüstung stellt sich drängend die Frage der Verhältnismäßigkeit. Wenn die Sicherungsaspekte gegenüber den Therapieaspekten dermaßen überwiegen, ist dann eine sinnvolle Therapie überhaupt noch möglich und ist es angebracht, eine derartige Einrichtung als Psychiatrisches Krankenhaus bzw. angegliedert an ein solches zu führen?
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In der Wahrnehmung in der Öffentlichkeit ist der Maßregelvollzug nach § 64 StGB allemal nicht eine Besonderheit der Justiz, sondern „die Psychiatrie“. Es ist vermutlich nicht abwegig zu vermuten, dass wiederkehrende Berichte über entwichene „Psychiatriepatienten“, die dann unter Umständen auch noch Straftaten begehen oder zumindest in den Medien als sehr gefährlich geschildert werden, die Effekte jeglicher Antistigma-Kampagnen gut und gerne annullieren können. Wie stark die Berichterstattung über Einzelfälle gesellschaftliche Vorurteile beeinflusst, konnte erst aktuell wieder gezeigt werden [7].
Es erscheint mir aus den genannten Gründen wünschenswert, dass die Ende des Jahres vorliegenden Ergebnisse der nordrhein-westfälischen Evaluationsstudie ergebnisoffen diskutiert werden. Wenn die Ergebnisse sehr überzeugend zugunsten der Wirksamkeit des Maßregelvollzugs sind, werde ich meine kritische Meinung revidieren. Wenn nicht, würde ich mir wünschen, dass die Politik bereit ist, auch einen Paradigmenwechsel in Erwägung zu ziehen. Einige unserer Nachbarländer machen uns längst vor, dass forensische Psychiater straffällig gewordene suchtkranke Menschen auch in Haftanstalten mit erfolgreichen Konzepten behandeln können.
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Literatur
- 1 Schalast N. Behandlung substanzabhängiger Täter. In: Bliesener T, Lösel F, Köhnken G. Hrsg. Lehrbuch Rechtspsychologie. Bern: Huber; 2014: 489-511
- 2 Schalast N. Die gesetzliche Neuregelung der Unterbringung gemäß § 64 StGB und die Kapazitätsprobleme der Entziehungsanstalten. Recht und Psychiatrie 2012; 30: 81-90
- 3 DGPPN. Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. Nervenarzt 2014; 85: 1419-1431
- 4 Pollähne H, Kemper A. Fehleinweisungen in die Entziehungsanstalt § 64 StGB): Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug Entlassungsjahrgang 2005. Berlin: Verlag für wissenschaftliche Literatur; 2007
- 5 Schalast N, Kösters C. Evaluation des Maßregelvollzugs gemäß § 64 StGB: Machbarkeitsstudie (2008). Im Internet: https://www.uni-due.de/imperia/md/content/rke-forensik/projekte/machbarkeitsstudieevaluationpar642008.pdf
- 6 Schalast N. Die Dauer der Unterbringung in der Entziehungsanstalt. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2013; 7: 105-113
- 7 Schomerus G, Stolzenburg S, Bauch A. et al. Shifting blame? Impact of reports of violence and mental illness in the context of terrorism on population attitudes towards persons with mental illness in Germany. Psychiatry Res 2017; 24: 164-168
Korrespondenzadresse
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Literatur
- 1 Schalast N. Behandlung substanzabhängiger Täter. In: Bliesener T, Lösel F, Köhnken G. Hrsg. Lehrbuch Rechtspsychologie. Bern: Huber; 2014: 489-511
- 2 Schalast N. Die gesetzliche Neuregelung der Unterbringung gemäß § 64 StGB und die Kapazitätsprobleme der Entziehungsanstalten. Recht und Psychiatrie 2012; 30: 81-90
- 3 DGPPN. Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung psychisch erkrankter Menschen. Eine ethische Stellungnahme der DGPPN. Nervenarzt 2014; 85: 1419-1431
- 4 Pollähne H, Kemper A. Fehleinweisungen in die Entziehungsanstalt § 64 StGB): Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zum nordrhein-westfälischen Maßregelvollzug Entlassungsjahrgang 2005. Berlin: Verlag für wissenschaftliche Literatur; 2007
- 5 Schalast N, Kösters C. Evaluation des Maßregelvollzugs gemäß § 64 StGB: Machbarkeitsstudie (2008). Im Internet: https://www.uni-due.de/imperia/md/content/rke-forensik/projekte/machbarkeitsstudieevaluationpar642008.pdf
- 6 Schalast N. Die Dauer der Unterbringung in der Entziehungsanstalt. Forens Psychiatr Psychol Kriminol 2013; 7: 105-113
- 7 Schomerus G, Stolzenburg S, Bauch A. et al. Shifting blame? Impact of reports of violence and mental illness in the context of terrorism on population attitudes towards persons with mental illness in Germany. Psychiatry Res 2017; 24: 164-168