Schlüsselwörter
gemeinsame Entscheidungsfindung - Genexpressionsanalyse - medizinischer Nutzen - molekulargenetische
Individualisierung
Einleitung
Die mit Ansätzen der sogenannten individualisierten Medizin (IM) – insbesondere von
Patientenseite – verbundenen Hoffnungen und Erwartungen sind seit einigen Jahren Gegenstand
intensiver Debatten [1], [2]. Primär geht es dabei um die Frage, ob und inwiefern Erwartungen an die IM, den
einzelnen Patienten[
1 ]
als Individuum zu berücksichtigen, gerechtfertigt sind. Nicht zuletzt sind diese Diskussionen Folge
zum Teil stark divergierender wissenschaftlicher und ärztlicher Einschätzungen des
Potenzials der IM. So finden sich beispielsweise Positionen, denen gemäß eine flächendeckende
Implementierung der IM nicht nur die Gesundheitsversorgung effektiver und effizienter
gestalten könnte, sondern darüber hinaus eine auf die individuellen Wünsche und Bedürfnisse des einzelnen Patienten abgestimmte Gesundheitsversorgung ermöglichen würde [3], [4], [5], [6], [7], [8], [9]. Demgegenüber wird aber auch postuliert, dass es sich bei der IM primär um einen
von den ökonomischen Interessen der Industrie getriebenen „Hype“ handele, ihr tatsächliches
Potenzial überschätzt werde, was nicht zuletzt unrealistische Hoffnungen auf Patientenseite
wecke [10], [11], [12]: Die IM habe als „an molekulargenetischen Merkmalen ausgerichtete Medizin nichts
mit einer dem individuellen Patienten zugewandten Medizin zu tun. Eine ‚Individualisierung‘
find[e] lediglich auf molekulargenetischer Ebene, nicht jedoch auf einer persönlichen
Ebene zwischen Arzt und Patient statt“ ([12]: S. 236).
Bei genauerer Betrachtung der tatsächlichen Verwendungsweise des Begriffs ergibt sich,
dass unter IM zumeist eine Medizin verstanden wird, „die versucht, Stratifizierung
und Timing der Gesundheitsversorgung durch Nutzung von Biomarkern auf der Ebene molekularer
Signalwege sowie der Genetik, Proteomik und Metabolomik zu verbessern“ ([13]: S. 226, [14], [15]). Die Feststellung, dass die IM lediglich auf molekulargenetischer Ebene individualisiere, scheint also durchaus zutreffend [2], [16].
Allerdings ist auch das Potenzial einer solchermaßen molekulargenetisch fokussierten
IM durchaus differenziert zu betrachten [2], [17]. Als paradigmatisches Beispiel können Genexpressionsanalysen zur Entscheidung über
adjuvante Systemtherapieoptionen bei Mammakarzinompatientinnen gelten [18]. Eine Besonderheit stellt dabei die Subgruppe der Patientinnen mit primärem hormonrezeptorpositivem,
HER-2-negativem Mammakarzinom dar: Etwa 80% dieser Patientinnen benötigen keine adjuvante
Chemotherapie zur Vermeidung eines Rezidivs [19]. Problematisch ist allerdings, dass für diese Subgruppe auf Basis bewährter Faktoren
(z. B. Patientenalter oder Lymphknotenstatus) keine klaren Empfehlungen für oder gegen
eine adjuvante Chemotherapie ausgesprochen werden können [20]. Allerdings wurden in den letzten Jahren verschiedene Gene, vornehmlich im Tumorgewebe,
identifiziert, deren Expressions- bzw. Aktivitätsniveaus prädiktive Aussagen hinsichtlich
des Nutzens einer adjuvanten Chemotherapie bei diesen Patientinnen erlauben. Diese
Expressions- und Aktivitätsniveaus lassen sich mithilfe von Genexpressionstests wie
dem Oncotype-DX, EndoPredict, Mammaprint oder Prosigna untersuchen, um – so die Verfechter
– zuverlässig adäquate adjuvante Therapieempfehlungen aussprechen zu können [21], [22], [23], [24], [25]. Während nationale wie internationale Leitlinien die Durchführung solcher Tests
empfehlen (www.ago-online.de), hat das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG)
jüngst konstatiert, der Nutzen solcher Strategien könne derzeit nicht nachgewiesen
werden [20].
Damit stellt sich auch bei der molekulargenetisch individualisierten Medizin die Frage, ob die generierten Hoffnungen und Erwartungen – etwa die Vermeidung
einer Chemotherapie zum Nutzen einer Patientin – nicht angesichts des tatsächlich
Möglichen enttäuscht werden. Insbesondere ist zu fragen, ob und inwiefern eine gemeinsame
Entscheidungsfindung von Arzt und Patient angesichts der komplexen medizinisch-biologischen
Zusammenhänge sowie der jeweils notwendigen Einzelfallentscheidungen überhaupt möglich
ist. Zwar gibt es eine Reihe empirischer Untersuchungen zum Einfluss der Ergebnisse
von Genexpressionstests auf ärztliche Therapieentscheidungen sowie möglicherweise
auftretende Entscheidungskonflikte bei Patienten [26], [27]. Kaum erforscht wurde bislang allerdings – insbesondere im Kontext der Entscheidung
über eine adjuvante Chemotherapie bei Patientinnen mit primärem hormonrezeptorpositivem,
HER-2-negativem Mammakarzinom –,
-
wie Patienten solchermaßen molekulargenetisch individualisierte Ansätze und auf ihnen
beruhende Therapieentscheidungen wahrnehmen,
-
wie sie sich in die Therapieentscheidungen einbezogen fühlen, und
-
welche Hoffnungen und Erwartungen sie mit solchen Ansätzen verbinden.
Diese Perspektive ist aber für einen ethisch angemessenen Umgang mit den neuen Möglichkeiten
einer biomarkerbasierten, stratifizierenden Medizin von herausragender Bedeutung,
insbesondere für die Realisierung selbstbestimmter Entscheidungen im Rahmen eines
Shared Decision Making. Ziel der vorliegenden Studie war es deshalb, anhand qualitativ-explorativer Interviews
das Verständnis von Patientinnen mit primärem hormonrezeptorpositivem, HER-2-negativem
Mammakarzinom über individualisierte Behandlungsansätze sowie ihre Erlebnisse und
Erwartungen in Bezug auf die Durchführung von Genexpressionsanalysen zu untersuchen.
Material und Methoden
Rekrutierung
Ausgewählt wurden Patientinnen, bei denen ein primäres, hormonrezeptorpositives, HER-2-negatives
Mammakarzinom festgestellt wurde und die sich im Rahmen ihrer adjuvanten Therapieplanung
einer Genexpressionsanalyse unterzogen hatten. Die Teilnehmerinnen wurden von Ärzten
im Brustzentrum der Universitätsklinik München rekrutiert. Die Rekrutierung zog sich
über einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren. Mit den Patientinnen, die einer freiwilligen
Teilnahme zustimmten und eine Einverständniserklärung unterschrieben, wurde ein Interviewtermin
vereinbart. Alle Interviews erfolgten im häuslichen Umfeld der Patientinnen. Die Interviewstudie
wurde von der Ethikkommission der Ludwig-Maximilians-Universität für unbedenklich
befunden (Projekt-Nr. 262-13, Schreiben vom 02.07.2013).
Stichprobe
Es konnte eine Stichprobe aus 8 Patientinnen rekrutiert werden, bei denen die Erkrankung
in den Jahren 2013 und 2014 diagnostiziert worden war. Alle befragten Patientinnen
wurden im Brustzentrum der Universitätsklinik München behandelt. Bei 6 Patientinnen
war der erstbehandelnde Arzt im Brustzentrum, 2 weitere Patientinnen wechselten nach
Erhalt der Diagnose in das Brustzentrum. Drei Patientinnen nahmen an der ADAPT-Studie
teil [28], 3 weitere an der deutschen Breast Cancer Intrinsic Subtype Study (BCIST) [27]. Zwei Patientinnen konnten aufgrund diagnostischer Probleme nicht an einer der Studien
teilnehmen.
Zum Zeitpunkt der Befragung war der Tumor bei allen Patientinnen operativ entfernt
worden. Die adjuvante Therapieplanung wurde in Abhängigkeit von den Ergebnissen der
Genexpressionsanalyse vollzogen. Drei Patientinnen erhielten zum Zeitpunkt der Befragung
eine Chemotherapie und hatten die Hälfte ihrer Chemotherapiezyklen beendet. Weitere
3 Patientinnen hatten mit einer Strahlentherapie begonnen. Bei 2 Patientinnen war
eine Brustamputation vorgenommen worden, an die sich keine weitere Behandlung angeschlossen
hatte ([Tab. 1]).
Tab. 1 Exemplarischer Ausschnitt aus dem Kategoriensystem: theoriegeleitet entwickelte Themen,
induktiv gebildete Ober- und Unterkategorien mit Variablen, Ankerbeispielen und Definitionen.
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Thema
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Oberkategorien
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Unterkategorie
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Variable
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Ankerbeispiel
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Definition
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Verständnis „individualisierter Medizin“
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Wahrnehmung der Behandlung
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medizinische Aspekte
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Art der Medikation
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„Jeder bekommt etwas anderes also das habe ich bisher noch nicht ganz so rausgefunden.
Mei gut man redet ein bisschen aber irgendwie bekommt doch jeder was anderes also
die Beutelchen schauen immer alle anders aus.“ (RESP 2)
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Aussagen, inwiefern die Behandlung als auf die Patientin maßgeschneidert empfunden
wurde (Art der Medikation, ärztliche Behandlung)
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Gründe für Empfinden
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Auswahl mehrerer Behandlungsoptionen
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„Haben sich die drei Ärzte, also Radiologie und Oberärztin, so zusammengesetzt und
mir erklärt, was für Möglichkeiten.“ (RESP 6)
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Aussagen der Patientinnen, warum sie die Behandlung als „maßgeschneidert“ bzw. nicht als „maßgeschneidert“ empfunden haben
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Wahrnehmung der Genexpressionsanalyse
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Bewertung der Genexpressionsanalyse
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positive Bewertung
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passende Therapie kann gefunden werden
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„Also wenn die Diagnose einmal da ist, sagen wir mal so, und es gibt die Möglichkeit
solche Tests zu machen, bevor man in eine Behandlung geht, um herauszufinden, wie
ein Körper anspricht, finde ich das eine gute Option es maßgeschneidert auf einen
zu finden. Und nicht einfach so einen Mantel überzustülpen.“ (RESP 4)
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positive und negative Bewertung der Genexpressionsanalyse durch die Patientinnen
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Erwartungen an den Ablauf der Behandlung
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Erwartungen an den Ablauf der Behandlung
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zeitlicher Ablauf
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zeitnahe Termine
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„Und da habe ich sofort am nächsten Tag einen Termin bekommen.“ (RESP 7)
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Angaben zu Erwartungen der Patientinnen an den Ablauf der Behandlung (zeitlicher und
medizinischer Ablauf, etc.)
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Wünsche und Verbesserungsvorschläge
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(psychologische) Unterstützung für Angehörige
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„Und ich glaube auch, also ich empfinde es auch so, dass die Angehörigen sehr belastet
sind. (…). Bei den Kindern ist es jetzt nicht so, aber mein Mann zum Beispiel leidet
schon sehr darunter. Und ich weiß nicht, was man da noch verbessern könnte, dass das
einfach, die auch aufgefangen werden oder, ja.“ (RESP 5)
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Aussagen zu Wünschen und Verbesserungsvorschlägen der Patientinnen in Bezug auf den
Ablauf der Behandlung
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Einbezug in die Aufklärung und Entscheidung über Behandlungsmaßnahmen
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Zustandekommen der Therapieentscheidung
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Treffen der Entscheidung
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Patient
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„Es war dann meine Entscheidung, es wurde auch in meine Hände gelegt. Es wurde gesagt,
wenn Sie mit diesen 13% leben können, dann machen wir nur die Bestrahlung, dann entscheiden
Sie das. Von ärztlicher Sicht würden wir Ihnen raten, das und das zu machen.“ (RESP 4)
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Aussagen, wie die Entscheidung für oder gegen eine Therapie zustande kam
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Aufklärung über Genexpressionsanalyse
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positive Bewertung des Aufklärungsgesprächs
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Erklärungen zu Oncotype DX Test durch Ärzte waren nachvollziehbar
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„Also ich dachte mir, die machen das gut und die machen das sorgfältig und das ist
jetzt für mich dann auch richtig. Ich konnte es auch nachvollziehen, wie die Entscheidung
zustande kommt.“ (RESP 5)
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Empfindungen und Informationen zur Genexpressionsanalyse sowie Bewertung der Informationen
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Datenerhebung
Die Datenerhebung erfolgte mittels leitfadengestützter, teilstrukturierter Interviews
im Zeitraum von August 2014 bis März 2015 durch einen vom Behandlungsteam unabhängigen
Interviewer (SS). Um den befragten Patientinnen ausreichend Raum für ihre Antworten
zu geben, wurden die Fragen offen formuliert. Die Interviews wurden persönlich durchgeführt
und dauerten zwischen 33 und 55 Minuten. Es wurde auf eine möglichst wenig belastende
Gesprächssituation Wert gelegt.
Der Interviewleitfaden wurde literaturbasiert und nach Rücksprache mit einschlägigen
Experten aus dem Bereich der Onkologie erstellt; er enthielt 5 Themengebiete:
-
die Darstellung der Krankheitsgeschichte,
-
die Aufklärung und Entscheidung über die Durchführung einer Genexpressionsanalyse,
-
das Zustandekommen der Therapieentscheidung auf Basis der Genexpressionsanalyse,
-
die Wahrnehmung der Therapie sowie
-
die Bedeutsamkeit der Genexpressionsanalyseergebnisse für Patienten und Dritte.
Die Interviews wurden digital aufgenommen, anonymisiert und wortwörtlich nach den
Regeln von Kuckartz transkribiert [29].
Datenanalyse
Die Transkripte wurden mittels der Qualitativen Inhaltsanalyse nach Mayring und unter
Zuhilfenahme des Softwareprogramms MAXQDA 12 ausgewertet [30]. Das Ziel war dabei die Reduzierung des vorhandenen Materials auf die für die Forschungsfragen
wesentlichen Inhalte. Dazu wurden im 1. Schritt theoriegeleitet Themengebiete für
das Kategoriensystem erarbeitet. In einem 2. Schritt wurden das Selektions- und Abstraktionskriterium
für die Bildung der Kategorien definiert. Anschließend wurden in einem 3. Schritt
für die einzelnen Themengebiete induktiv Ober- und Unterkategorien sowie Ausprägungen
gebildet. Im 4. Schritt wurden die Kategorien definiert und mit Ankerbeispielen versehen.
Die Schritte 2 und 3 (Festlegung des Selektions- und Abstraktionsniveaus, Materialdurcharbeitung,
Kategorienformulierung, Subsumption) wurden zunächst an 2 Interviews durchgeführt
und wiederholt, bis sich die einzelnen Kategorien klar voneinander abgrenzten und
eine eindeutige Zuordnung der Textstellen zu den Kategorien möglich war (Schritt 4).
Nach Durchführung dieses 1. Bearbeitungszyklus wurden die Kategorien an die restlichen
6 Interviews angelegt.
De Ergebnisse der ersten 4 Schritte wurden in einem 5. und letzten Schritt mit Blick
auf unsere Forschungsfragen interpretiert und im Rahmen eines Forschungskolloquiums
mit sozialwissenschaftlich erfahrenen Kollegen diskutiert.
Ergebnisse
Nachfolgend stellen wir die Ergebnisse zu den Themengebieten „Verständnis individualisierter
Medizin“, „Wahrnehmung der Genexpressionsanalyse“, „Erwartungen an den Behandlungsverlauf“
sowie „Einbezug in die Aufklärung und Entscheidung über Behandlungsmaßnahmen“ vor
([Tab. 1]). Die Quellenangaben (RESP) beziehen sich auf die jeweils zitierte Respondentin.
Verständnis individualisierter Medizin
Die Patientinnen wurden befragt, was sie unter einer individualisierten Behandlung
verstehen und ob sie die Genexpressionsanalyse als Teil einer solchen Behandlungsstrategie
wahrnehmen. Sieben Patientinnen gaben an, dass eine individualisierte Behandlung aus
ihrer Sicht verschiedene Therapieoptionen beinhalte. Chemotherapien etwa wurden von diesen Patientinnen als Maßnahmen angesehen,
die häufig unabhängig von einer Beurteilung ihres konkreten Nutzens angewendet würden
und daher nicht individualisiert seien.
-
In der Zeit habe ich mit etlichen Frauen gesprochen […] Die waren halt in einem Krankenhaus
in A. Da hat man so ein Pauschalprogramm für diese Frauen. Und diese Frauen hatten
auch hormonaktive Tumore. Aber da wurde gar nicht gefragt: Ist es notwendig? Bringt
die Chemo eigentlich was, oder schadet man den Frauen nicht mehr als dass man ihnen
Gutes tut, weil die Chemo nicht mehr bewirkt als diese Antihormontherapie? (RESP 1)
Drei Patientinnen nahmen die Durchführung der Genexpressionsanalyse darüber hinaus
als diagnostischen Teil einer maßgeschneiderten Behandlung wahr, im Rahmen derer die medikamentöse Behandlung auf jede Patientin
und ihren Tumor zugeschnitten sei. In diesem Zusammenhang berichtete eine Teilnehmerin,
dass sie in Gesprächen mit anderen Patientinnen herausgefunden habe, dass jede Patientin
ein anderes Medikament bekomme (RESP 2). Eine andere Patientin gab an, dass umfassende
medizinische Tests und Untersuchungen durchgeführt worden seien, um ihre Diagnose
abzusichern und eine bessere Einschätzung des Nutzens weiterer Therapiemaßnahmen zu
ermöglichen (RESP 5).
Vier Patientinnen nahmen die Genexpressionsanalyse als Teil einer stratifizierten Behandlung wahr, äußerten jedoch Zweifel, ob diese maßgeschneidert sei. Sie begründeten ihre Aussage damit, dass es unmöglich sei, eine auf das jeweilige
Individuum zugeschnittene Behandlung durchzuführen. Zugleich vertraten sie allerdings
die Ansicht, dass es unterschiedliche Arten von Brustkrebs und damit unterschiedliche
Gruppen von Patientinnen gäbe, die eine jeweils spezifische Medikation erforderten.
-
Also ich glaube, dass es eine maßgeschneiderte Behandlung für den Einzelnen gar nicht
geben kann. […] Aber ich habe das Gefühl, dass Patientinnen, die mit so einem hormonell
gesteuerten Tumor zu tun haben, dass die schon in einem Fahrwasser sind, und dass
es dann schon in dem Moment auf mich zugeschnitten ist, wo sie aber sagen: „Okay,
in ihrem Falle, wenn man sagt hormonell bedingt und wir haben die Operation und vorher
diese Anti-Hormon-Therapie, dann ist das Fahrwasser so.“ Aber das heißt nicht, dass
es nur für mich gilt. Ich glaube einfach, dass es mehrere Patienten gibt, die dann
in so einem Strudel sind. Und ich glaube auch, das wurde mir auch gesagt, ich habe
jetzt nicht eine speziell auf mich zugeschnittene Chemotherapie, sondern die Patientinnen,
die diesen Weg gehen, Anti-Hormon, OP und dann feststellen, sie müssen doch in die
Chemo, dass die dann die gleichen Mittelchen kriegen, zugeschnitten auf Alter, Blutwert
und Gewicht. Sagen wir mal so. (RESP 4)
Dieselbe Patientin gab auch an, dass es aus ihrer Sicht keine maßgeschneiderte Therapie
gäbe. Sie begründete dies mit der Aussage, dass eine maßgeschneiderte Therapie für
sie eine Behandlung mit 100%iger Heilungschance wäre (RESP 4).
Bewertung der Genexpressionsanalyse
Die Patientinnen bewerteten die Genexpressionsanalyse überwiegend positiv: Es sei
von Vorteil, an einer Klinik behandelt zu werden, die solche Analysen anbiete.
In diesem Zusammenhang kritisierte eine Patientin, dass Genexpressionsanalysen nicht
in jeder Klinik angeboten würden, teilweise, da die behandelnden Ärzte ihre Sinnhaftigkeit
anzweifelten (RESP 8). Primär begründeten die befragten Patientinnen ihre positive
Bewertung damit, dass auf Basis von Genexpressionsanalysen eine für sie jeweils passende
Therapie gefunden werden könne, nutzlose Therapien hingegen vermieden werden könnten.
-
Also wenn die Diagnose einmal da ist, sagen wir mal so, und es gibt die Möglichkeit
solche Tests zu machen, bevor man in eine Behandlung geht, um herauszufinden, wie
ein Körper anspricht, finde ich das eine gute Option es maßgeschneidert auf einen
zu finden. Und nicht einfach so einen Mantel überzustülpen. (RESP 4)
Allerdings wurde auch Kritik an Genexpressionsanalysen geäußert: Einige Patientinnen
gaben an, dass die Analyseergebnisse für Laien schwer verständlich seien.
Ein eher grundsätzlicher Kritikpunkt bestand darin, dass der Test Hoffnungen generiere,
die teilweise nicht erfüllt werden könnten. So berichtete eine Patientin, dass ihr
durch die Testdurchführung die Möglichkeit der Vermeidung einer Chemotherapie suggeriert
wurde. Die Testergebnisse hätten dann jedoch verdeutlicht, dass eine Chemotherapie
notwendig sei.
-
[Aufgrund der Genexpressionsanalyse, genau.] Wo eben festgestellt werden sollte, ob
der Tumor auf eine hormonelle Therapie anspringt und damit eigentlich die Chemo mir
erspart bleiben kann. Und ich bin eigentlich die ganze Zeit davon ausgegangen, das
ist mein Weg, es wird mir erspart bleiben. Und nach der OP wurden die Werte des Tumors,
der bei der OP entnommen wurde, und der Biopsie-Wert miteinander verglichen. Und da
wurde mir dann eben gesagt, dass der Wert nicht so gesunken sei, wie man sich das
gewünscht hätte. […] Und daraufhin saß ich dann da: Gehen wir jetzt in die Chemo?
Das Restrisiko des Rückfalls beträgt ohne Chemo 13%. (RESP 4)
Eine andere Patientin, die sich aufgrund der Genexpressionsanalyseergebnisse einer
präventiven Chemotherapie unterzog, gab an, dass sie inzwischen Zweifel an ihrer Entscheidung
habe und die Chemotherapie als äußerst belastend empfinde (RESP 8).
Erwartungen an den Ablauf der Behandlung
Die befragten Patientinnen formulierten zahlreiche Erwartungen an die Genexpressionsanalyse
und eine darauf basierende Behandlung, insbesondere hinsichtlich des zeitlichen und
medizinischen Ablaufs sowie der Arzt-Patienten-Interaktion. Darüber hinaus wurden
Verbesserungsvorschläge zum medizinischen und organisatorischen Ablauf gemacht. Bezüglich
des zeitlichen Ablaufs war allen Patientinnen wichtig, Zeitdruck zu vermeiden und
eine angemessene Zeitspanne zwischen Diagnose und Therapiebeginn zu haben, um ggf.
Zweitmeinungen einholen und sich über Therapieoptionen informieren zu können.
-
Ich konnte sagen, der erste Arzt war so, dass er zu mir gesagt hat: „Auf alle Fälle
die rechte Brust abnehmen. Also, da gibt es keine andere Möglichkeit.“ Und sie vermuten
halt stark, dass die linke Seite auch befallen ist und er würde mir anraten, gleich
mein MRT machen zu lassen, dass dann für mich 600 Euro kostet. Dann hat er mir was
gegeben, zum Unterschreiben. Da habe ich gesagt: „Nein, das unterschreibe ich nicht.“
Dann war er schon mal ein bisschen brüskiert. „Warum?“ […]. Und da habe ich gesagt:
„Ja, ich will das aber erst zum Abklären, mir eine zweite Meinung einholen“. (RESP
6)
Ebenfalls erwarteten die Patientinnen, dass sich die Ärzte ausreichend Zeit für sie
nähmen, und Entscheidungen für oder gegen eine Therapie im Konsil getroffen werden
(RESP 5). Die meisten Patientinnen hatten den Anspruch, die Untersuchungsergebnisse
der Genexpressionsanalyse nachvollziehen zu können, um dadurch die Sinnhaftigkeit
weiterer Behandlungsmöglichkeiten besser einschätzen zu können. Daher erwarteten sie
eine umfangreiche Aufklärung über den Test und die Erklärung der Analyseergebnisse
und der weiteren Therapieoptionen (RESP 4). Wichtig war ihnen dabei, dass sich die
Ärzte ausreichend Zeit nehmen, dass sie aufrichtige und verständliche Aussagen machen
sowie den Patientinnen die Angst vor möglichen Therapieoptionen und deren Folgen nehmen.
Eine Patientin gab an, dass sie von einem Arzt erwarte, ihre Ansichten ernst zu nehmen
und zu bestärken. Sie habe sich nach ihrer Brustkrebsdiagnose bewusst einen Arzt ausgesucht,
der ihre Meinungen teile und ihren Wunsch nach Durchführung der Genexpressionsanalyse
erfülle (RESP 8).
Ein weiterer Wunsch bezog sich auf die Verbesserung der organisatorischen Abläufe.
Eine Patientin gab an, dass sie sich einen Koordinator gewünscht hätte, der die Patientinnen
berät und unterstützt.
-
Und von der Anmeldung her, was da eigentlich fehlt ist eine Person, die für den Patienten
da ist. Die du meinetwegen anrufen kannst, wenn du sagst: „Oh, Test.“ Gut, jetzt zahlt
mir das die Krankenkasse gar nicht […]. Jetzt wusste ich nicht, wie geht es jetzt
weiter. Das heißt, ich kann zur Krankenkasse gehen oder einen Brief verfassen, ob
die Krankenkasse es trotzdem übernimmt und so. So was, dass ein Koordinator sowas
in der Hand hat. (RESP 6)
Eine weitere Patientin äußerte den Wunsch, (psychologische) Unterstützung für ihre
Angehörigen zu bekommen.
-
Und ich glaube auch, also ich empfinde es auch so, dass die Angehörigen sehr belastet
sind. (…). Bei den Kindern ist es jetzt nicht so, aber mein Mann zum Beispiel leidet
schon sehr darunter. Und ich weiß nicht, was man da noch verbessern könnte, dass das
einfach, die auch aufgefangen werden oder, ja. (RESP 5)
Einbezug in die Aufklärung und Entscheidung über Behandlungsmaßnahmen
Auf die Frage, wer sie aufgeklärt habe, gaben 6 Patientinnen an, dass der behandelnde
Arzt am Brustzentrum sie über die Möglichkeit einer Genexpressionsanalyse aufgeklärt
habe. Zwei Patientinnen wurden demgegenüber nicht vom erstbehandelnden Arzt über die
Möglichkeit der Analyse aufgeklärt, sondern erfuhren erst im Rahmen der Einholung
einer Zweitmeinung oder einer ausführlichen Internetrecherche davon (RESP 8).
Das Aufklärungsgespräch über die Genexpressionsanalyse wurde von den Patientinnen
überwiegend positiv bewertet. Die befragten Patientinnen gaben an, ausreichend über
die Genexpressionsanalyse informiert worden zu sein. Ebenfalls hätten sie den ärztlichen
Ausführungen größtenteils folgen können. Zwei Patientinnen berichteten jedoch, dass
sie die Informationen zur Genexpressionsanalyse, trotz der Bemühungen vonseiten der
Ärzte, teilweise als zu kompliziert empfunden hätten. Sie führten dies auf die verwendete
Fachsprache sowie auf die Komplexität der Genexpressionsanalyse zurück.
Neben einer nachvollziehbaren Erklärung der Genexpressionsanalyse war den befragten
Patientinnen auch der Einbezug ihres sozialen Umfelds in die Aufklärungsgespräche
wichtig. Einige Patientinnen nahmen Familienmitglieder oder Personen aus ihrem Freundeskreis
mit zu den Gesprächen, die Fragen zum Test sowie den resultierenden Therapieoptionen
stellen konnten (RESP 6).
Die Patientinnen wurden zudem befragt, wer die Entscheidung zur Durchführung der Genexpressionsanalyse
getroffen habe. Vier Patientinnen gaben an, dass sie die Entscheidung gemeinsam mit
dem behandelnden Arzt getroffen hätten. Zwei Patientinnen hätten die Entscheidung
zur Durchführung des Tests allein getroffen. Zwei Patientinnen hatten den Eindruck,
der behandelnde Arzt habe die Entscheidung für sie getroffen.
Ebenfalls nannten die Patientinnen verschiedene Gründe, warum sie sich für die Durchführung
einer Genexpressionsanalyse entschieden haben. Alle Patientinnen gaben an, sich einer
Genexpressionsanalyse in der Hoffnung unterzogen zu haben, eine Chemotherapie vermeiden
zu können.
Fünf befragte Patientinnen gaben daneben an, dass sie an der Studie teilnehmen wollten,
um dadurch Zugang zu den neuesten medizinischen Erkenntnissen zu haben (RESP 1). Eine
Patientin wurde durch Rücksprache mit anderen Brustkrebspatientinnen zur Teilnahme
an der Studie ermutigt.
-
Und ich habe mich auch mit ehemaligen Brustkrebspatientinnen unterhalten, die sagen:
„Hey, ein Studienprogramm, mach das“. (RESP 4)
Vier befragte Patientinnen berichteten darüber hinaus, dass sie sich im Anschluss
an die Genexpressionsanalyse eine Durchführung gezielterer Therapiemaßnahmen erhofften.
Sieben Patientinnen gaben an, dass sie die Genexpressionsanalyse durchführen ließen,
weil sie Vertrauen in ihre Ärzte hätten und zudem annahmen, dass die Ärzte die für
sie bestmöglichen Maßnahmen und Therapieoptionen auswählen würden.
-
Also, das, was ich jetzt erlebt habe an Ärzten, an Aufklärung in der [Klinik], da
habe ich so ein großes Vertrauen, dass ich weiß dass das mein Weg ist. Ich meine,
eine Garantie gibt es nie. Die gibt es auch nicht, wenn man eine Chemotherapie bekommen
hat. Aber ich vertraue jetzt einfach darauf, dass das alles so für mich passt. (RESP
1)
Die 2 Patientinnen, die nicht an der Studie teilnehmen konnten, gaben an, dass sie
mit der bisherigen Betreuung und Behandlung durch die erstbehandelnden Ärzte unzufrieden
waren. Aus diesem Grund wechselten sie an ein Brustzentrum, wo die Ärzte ihnen die
Durchführung der Genexpressionsanalyse anboten.
Diskussion
Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten um den Nutzen von Genexpressionsanalysen
widmete sich die vorliegende Studie den Forschungsfragen,
-
wie Brustkrebspatientinnen solche molekulargenetisch-individualisierten Ansätze und
auf ihnen beruhende Therapieentscheidungen wahrnehmen,
-
wie sie sich in entsprechende Therapieentscheidungen einbezogen fühlen und
-
welche Hoffnungen bzw. Erwartungen sie mit solchen Ansätzen verbinden.
Hinsichtlich der 1. Frage zeigte sich, dass die Interviewpartnerinnen die Genexpressionsanalysen
mit Blick auf den Begriff einer maßgeschneiderten Medizin unterschiedlich wahrnahmen. Eine Patientin vertrat die Auffassung, dass es
keine wirklich maßgeschneiderte Therapie gebe, da diese einer Behandlungsmaßnahme
mit 100%iger Heilungschance entspräche. Diese im Ergebnis realistische Einschätzung
verdeutlicht, welche Erwartungen Patientinnen mit dem Begriff einer „maßgeschneiderten“
Behandlung verbinden – und wie groß entsprechend die Gefahr ist, ungerechtfertigte
Hoffnungen hinsichtlich der absoluten Sicherheit kurativer Therapien auf Patientenseite
zu schüren, insbesondere im Kontext schwerer Erkrankungen.
Die übrigen 7 Patientinnen unterschieden (implizit) individualisierte von maßgeschneiderten
Behandlungsstrategien: Während erstere sich ihrer Meinung nach primär dadurch auszeichnen,
dass überhaupt verschiedene Therapieoptionen zur Verfügung stehen, wurden letztere
als auf den einzelnen Patienten zugeschnittene medikamentöse Behandlungen verstanden, die auf umfassenden diagnostischen
Tests beruhen. Drei Patientinnen sahen Genexpressionsanalysen dabei als einen solchen
diagnostischen Test einer maßgeschneiderten Behandlung. Vier Patientinnen verstanden
Genexpressionsanalysen hingegen als Strategie, Patientensubgruppen zu unterscheiden,
für die jeweils bestimmte Therapieoptionen indiziert sind, mithin als Teil einer molekulargenetisch-stratifizierenden Medizin. Interessant an diesen Auffassungen ist einerseits, dass das Verständnis
individualisierter Behandlungsstrategien weit hinter den Ansprüchen zurückbleibt, die gegenwärtig unter
dem Label diskutiert werden [2], [15] bzw. jedweden Behandlungskontext als individualisiert auszeichnen würde, der verschiedene Therapieoptionen
beinhaltet. Andererseits zeigen sich mit Blick auf den Begriff der maßgeschneiderten
Medizin genau jene Diskussionslinien, die aktuell virulent sind. Dass 3 Interviewpartnerinnen
Genexpressionsanalysen als Teil einer auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Behandlungsstrategie verstanden, belegt, dass das Behandlungskonzept
zumindest bei einigen Patienten durchaus falsche Hoffnungen wecken kann. Demgegenüber
zeigte sich im Verständnis von Genexpressionsanalysen als Teil stratifizierter Therapiemaßnahmen allerdings auch auf Patientenseite ein weitaus realistischeres
Bild, das den aktuellen Entwicklungen entspricht, die am häufigsten unter der Bezeichnung
der individualisierten Medizin gegenwärtig vorangetrieben werden [14], [15].
Auffällig war – trotz der hier skizzierten Unterschiede im Verständnis individualisierter
bzw. maßgeschneiderter Medizin – die überwiegend positive Wahrnehmung von Genexpressionsanalysen
und der darauf basierenden Behandlungsentscheidungen: Mithilfe der Analysen könne
die jeweils passende Therapieoption gewählt und nutzlose Maßnahmen vermieden werden.
Für die retrospektive Bewertung der eigenen Therapie schien das Verständnis maßgeschneiderter Behandlungsstrategien
also bestenfalls eine untergeordnete Rolle zu spielen. Entscheidend schien vielmehr
die durch die Ergebnisse der Genexpressionsanalysen subjektiv gewonnene Sicherheit
hinsichtlich der Entscheidung für eine Therapieoption zu sein. Dies konnten andere
Studien ebenfalls nachweisen [26], [27]. Dahinter steht aber auch die von den teilnehmenden Patientinnen klar geäußerte
Erwartung, basierend auf der Genexpressionsanalyse eine bessere Behandlung zu erhalten,
entweder durch eine gezieltere und damit wirksamere Therapie oder durch die Vermeidung
einer nebenwirkungsreichen, belastenden Therapie ohne Nutzenpotenzial. Diese Erwartung
kann allerdings nur dann erfüllt werden, wenn es hinreichend verlässliche Informationen
über Nutzen- und Schadenspotenziale der biomarkerbasierten, stratifizierenden Behandlungsstrategien
gibt [10].
Lediglich eine Patientin kritisierte, ihr sei suggeriert worden, durch die Genexpressionsanalyse eine Chemotherapie vermeiden zu können, was sich nicht
bewahrheitet habe. Der Bericht dieser Interviewpartnerin deutet darauf hin, dass sie
fälschlicherweise einen Kausalzusammenhang zwischen Genexpressionsanalyse und Vermeidung
der Chemotherapie unterstellte, d. h. vermutete, die Analyse sei kausale Ursache dafür,
sich keiner Chemotherapie unterziehen zu müssen. Dieses Missverständnis verweist auf
unsere 2. Forschungsfrage nach der Wahrnehmung des Einbezugs in Therapieentscheidungen
und, damit zusammenhängend, nach der Wahrnehmung ärztlicher Aufklärung über Genexpressionsanalysen
und darauf basierender Therapieentscheidungen.
Zwar bewerteten die Patientinnen die Aufklärung überwiegend positiv; 2 Interviewpartnerinnen
hoben allerdings hervor, dass die medizinischen Zusammenhänge für Laien häufig schwer
verständlich und zu kompliziert erklärt worden seien. Dennoch erklärten alle Patientinnen,
dass sie die Ergebnisse der Genexpressionsanalysen vorgelegt bekommen wollten, um
Therapieoptionen einschätzen und mit den behandelnden Ärzten gemeinsam eine Entscheidung
fällen zu können. Dass es eine zunehmende Tendenz von Brustkrebspatientinnen gibt,
aktiv an Therapieentscheidungen zu partizipieren, konnten verschiedene Studien bereits
zeigen [31], [32], [33]. Darüber hinaus konnte eine Studie am Beispiel des Prosigna-Tests nachweisen, dass
Brustkrebspatientinnen auf Basis der Ergebnisse von Genexpressionsanalysen tatsächlich
informierter und effektiver mitentscheiden und dabei ihr emotionales wie funktionales
Wohlergehen steigt [27]. Auffällig ist allerdings, dass lediglich 4 Patientinnen berichteten, tatsächlich
gemeinsam mit dem behandelnden Arzt über den weiteren Therapieverlauf entschieden
zu haben. Zwei Patientinnen gaben demgegenüber an, alleine entschieden zu haben, 2
äußerten die Vermutung, die Entscheidung für eine Therapieoption sei allein von ärztlicher
Seite getroffen worden. Diese Aussagen verdeutlichen die Notwendigkeit, die Möglichkeiten
und Grenzen gemeinsamer Entscheidungsfindung in komplexen medizinischen Zusammenhängen
wie der molekulargenetisch-individualisierten Medizin zukünftig weiter auszuloten.
Denkbar ist aber auch, dass sich hinter den unterschiedlichen Einschätzungen verschiedene
Präferenzen hinsichtlich der eigenen Rolle im Prozess der Entscheidungsfindung verbergen.
Neben der Möglichkeit gemeinsamer Entscheidungsfindung äußerten die Interviewpartnerinnen
mit Blick auf unsere 3. Forschungsfrage allerdings eine Reihe weiterer Hoffnungen
und Erwartungen an genexpressionsanalytisch gestützte Therapieentscheidungen: Von
zentraler Bedeutung waren dabei Forderungen nach der Berücksichtigung individueller
Bedürfnisse von Patientinnen im Rahmen der Behandlung. Zudem wünschten mehrere Patientinnen
strukturierte Beratungsangebote für sich und ihre Angehörigen. Diese Aussagen verdeutlichen,
dass die Interviewpartnerinnen weit mehr als nur eine molekulargenetisch differenzierte
Behandlung erwarten, nämlich eine im umfassenden Sinne individualisierte Behandlung, die die Patientinnen in ihrer ganzen Persönlichkeit ernst nimmt und berücksichtigt.
Idealerweise, so der Wunsch einer Patientin, solle der behandelnde Arzt die Patientenmeinung
hinsichtlich vorhandener Therapieoptionen teilen. Angesichts der Pluralität von Werthaltungen
und Lebenseinstellungen in modernen Gesellschaften dürfte dieses Ideal nur in seltenen
Fällen erreichbar sein. Vielmehr ist aus ethischer Sicht zu fordern, dass der Arzt
offen für die unterschiedlichen Bedürfnisse der Patienten ist und den Patienten darin
unterstützt, diejenige Behandlung zu wählen, die seiner individuellen Lebenssituation
und Lebenseinstellung jeweils angemessen ist. Dafür benötigen die Patienten ausreichend
Zeit, ggf. auch eine Zweitmeinung und die Begleitung durch eine Vertrauensperson.
Die Ergebnisse dieser Studie verdeutlichen einmal mehr die Herausforderung, angesichts
der stetig zunehmenden Möglichkeiten molekulargenetischer Individualisierung die psychosozialen
Komponenten im Rahmen medizinischer Behandlung angemessen zu berücksichtigen [16]: Nur so kann die sog. individualisierte Medizin erfüllen, was die Patienten zurecht
von ihr erwarten: eine im umfassenden Sinne patientenorientierte Medizin.
Abschließend sei bemerkt, dass die vorliegende empirische Untersuchung mit methodischen
Limitationen verbunden ist, die bei der Interpretation der Ergebnisse berücksichtigt
werden müssen. Eine Limitation der Studie ist ihre geringe Stichprobengröße. Trotz
intensiver Bemühungen sowie des Einbezugs eines Gatekeepers konnten in 1,5 Jahren
lediglich 8 Studienteilnehmerinnen rekrutiert werden. Dies ist vermutlich dem sensiblen
Thema der vorliegenden Untersuchung und den damit verbundenen erwarteten Belastungen
für die Studienteilnehmerinnen, insbesondere in der unmittelbar postoperativen Phase,
geschuldet. Es erscheint daher sinnvoll, weitere Studien zur Wahrnehmung und Bewertung
von Ansätzen der individualisierten Medizin wie etwa diagnostischer Genexpressionsanalysen
durchzuführen. Da in der vorliegenden Studie nur Patientinnen befragt wurden, die
sich einer individualisierten Therapiemethode unterzogen haben, könnte für zukünftige
Untersuchungen beispielsweise die Befragung von Patientinnen, die sich einer Standardtherapie
unterzogen haben, sinnvoll sein. Dadurch könnte die Wahrnehmung und Bewertung beider
Therapieoptionen miteinander verglichen werden, was weitere Erkenntnisse über die
Therapieverfahren aus Sicht der Betroffenen liefern könnte. Ebenfalls könnten Ergebnisse
der vorliegenden explorativen Studie dazu beitragen, entsprechende quantitative Erhebungsinstrumente
zu entwickeln.
Eine weitere Limitation liegt in der Stichprobe selbst. Die meisten Patientinnen,
die an der Studie teilnahmen, waren mit dem Ablauf und der Durchführung der Genexpressionsanalyse
zufrieden und beurteilten das Vorgehen daher positiv. Nur eine Patientin hatte im
Nachhinein Zweifel an der Entscheidung.