GGP - Fachzeitschrift für Geriatrische und Gerontologische Pflege 2017; 01(04): 145
DOI: 10.1055/s-0043-115510
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Editorial

Ursula Kriesten
Further Information

Publication History

Publication Date:
07 December 2017 (online)

Selbstbestimmung ist auch ohne Selbstständigkeit möglich.

Liebe Leserinnen und Leser der GGP,

wir alle möchten möglichst gesund und bevorzugt in Selbstbestimmung alt werden. Tritt mit zunehmendem Alter eine Pflegebedürftigkeit ein, so wundert dies jedoch wenig. Aber ist Ihnen bewusst, dass alte Menschen mit Pflegebedarf durchweg behinderte Menschen im Sinne des § 2 SGB IX sind? Nach dem Sozialgesetzbuch IX, das die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen definiert, sind Menschen behindert, „wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist“. Da das Alter in aller Regel länger als sechs Monate anhält und eine beeinträchtigte Teilhabe oder das Leben in Sonderwelten zu erwarten ist, verheißt uns allen hiernach ein Alter mit definierter Behinderung, wenn ein Pflegegrad nach SGB IX festgestellt wurde.

Zudem wird seit dem Nationalsozialismus in Deutschland erstmalig eine nennenswerte Anzahl von Menschen mit Behinderungen auch alt. Deren Lebenserwartung ist während der letzten 50 Jahre deutlich angestiegen. Menschen, die mit Behinderung geboren wurden oder diese erworben haben, verbringen einen großen Teil ihres Lebens in Sonderwelten und werden von professionellen Helfern betreut. Hier ergeben sich gleich mehrfache Sachverhalte der Diskriminierung, Exklusion und Isolation. Die Perspektiven „alt und behindert“ bescheren eine eingeschränkte Selbstständigkeit, Anforderungen an gesellschaftliche Solidarität und einen besonderen Assistenz-, Hilfe- oder Pflegebedarf. Die pauschale und gesellschaftliche Trennung von Alter und Behinderung durch die Sozialgesetzbücher IX und XI erschweren die Versuche gemeinschaftlicher Inklusion und Teilhabe.

Was tun? Im interprofessionellen Miteinander wissen wir, dass die Altenpolitik und die Behindertenpolitik voneinander lernen sollten. Unbedingt sollten Selbstbestimmung und Selbstvertretung nicht mit Selbstständigkeit verwechselt werden, denn Selbstbestimmung ist auch ohne Selbstständigkeit möglich.

Genießen Sie die neue Ausgabe der GGP zum oben angeführten Schwerpunkt​-thema und bewahren Sie sich auch im neuen Jahr ein kritisches Auge auf die (mehrfachen) Gründe zur Exklusion und die Pflege des alten Menschen.

Ich wünsche Ihnen einen guten Jahresausklang und ein gutes, gesundes Jahr 2018!

Ihre

Ursula Kriesten