Schlüsselwörter Mikrochirurgie - Konsensus - alter Patient
Key words elderly patient - microsurgery elderly - free flap elderly
Einleitung
Gemäß Daten des Statistischen Bundesamtes von 2016 haben Menschen in Deutschland bei Geburt eine Lebenserwartung von 78,2 Jahren (männlich) bzw.
von 83,1 Jahren (weiblich). Seit Beginn der statistischen Aufzeichnungen zum Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Lebenserwartung Neugeborener
damit mehr als verdoppelt. Während in der Vergangenheit der bestimmende Faktor für einen Anstieg der Lebenserwartung die sinkende Säuglings- und
Kindersterblichkeit war, ist es heutzutage die sinkende Sterblichkeit in höherem Alter [1 ]. Für die
medizinische Versorgung im Allgemeinen, als auch für die plastisch-rekonstruktive Chirurgie im Speziellen, ergeben sich daraus direkte
Auswirkungen hinsichtlich der Versorgung einer alternden Gesellschaft und den hiermit einhergehenden Herausforderungen und Ansprüchen, denen
Rechnung getragen werden muss.
Chronische Wunden beispielsweise als Folge von Diabetes mellitus, peripher arterieller Verschlusskrankheit oder Druckulzera, Defekte nach
operativen Tumorbehandlungen, aber auch traumabedingte Defektwunden, stellen in einem älteren Patientenkollektiv den Großteil des Spektrums dar.
Die Weiterentwicklung in der Mikrochirurgie und zunehmende Kenntnisse über die Gewebeperfusion und die Gewebeentnahmestellen ermöglichen
heutzutage die Durchführung freier, mikrovaskulärer Gewebetransfers mit geringer Hebemorbidität und niedrigen Lappenverlustraten, nahezu
unabhängig vom Alter, und führen gleichzeitig zur Erhaltung bzw. Verbesserung der Lebensqualität [2–4 ]. Den
besonderen Konditionen eines höheren Lebensalters müssen bei der Frage nach Anwendung mikrochirurgischer Verfahren besondere Beachtung geschenkt
und Alternativverfahren sorgfältig abgewogen werden. Höheres Alter ist zum einen mit einer verminderten Wundheilung assoziiert, zum anderen sind
Erkrankungen bei diesen Patienten aufgrund gestörter Mikrozirkulation mit negativem Einfluss auf die Wundheilung häufiger anzutreffen [5, ]
[6 ]. Entsprechend kann es sein, dass chirurgisch weniger invasive und technisch weniger anspruchsvolle
Rekonstruktionsmethoden mittels ortsständigen lokalen oder regionalen Lappen nicht zwingend die sicherere Lösung darstellen.
Altersdefinition
Eine einheitlich anerkannte Definition des Begriffs „Alter“ existiert nicht. Altersgrenzen variieren literaturabhängig zwischen 60 und 75 Jahren
für die Definition des Alters. Manche Autoren bevorzugen die Einteilung in Subgruppen und definieren diese als „young old“ (60–69 Jahre),
„middle old“ (70–79 Jahre) und „very old“ (80 +) oder „young old“ (65–74 Jahre), „middle old“ (75–84 Jahre) und „oldest old“ (85 +) [7, ]
[8 ].
In einer Befragung unter mehr als 250 Chirurgen gaben 90 % an, Patienten auch unabhängig vom Alter eine onkologische Operation anzubieten [9 ]. Im Kontext der steigenden Lebenserwartung ist eine enge Definition des Altersbegriffes fraglich zielführend.
Vielmehr scheint ein flexiblerer Altersbegriff den heutigen Entwicklungen angemessen bzw. ist eine vielschichtigere Klassifikation ohne
alleinigen Bezug auf das chronologische Alter anzustreben. Stichwort ist hierbei der Begriff des „biologischen Alters“.
Frailty-Index
Neben dem biologischen Alter kommt dem Begriff der „frailty“ mehr Bedeutung zu, womit sich diese beiden Dimensionen ergänzen könnten. Frailty
beschreibt die Gebrechlichkeit, welche sich als Konsequenz der altersassoziierten Funktionseinbußen entwickelt und zu einer erhöhten
Vulnerabilität des gesamten Organismus führt. Sie ist ein Zustand erhöhter Anfälligkeit gegenüber externen und internen Stressoren. Das Risiko
durch eine Erkrankung gravierende Funktionseinbußen bis hin zu dauerhaften Behinderungen zu erleiden ist aufgrund ausgeprägter Gebrechlichkeit
erhöht. Nach Rockwood et al. lässt sich der sogenannte „Frailty-Index“ bestimmen, der bestehende Defizite in Relation zu allen zu messenden
Defiziten setzt. Exakt definierte Defizite sind für die Bestimmung des Index nicht beschrieben, die einbezogenen Variablen sollten aber
definierte Kriterien erfüllen [10–13 ]. Die Gebrechlichkeit ist umso höher, je höher der Index. Bei
beispielweise 10 von 40 zu messenden Defiziten beträgt der „Frailty-Index“ 0,25 und kann demgemäß maximal 1 betragen.
Die Therapie speziell älterer Patienten in der Plastisch-rekonstruktiven Chirurgie ist bis dato nicht hinreichend in nationalen und
internationalen Leitlinien implementiert und die Evidenz unzureichend. Die folgende Darstellung entspricht einem Expertenkonsens im Lichte der
aktuellen Literatur, welcher im Rahmen der Jahrestagung der Deutschsprachigen Arbeitsgemeinschaft für Mikrochirurgie der peripheren Nerven und
Gefäße 2014 in Zürich und 2016 in Linz erarbeitet wurde.
Besonderheiten der Indikationsstellung im Alter
Besonderheiten der Indikationsstellung im Alter
Stellt sich bei einem Patienten in höherem Lebensalter die Frage nach dem Einsatz mikrochirurgischer Rekonstruktionsverfahren, muss mit
besonderem Augenmerk das technisch Mögliche gegen das medizinisch Sinnvolle abgewogen werden. Die Erfolgsraten freier Gewebetransfers beim alten
Patienten wurden bereits in zahlreichen Studien belegt und zeigten verglichen mit einem jüngeren Patientengut keine vermehrten
operationsassoziierten Komplikationen [14–17 ]. Jedoch konnte ein Trend zu vermehrten nicht direkt
operationsabhängigen Komplikationen bei älteren Patienten beobachtet werden. Insbesondere kardiale, pulmonale und renale Komplikationen sind
hier von Bedeutung.
Die Indikation für ein bestimmtes Verfahren unter Berücksichtigung der individuellen und medizinischen Situation sollte in Form eines Informed
consent mit dem Patienten oder dem gesetzlichen Betreuer bzw. seinen Angehörigen gestellt werden.
Abb. 1 91 jährige Patientin mit Rezidiv-Weichteilsarkom am Unterschenkel links. a Resektionsdefekt Unterschenkel links.
b Z. n. freier Rectus-abdominis-Lappenplastik nach Entfernung der perforatorbasierten Monitorinsel. (Anschluss arteriell
End-zu-Seit auf A. tibialis anterior und venös 2,5 und 3,0 mm auf Begleitvenen mit Venencoupler). Stabiles Ausheilungsergebnis. Die
Patientin ist im Alltag ohne Hilfe gehfähig und benutzt bei größeren Strecken einen Gehstock und fährt mit dem Fahrzeug.
Indikationsstellung im Alter – Konsensus
Indikationsstellung im Alter – Konsensus
In Anlehnung an Blüschke et al. und Kaschwich et al. sollten grundsätzliche Fragen bereits am Anfang einer Behandlung geklärt werden [18, ]
[19 ]:
Welches rekonstruktive Verfahren ist erforderlich, welches das Verfahren mit der geringsten physischen Belastung?
Kann durch ein rekonstruktives Verfahren die Lebensqualität verbessert bzw. erhalten werden?
Was sind die Erwartungen und Ansprüche des Patienten an das rekonstruktive Verfahren?
Welche Komorbiditäten bestehen bei dem Patienten und wie sind die potentiellen Auswirkungen auf das geplante Verfahren?
Ist der Patient operationsfähig bzw. können im Vorfeld der Operation Komorbiditäten reduziert bzw. verbessert werden?
Ist ein alternatives operatives oder ein nicht operatives Verfahren zu bevorzugen?
Was sind Rückzugsoptionen im Falle eines fehlgeschlagenen rekonstruktiven Verfahrens?
Welche Fachdisziplinen sollte das interdisziplinäre Behandlungsteam umfassen?
Ist die Einbeziehung eines Ethikrates in der Entscheidungsfindung sinnvoll?
Operationsvorbereitung
Aus plastisch-chirurgischer Sicht sollte bei der Operationsplanung und bei der Auswahl des mikrochirurgischen Verfahrens eine möglichst kurze
Operationszeit angestrebt werden. Eine verlängerte Operationsdauer geht mit einer Erhöhung der perioperativen Komplikationen einher [20 ]. Die Gewährleistung eines erfahrenen Operationsteams, wobei zwei Teams bereitgestellt werden und parallel
operieren (Lappenhebung, Vorbereitung Anschlusssitus), ist unabdingbare Voraussetzung für die Durchführung mikrochirurgische Operationen beim
älteren Patienten. Sogenannten „workhorse flaps“ sollte der Vorzug bei der Lappenauswahl gegeben werden. Dabei handelt es sich um möglichst
zuverlässige Lappenplastiken mit konstanter Anatomie, die eine geringe Hebedauer und gute Voraussetzungen für die Mikroanastomosierung (langer
Gefäßstiel, adäquater Gefäßdurchmesser, konstanter Gefäßverlauf) ermöglichen, wie beispielsweise Latissimus dorsi-, Rectus abdominis- oder
Gracilis-Lappenplastiken. Diese Lappenplastiken mit vertretbarer Hebedefektmorbidität sollten das Mittel der Wahl sein, soweit aus funktioneller
Hinsicht ein Verlust des jeweiligen Muskels akzeptiert werden kann. Des Weiteren sollte die intraoperative Umlagerung vermieden werden zugunsten
der Operations- und damit der Narkosedauer.
Den besonderen Gefäßbedingungen in höherem Alter muss ebenfalls bei der Operationsplanung Rechnung getragen werden. Arteriosklerose im
Allgemeinen und die peripher arterielle Verschlusskrankheit der unteren Extremität im Speziellen stellen gerade im älteren Patientengut ein
Problem dar. Daher sollte in diesen Fällen generell eine Diagnostik mittels digitaler Subtraktionsangiographie bzw. CT-Angiographie und eine
Duplexsonographie oder Phlebographie erfolgen. Die MR-Angiographie bleibt aktuell noch immer speziellen Situationen bzw. Fragestellung
vorenthalten. Die erhobenen Befunde sollten im interdisziplinären Vorgehen mit den Gefäßchirurgen und den Radiologen diskutiert werden.
Sowohl bei ausgedehnten, therapieresistenten Angiopathie-assoziierten Wunden trotz gefäßchirurgischer Intervention, als auch bei Wunden anderer
Genese, kann insbesondere zum Erhalt der Mobilität und damit zur Senkung der Morbidität und Mortalität häufig eine Majoramputation vermieden
werden [21 ]. Diverse Studien konnten bereits belegen, dass auch in diesen Fällen im interdisziplinären Vorgehen
mit Gefäßchirurgen eine plastisch-chirurgische Rekonstruktion unter Verwendung eines arteriovenösen Loops (AV-Loop) oder eines pedalen Bypasses
in der Hand des Erfahrenen möglich ist und als Therapieoption altersunabhängig geprüft werden sollten [22–25 ].
Unabhängig von der im Einzelnen geplanten Intervention sollte bei älteren Patienten im Vorfeld geklärt werden, ob eine Patientenverfügung, eine
Vorsorgevollmacht oder eine Betreuungsverfügung besteht, für den Fall, dass sich Patienten selbst krankheitsbedingt nicht mehr adäquat mitteilen
können. Hiermit können im Sinne der Vorausbestimmung Rahmenbedingungen einer gewünschten oder nicht gewünschten medizinischen Behandlung
individuell festgelegt werden. Die Möglichkeiten der Patientenverfügung werden von unterschiedlichen Gruppierungen teils kontrovers diskutiert.
Bei nicht vorhandener Patientenverfügung sollten der Patient und seine Angehörigen Informationen hierüber erhalten und bei Wunsch ein fachliches
Beratungsgespräch angeboten bekommen. Der Vollständigkeit halber sei der selbstverständlich stets an erster Stelle zu stehende Patientenwille
erwähnt.
Operationsvorbereitung – Konsensus
Operationsvorbereitung – Konsensus
Bei der Planung eines freien Gewebetransfers bei älteren Patienten sollten nach Möglichkeit sog. workhorse flaps mit konstanter Anatomie und
kurzer Operationszeit bevorzugt werden. Die vaskuläre Situation im Empfängergebiet sollte bildgebend (Angiographie, Phlebographie) im Vorfeld
untersucht werden und im Falle einer Makro- oder Mikroangiopathie die Möglichkeit eines AV-Loops oder eines Bypasses vor beispielsweise
Amputationen im Bereich der unteren Extremität geprüft werden [26, ]
[27 ]. Das Bestehen einer aktuellen Patientenverfügung sollte geprüft und bei Bedarf über vorhandene
Möglichkeiten informiert werden.
Komorbiditäten und perioperatives Management
Komorbiditäten und perioperatives Management
Neben den bereits erwähnten vaskulären Begleiterkrankungen sind Komorbiditäten insbesondere kardialer, pulmonaler und nephrologischer Genese im
Alter häufiger [28, ]
[29 ]. Die Einnahme von oralen Antikoagulantien bzw. von Plättchenaggregationshemmern im Zuge kardialer
Vorerkrankungen kommt bei der Planung mikrochirurgischer Eingriffe erschwerend hinzu. Meist stellt sich nicht die Frage, ob Komorbiditäten
bestehen, sondern wie viele. Die Summe verschiedener Komorbiditäten kann großen Einfluss auf das operative Verfahren bzw. das therapeutische
Ergebnis haben, da die physischen Reserven im Alter eingeschränkt sind und es zu einer folgereichen Verschlechterung einzelner Krankheitsbilder
kommen kann.
Einer detaillierten Anamneseerhebung, unter Umständen mithilfe der Fremdanamnese Angehöriger, sowie dem Gespräch mit dem Hausarzt und
behandelnden Fachärzten kommt hier besondere Bedeutung zu. Diese Art des Screenings soll helfen im Vorfeld der Operation gezielt weitere
diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu ergreifen, ohne hierbei unnötige Schritte in die Wege zu leiten, welche keinen Informationsgewinn
einbringen, jedoch einen operativen Eingriff verzögern. Neben chirurgischen Kontraindikationen für einen mikrochirurgischen Eingriff bestehen
auch von internistischer Seite relative und absolute Kontraindikationen. Eine erweiterte Labordiagnostik sollte bei älteren Patienten
präoperativ erfolgen und neben dem Blutbild die Nierenretentionsparameter inklusive Bestimmung der glomerulären Filtrationsrate (GFR), die
Elektrolytwerte sowie das Gesamtalbumin umfassen. Des Weiteren sollte eine Albuminurie mittels Teststreifen untersucht werden. Hintergrund ist
die hohe Prävalenz der chronischen Nierenerkrankungen mit klarer Altersabhängigkeit und das hiermit verbundene erhöhte Risiko für Mortalität und
Komorbiditäten insbesondere kardiovaskulärer Art [29–32 ]. Bereits eine länger als 3 Monate bestehende
GFR-Reduktion auf unter 60mL / min x 1,73 m2 oder eine Albuminurie > 30 mg / Tag sind Kriterien einer chronischen Nierenerkrankung
[33 ].
Die Gerinnungsdiagnostik nimmt eine Sonderstellung ein. Bei den erworbenen hämophilen Gerinnungsstörungen aufgrund medikamentöser Primär- und
Sekundärprophylaxe von Schlaganfall, koronarer Herzkrankheit, peripherer arterieller Verschlusskrankheit und venösen Thromboembolien, wird die
Thrombozytenfunktion oder das plasmatische Gerinnungssystem therapeutisch beeinflusst. Im Rahmen eines mikrochirurgischen Eingriffes muss
präoperativ ein individueller Behandlungsplan erstellt werden mit dem Ziel, das perioperative Blutungsrisiko so gering wie möglich zu halten,
jedoch durch die erforderliche Einnahmepause keine thromboembolischen und kardiovaskulären Ereignisse zu provozieren [34 ]. Eine Blutungsanamnese, eine klinische Untersuchung auf Blutungsneigung und eine Gerinnungsanalytik sollten vor einem operativen
Eingriff erfolgen. Das laboranalytische Minimalprogramm sollte die Bestimmung der Thrombozytenkonzentration im periphere Blut, die aktivierte
partielle Thromboplastinzeit (aPTT), die Thromboplastinzeit nach Quick/INR, die Thrombinzeit und sinnvollerweise die Fibrinogenkonzentration
beinhalten [35 ]. Bei bekannter medikamentöser Antikoagulation muss im Alter aufgrund der vorgenannten
Häufigkeit von Nierenerkrankungen das Kumulationsrisiko und eine unterschiedlich verlängerte Wirkdauer beachtet werden.
Eine über die empfohlenen Parameter hinausgehende Labordiagnostik richtet sich nach den im Einzelfall bestehenden Komorbiditäten.
Generell muss eine detaillierte Medikamentenanamnese erhoben und eine Abschätzung durchgeführt werden, welche Medikamente zwingend weiter
eingenommen und welche notwendigerweise aufgrund des operativen Eingriffes und der Narkose pausiert werden müssen oder unter Umständen
zusätzlich hinzukommen.
Operationsrelevante Vorerkrankungen, die negativen Einfluss auf das operative Verfahren oder auf den Gesundheitszustand des Patienten haben
könnten, sollten im Vorfeld von der jeweiligen Fachabteilung beurteilt und soweit möglich optimiert werden. Eine Schlüsselrolle für das
perioperative Management nimmt die Anästhesiologie ein, welche einerseits präoperativ die Narkosefähigkeit prüft und relevante Voruntersuchungen
indiziert, andererseits intra- und postoperativ die direkte Betreuung des Patienten übernimmt und koordiniert. Hier sollte ein enge
Zusammenarbeit vorausgesetzt und eine Absprache zu jedem Therapiezeitpunkt möglich sein.
Eine bisher in der Plastischen Chirurgie, aber auch in anderen Chirurgischen Fächern vernachlässigte Fachdisziplin ist die Geriatrie [9 ]. Ihr Stellenwert sollte aus chirurgischer Sicht im Hinblick auf den demographischen Wandel einer Neubewertung
nicht nur durch die Plastische Chirurgie unterzogen werden. Ein älter werdendes Patientenkollektiv bedarf insbesondere bei dem hohen Prozentsatz
an Komorbiditäten einer interdisziplinären Betreuung.
Die Anwendung sogenannter „frailty assessments“ im chirurgischen Alltag ist nach wie vor eine Rarität. Zwar konnte eine Korrelation zwischen
Gebrechlichkeit und postoperativer Morbidität, Mortalität, Krankenhausaufenthalt und erhöhten Kosten gezeigt werden, jedoch fehlen eine
einheitliche Definition und ein Konsensus hinsichtlich des geeignetsten Messinstrumentes [36, ]
[37 ]. Generell könnten „frailty assessments“ mehr Informationen über den allgemeinen Zustand eines Patienten
und eine exaktere Prognose über den zu erwartenden Gesundheitsverlauf liefern. Hierdurch könnte die Entscheidungsfindung für oder wider eines
operativen Eingriffs sowohl für den Patienten und seine Angehörigen, als auch für das Behandlungsteam gestärkt werden.
Während eine optimale Einstellung von bekannten Vorerkrankungen präoperativ unternommen werden sollte, ist der Stellenwert der sogenannten
Prehabilitation nur wenig untersucht. Unter Prehabilitation versteht man die Verbesserung der allgemeinen kardiopulmonalen Reserven, der
Muskelkraft, der Ausdauer und der Mobilität. Zudem findet die Verbesserung des Ernährungsstatus in diesem Zusammenhang Erwähnung. Allerdings
besteht kein allgemeingültiger Konsens, welches Therapiemuster am geeignetsten ist, welche Patientengruppe tatsächlich davon profitieren kann,
welche Risiken bestehen und welche Bereiche die Therapie bestenfalls umfassen sollte [38 ]. Die postoperative
Erholungsphase soll beschleunigt und die Abhängigkeit von Pflege- und Hilfsmaßnahmen reduziert werden [39 ].
Patientenschulung und -motivation sind wichtig, um eine hohe Compliance für die Maßnahmen zu schaffen und aufrecht zu erhalten. Bisher konnten
beispielsweise in der kolorektalen Chirurgie und der Herzchirurgie bei Hochrisikopatienten positive Effekte gezeigt werden [40, ]
[41 ].
Komorbiditäten und perioperatives Management – Konsensus
Komorbiditäten und perioperatives Management – Konsensus
Aufgrund der erhöhten Inzidenz kardialer, nephrologischer und pulmonaler Komorbiditäten in höherem Alter sollte die operationsabhängige Relevanz
dieser individuell geprüft und ggf. durch die zuständige Fachdisziplin präoperativ eine Mitbeurteilung und Optimierung erfolgen. Bezüglich einer
gerinnungsmodulierenden Medikation und eines erforderlichen Bridgings oder einer Pausierung wird auf die Empfehlungen der betreffenden
Fachgesellschaften verwiesen. Eine laborchemische Gerinnungsanalyse sollte vor jedem freien Gewebetransfer obligat durchgeführt werden.
Eine Vernetzung mit der Geriatrie sollte zukünftig ein angestrebtes Ziel sein, um gerade bei komplexen Eingriffen wie mikrochirurgischen
Verfahren eine optimale medizinische Betreuung vor und nach einer Operation gewährleisten zu können. Bezüglich der Anwendung von sogenannten
„frailty assessments“ kann hier keine Empfehlung hinsichtlich eines allgemein gültigen Messinstrumentes gegeben werden aufgrund vorgenannter
Gründe. Hier sollten die Erfahrungen der jeweils institutsinternen Geriatrie einbezogen und wenn möglich etablierte frailty scores zur Anwendung
kommen. Neben der gemeinsamen Ausarbeitung von Behandlungskonzepten des alten Patienten ist eine verstärkte wissenschaftliche Kooperation auf
diesem Gebiet erstrebenswert.
Eine eindeutige Empfehlung für Prehabilitationsmaßnahmen kann gemäß der aktuellen Studienlage nicht ausgesprochen werden [42 ].
Besonderheiten der postoperativen Phase im Alter
Besonderheiten der postoperativen Phase im Alter
Generell handelt es sich bei der rekonstruktiven Chirurgie mit freier, mikrochirurgischer Gewebetransplantation um mehrstündige Eingriffe. Kommen
zudem Probleme bei der Anastomosierung oder der Lappenperfusion nach Gefäßanschluss dazu, kann sich die geplante Operationsdauer unvorhersehbar
verlängern. Dies stellt eine körperliche Belastung gerade für alte Patienten dar und bedarf einer umfassenden postoperativen Betreuung sowohl im
direkt postoperativen, als auch im nachstationären Verlauf.
Die Möglichkeit einer intensivmedizinischen Betreuung mit der Infrastruktur einer Maximalversorgung ist daher für eine hohe Patientensicherheit
eine unabdingbare Voraussetzung. Intermediate Care Stationen stellen ein sinnvolles und sicheres Glied zwischen Intensivstation und
Normalstation für Patienten mit erhöhtem medizinischem und pflegerischem Aufwand dar. Da vorbestehende Erkrankungen durch einen operativen
Eingriff exazerbieren können, sollte hierauf besonderes Augenmerk gelegt werden. Der klinische Blick ist neben Laborkontrollen und Maßnahmen wie
beispielsweise Flüssigkeitsbilanzierung, Temperatur- und Blutdruckprofil essenziell.
Auch die nichtärztliche Betreuung nimmt gerade im postoperativen Verlauf einen sehr hohen Stellenwert ein und bedarf eines mehrdimensionalen
Teams. Von pflegerischer Seite muss bei den initial meist immobilen Patienten eine noch konsequentere Dekubitusprophylaxe, ggf. unter
Zuhilfenahme spezieller Matratzen und Lagerungsmittel, als beim jüngeren Patienten durchgeführt werden. Die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme,
die wenn immer möglich peroral erfolgen sollte, sowie die Körperpflege kann für ältere Patienten beschwerlicher oder vorübergehend nicht alleine
möglich sein und muss unterstützt werden. Zudem stellt geschultes Pflegepersonal ein wichtiges Bindeglied zwischen Patient und Arzt dar, was für
den Informationsaustausch und den Verlauf während eines stationären Aufenthaltes wichtig ist. Zusätzlich zu den Anforderungen durch das
Pflegepersonal sollte direkt postoperativ eine Mitbetreuung durch die Physiotherapie erfolgen. Neben der Thromboseprophylaxe ist eine
frühzeitige Mobilisierung soweit mit dem operativen Verfahren vereinbar anzustreben. Eine fachgerechte Anleitung zum selbständige Üben mit
Hilfsmitteln zum Kraftaufbau bzw. zum Krafterhalt ist ebenso wichtig wie eine Atemtherapie zur Ventilation auch der basalen Lungenabschnitte und
somit zur Pneumonieprophylaxe. Nach längerer Bettlägerigkeit kommt der Physiotherapie die Aufgabe des Koordinationstrainings und Erlangung der
selbständigen Mobilität zu, die beim alten Patienten als Teil des Therapiezieles anzusehen ist.
Bezogen auf die mikrochirurgische Lappenplastik ergeben sich für das Perfusionsmonitoring und das Antikoagulationsmanagement im Vergleich zu
jüngeren Patienten keine Besonderheiten und daher auch keine besonderen Empfehlungen [43 ]. Bei Patienten mit
medikamentöser Antikoagulation muss individuell über die Fortführung bzw. temporäre Pausierung postoperativ entschieden werden. Hierbei muss das
thromboembolische Risiko der Grunderkrankung gegen das operationsabhängige Nachblutungsrisiko abgewogen werden. Die postoperative
Schmerztherapie sollte sich an den gängigen Therapieempfehlung und Leitlinien orientieren und das individuelle Vorerkrankungsprofil
berücksichtigen [44 ].
Tab. 1
Zusammenstellung des Konsensus-Statement der Deutschsprachigen Arbeitsgemeinschaft für Mikrochirurgie der peripheren Nerven und
Gefäße.
Fragestellung
Konsensus
Fragen bei der Indikationsstellung im Alter
Erwartungen/Wünsche Patient, physische Belastung, Lebensqualität, Komorbiditäten, alternative Therapie, Rückzugsoptionen,
Interdisziplinarität, Ethikrat
Operationsvorbereitung
Anwendung von workhorse flaps, spezifische Gefäßdiagnostik u. a. Duplex, Angiographie (CT-/MR-Angiographie, konventionell,
interventionell), Phlebographie, Notwendigkeit AV-Loop/Bypass prüfen, Patientenverfügung/Vorsorgevollmacht
Komorbiditäten und perioperatives Management
Relevanz kardiologischer, nephrologischer, pulmologischer, hämostaseologischer Komorbiditäten, Kooperation Geriatrie etablieren,
Anwendung von „frailty assessments“, Möglichkeit der Prehabilitation
Besonderheiten postoperative Phase
Leitlinien/Konsensus Perfusionsmonitoring, Schmerztherapie, Gerinnungsmanagement, Intensivierte Dekubitusprophylaxe,
Mobilisierung, Fortbildung Ärzte-/Pflegepersonal in Versorgung alter Patienten, Delirprophylaxe/-therapie
Einer steigenden Anzahl alter Patienten mit neurodegenerativen Erkrankungen wie beispielsweise Alzheimer-Demenz muss sowohl präoperativ bei der
Indikationsstellung, als auch bei der Operationsplanung besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Sollte ein mikrochirurgisch rekonstruktiver
Eingriff erforderlich und gewünscht sein in dieser speziellen Subgruppe der älteren Patienten, ist das Risiko der Entwicklung eines
postoperativen Delirs erhöht [45 ]. Generell sind Alter und kognitive Defizite größte Risikofaktoren für die
Delirentwicklung. Da die Folgen im Einzelnen gravierend sein können und bereits vorbestehende leichte Einschränkungen der Kognition eine
deutliche und nichtreversible Verschlechterung erfahren können oder die Entstehung einer Demenz begünstigen, sollte ein Fokus auf
Delirprophylaxe und -management gelegt werden [46, ]
[47 ].
Steht nach erfolgreichem chirurgischem Eingriff die Entlassung aus der stationären Behandlung an, müssen im Vorfeld organisatorische Maßnahmen
zur Weiterbehandlung veranlasst werden. Die Einbeziehung des institutsinternen Sozialdienstes, der entweder mit dem Patienten selbst oder mit
den Angehörigen die weitere Betreuung bespricht ist integraler Bestandteil. In Abhängigkeit der Grunderkrankung sollte stets die Möglichkeit
einer Anschlussheilbehandlung geprüft werden, da insbesondere ältere Patienten von diesen Maßnahmen profitieren. Des Weiteren ist bei einer
häuslichen Überleitung oder der Verlegung in ein Heim das ambulante Behandlungsteam zu koordinieren.
Besonderheiten der postoperativen Phase im Alter – Konsensus
Besonderheiten der postoperativen Phase im Alter – Konsensus
Für das Perfusionsmonitoring, das Gerinnungsmanagement und die postoperative Schmerztherapie gelten altersunabhängige Empfehlungen gleichermaßen,
wobei auf die jeweiligen Leitlinien bzw. bestehende Konsensusempfehlungen verwiesen wird [43, ]
[44 ]. Von Seiten der Patientenpflege und Physiotherapie sollten regelmäßige Fortbildung zur Versorgung des
alten Patienten und regelmäßige Teambesprechungen zur Optimierung und Festlegung standardisierter Abläufe durchgeführt werden. Wichtige
Stichworte hierzu sind Dekubitusprophylaxe, Mobilitätsteigerung, Kraftaufbau, Optimierung der Selbständigkeit.
Zur Prophylaxe und Behandlung eines postoperativen Delirs sollte die Interdisziplinarität insbesondere mit den Neurologen und Geriatern, aber
auch mit den Pharmakologen vertieft und standardisiert werden. Bei Auftreten eines Delirs sollten drei Säulen der Delirbehandlung Anwendung
finden. Hierzu zählen die Abklärung möglicher körperlicher Ursachen, die Einleitung einer symptomatischen medikamentösen Therapie und die
Ergreifung nichtpharmakologischer pflegerischer Maßnahmen. So lässt sich im Rahmen eines multimodalen Konzeptes die postoperative Delirrate
deutlich senken [48 ]. Die koordinierte Überleitung des Patienten in die nachstationäre Weiterbehandlung sollte
durch den Sozialdienst erfolgen.
Zusammenfassung
Neben der steigenden Lebenserwartung nimmt die Anzahl alter Patienten in der medizinischen Akut- und Elektivversorgung stetig zu [49 ]. Die Definition des Alters bleibt weiter unscharf und wird literaturabhängig unterschiedlich ausgelegt. Für
eine chirurgische Therapie ist eine starre Altersdefinition als imaginäre Grenze für Therapieentscheidungen nicht empfehlenswert. Das
biologische Alter und die körperlichen Reserven müssen ebenso wie die Lebensqualität und das Aktivitätslevel als Teil eines mehrdimensionalen
Therapiekonzeptes Berücksichtigung finden. Der medizinisch-technische Fortschritt hat auch in der rekonstruktiven Chirurgie die Grenzen des
Möglichen und Machbaren erweitert. Die technische Machbarkeit komplexer rekonstruktiver Eingriffe beim alten Patienten wurde in den letzten
Jahren durch viele retrospektive Studien, Fallserien und Übersichtsarbeiten herausgestellt. Allgemeingültige, evidenzbasierte Standards und
Empfehlungen zur Behandlung innerhalb dieses Patientenkollektives fehlen jedoch. Die plastisch-rekonstruktive Chirurgie ist weiterhin von diesem
Wandel betroffen, da der Anteil alter Patienten, bei welchen ein mikrochirurgisch rekonstruktiver Eingriff erforderlich wird, steigt und sich
das Fach daher mit sämtlichen, mit einem höheren Lebensalter assoziierten Konditionen, auseinandersetzen muss. Ein alter Patient ohne relevante
Komorbidität stellt eine Rarität bei komplexen Therapieplanungen dar. Insgesamt bedeutet dies, dass beginnend von der Therapieentscheidung bis
hin zur nachstationären Betreuung ein hochspezialisiertes Behandlungsteam essenzielle Grundbedingung bei der Versorgung alter Patienten und der
Anwendung mikrochirurgisch rekonstruktiver Verfahren sein sollte.
Bei der Indikationsstellung müssen unterschiedliche Fragen beantwortet werden, die einerseits klären sollen, welches Verfahren das geeignetste
ist und in welcher Form der Patient hiervon profitiert. Ein Eingriff muss sinnvoll möglich sein und bei multimorbiden Patienten und infauster
Prognose kritisch hinterfragt werden. Komorbiditäten müssen frühzeitig erkannt und der Relevanz entsprechend eingeordnet werden. Die
Untersuchung bzw. Optimierung von Vorerkrankungen vor einem ausgedehnten operativen Eingriff ist aus chirurgischer, internistischer und
anästhesiologischer Sicht unverzichtbar. Das perioperative Gerinnungsmanagement erfordert Erfahrung in der laborchemischen Routinediagnostik und
im Einsatz von gerinnungshemmender Medikation, wie Plättchenaggregationshemmern und Vitamin-K-Antagonisten, da die Inzidenz erworbener
hämophiler Gerinnungsstörungen mit dem Alter deutlich zunimmt. Die Kooperation mit der Fachdisziplin Geriatrie sollte intensiviert und ausgebaut
werden und Konzepte für eine fachübergreifende Behandlung etabliert werden. Demgegenüber kann für Prehabilitationsmaßnahmen keine klare
Empfehlung ausgesprochen werden. Der individuelle physische Status eines älteren Patienten sollte jedoch nach Möglichkeit präoperativ verbessert
werden.
Für das postoperative Lappenmonitoring gelten die allgemein gültigen Empfehlungen unabhängig vom Patientenalter. Die Mobilisierung,
Wiedererlangen und Aufrechterhaltung von Selbständigkeit und der Kraftaufbau müssen im Speziellen bei alten Patienten durch geschultes Personal
durchgeführt werden. Zudem sind Schulungen von ärztlicher und pflegerischer Seite zur Prophylaxe, Erkennung und Therapie eines postoperativen
Delirs empfohlen. Hier ist die Zusammenarbeit mit Neurologen und Geriatern unabdingbar. Zu guter Letzt ist die Organisation der nachstationären
Behandlung alter Patienten integraler Bestandteil der umfassenden, multidisziplinären Behandlung. Hilfs- und Heilmittel sowie die Hilfe bei der
häuslichen Überleitung oder die Unterstützung bei der Bewilligung einer Anschlussheilbehandlung sollen von professioneller Seite koordiniert
werden und diese eine Schlüsselstelle zwischen Patient, Krankenhaus, Angehörigen und Hausarzt einnehmen.
In geeigneten Fällen ist die Mikrochirurgie beim alten Patienten gleichwertig empfehlenswert und zu bevorzugen wie bei einem jüngeren
Patientengut. Dies erfordert ein Höchstmaß an Erfahrung, ein spezialisiertes Zentrum und eine moderne Infrastruktur. Die Behandlung dieser
speziellen Patientengruppe kann heutzutage nicht mehr als „Inselbehandlung“ einer einzigen Fachdisziplin zugeordnet werden, sondern Bedarf mehr
denn je eines interdisziplinären Vorgehens zur Steigerung der Behandlungssicherheit und der Ergebnisqualität.