Schlüsselwörter
Präklinik - Schussverletzungen - Wundballistik - temporäre Wundhöhle - Projektil
Key words
preclinic - gunshot wound - wound ballistic - temporary cavity - bullets
Abkürzungen
DGAI:
Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin
DGU:
Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie
GCS:
Glasgow Coma Scale
HWS:
Halswirbelsäule
ICR:
Interkostalraum
Einleitung
In den letzten 15 Jahren erfolgten in Deutschland mehrere Amokläufe, bei denen
Personen durch Schüsse getötet und verletzt wurden. Den meisten Lesern werden die
Amokläufe in Erfurt 2002, in Emsdetten 2006, in Winnenden 2009, in Lörrach 2010
sowie im Juli 2016 in München noch in Erinnerung sein. Allein bei diesen 5
Amokläufen kamen über 40 Menschen ums Leben, über 70 weitere wurden verletzt.
Dennoch sind Schussverletzungen in Deutschland relativ selten und weit entfernt von
der Häufigkeit in den USA, für die die Anzahl an nicht tödlichen Schussverletzungen
(sogenannte „nonfatal gun-related injuries“) allein für 2014 mit 81 034 angegeben
wird [1]. Daher haben die meisten präklinisch und
klinisch in der Notfallmedizin tätigen Ärzte in Deutschland eine sehr geringe
Erfahrung mit Schussverletzungen und deren Auswirkungen auf den menschlichen
Körper.
Im Folgenden soll dem Leser ein Basiswissen zu Schussverletzungen vermittelt werden,
das es ihm erleichtert, das Ausmaß und die Folgen einer Schussverletzung
einzuschätzen und die richtigen diagnostischen und therapeutischen Schritte
einzuleiten.
Schusswaffen und Munition
Schusswaffen und Munition
Das deutsche Waffenrecht unterteilt Schusswaffen in Lang- und Kurzwaffen:
-
Langwaffen sind demnach definiert als Schusswaffen, bei denen die Länge von
Lauf und Verschluss mindestens 30 cm beträgt und die eine bestimmungsgemäß
verwendbare Gesamtlänge von mindestens 60 cm aufweisen.
-
Zu den Kurzwaffen gehören die Faustfeuerwaffen Pistole und Revolver, während
Gewehre zu den Langwaffen zählen.
Das Kaliber gibt den Diameter des Projektils an. Gewöhnlich erfolgen die
Kaliberangaben in Millimeter oder als Dezimalangabe eines Zolls (2,54 cm), wobei die
0 vor dem Komma in der Regel weggelassen wird. Beispiele hierfür sind die
Kaliberangaben 38 (9,7 mm) oder 22 (5,6 mm).
Die Pistolen der Polizei in den verschiedenen Bundesländern und in der Bundeswehr
haben ein Kaliber von üblicherweise 9 mm. Das weltweit gebräuchlichste
Munitionskaliber für Pistolen ist 9 × 19 mm. Pistolen sind vor allem über kürzere
Distanzen geeignet.
Bei den Gewehren haben sich im militärischen Bereich vor allem die Kaliber 5,56 mm
und 7,62 mm durchgesetzt. Die Sturmgewehre der internationalen Streitkräfte sind
Automatikwaffen, bei denen durch das Abfeuern eines Schusses die Hülse ausgeworfen
und dem Patronenlager eine neue Patrone aus dem Magazin zugeführt wird. Beim Halten
des Abzugs werden weitere Schüsse gelöst, bis der Abzug losgelassen wird. Auch
Maschinengewehre sind Automatikwaffen. Davon zu unterscheiden sind klassische
Jagdgewehre und Sportwaffen, bei denen für jeden Schuss der Abzug betätigt und das
Patronenlager manuell geladen werden muss. Gewehre geben dem Projektil durch den
längeren Lauf eine höhere Stabilität. Auch dadurch eignen sich die Gewehre für den
Einsatz auf längere Distanz.
In die Schusswaffen werden Patronen eingelegt. Das Grundprinzip eines Patronenaufbaus
ist in [Abb. 1] dargestellt. Die Patrone besteht aus
einer Hülse, an deren Spitze das Projektil steckt. Der Zündbolzen der Waffe trifft
auf das Zündelement der Hülse an der Basis der Patrone. Es kommt zur Explosion der
Treibladung in der Hülse, wodurch das Projektil durch den Waffenlauf katapultiert
wird. Durch die spiralförmig geschliffenen Züge des Laufes bekommt das Projektil
einen stabilisierenden Drill quer zur Flugrichtung.
Bei den Projektilen gibt es verschiedene Typen. Erwähnt werden sollten hier:
Abb. 1 Grundprinzip des Patronenaufbaus. a Patrone mit
Zündelement (1), Treibladung (2), Hülse (3) und Projektil (4).
b Vollmantelgeschoss. c Teilmantelgeschoss.
d Teilmantelgeschoss mit Lochspitze.
Vollgeschosse aus Blei werden z. B. bei Luftgewehren eingesetzt. Vollmantelgeschosse
(englisch: Full Metal Jacket) werden vor allem im militärischen Bereich eingesetzt.
Der innere Kern aus Blei wird dabei von einem härteren Metall umgeben. Hierdurch
wird die Verformung des Projektils nach Eintreffen im Ziel vermieden [2]. Gemäß der Haager Landkriegsordnung von 1899 sind in
den Armeen Projektile untersagt, die sich ausdehnen oder verformen [3], [4]. Bei
Teilmantelgeschossen bzw. Teilmantelgeschossen mit Lochspitze ist die Ummantelung
des Bleikerns an der Spitze unvollständig bzw. es besteht eine Aushöhlung an der
Projektilspitze ([Abb. 1]). Hierdurch kommt es nach
dem Eindringen des Projektils in den Körper zu einer raschen pilzförmigen
Deformierung [5]. Teilmantelgeschosse werden häufig
von der Polizei eingesetzt. Sie haben eine hohe Wirkung im Ziel, aber die
Wahrscheinlichkeit, dass sie den Zielkörper durchdringen und so z. B. weitere
Personen hinter der Zielperson treffen, wird durch die rasche Verformung deutlich
reduziert [4], [5]. Die
Geschosse werden abhängig von der Geschwindigkeit des Projektils an der
Waffenmündung als „Low-Velocity“- oder „High-Velocity“-Geschosse bezeichnet. Dabei
haben „Low-Velocity“-Geschosse eine Mündungsgeschwindigkeit von unter 600 m/s und
„High-Velocity“-Geschosse eine Mündungsgeschwindigkeit von über 600 m/s [6]. Allerdings ist diese genannte Unterteilung rein
willkürlich und leider in der Literatur sehr inkonstant [7]. Vor allem beim Einsatz mit Gewehren werden „High-Velocity“-Geschosse
verwendet, während bei Pistolen und Revolvern klassisch „Low-Velocity“-Geschosse zum
Einsatz kommen.
Ballistik
Definition
Ballistik
Die Ballistik ist die Lehre von der Bewegung geschleuderter oder geschossener
Körper.
Im Zusammenhang mit Schusswaffen sind ballistisch 3 Abschnitte definiert:
-
Der 1. Abschnitt ist jener, in dem sich das Projektil nach dem Auslösen des
Schusses im Lauf befindet.
-
Im 2. Abschnitt bewegt sich das Geschoss zwischen Waffenmündung und dem
Ziel.
-
Der letzte Abschnitt beschreibt das Verhalten des Projektils im Körper.
Dieser Abschnitt wird als Wundballistik bezeichnet [2].
Die Wundballistik hat 2 Haupteinflussfaktoren:
-
Projektileigenschaften wie Masse, Form, Art und Geschwindigkeit,
-
Reaktionen der Gewebearten auf die unterschiedlichen Projektile.
Die Verletzungen im Körper entstehen dadurch, dass beim Durchdringen des Körpers
durch das Projektil Teile von dessen kinetischer Energie an den Körper abgegeben
werden.
Die kinetische Energie ist definiert als „½ m × v2“.
Die Energie des Projektils ist umso größer, je höher Geschossgeschwindigkeit und/oder
-masse sind. Die Projektile, die einer Faustfeuerwaffe entstammen, haben in der
Regel eine Geschwindigkeit zwischen 250 und 370 m/s [8], während die Projektile beim Verlassen eines Sturmgewehrs eine
Geschwindigkeit zwischen 780 und 940 m/s aufweisen [6].
Die Wirkung eines Projektils auf den Zielkörper ist abhängig von der abgegebenen
Energie. Hier muss zum einen die kinetische Energie des Geschosses betrachtet
werden. Diese ist umso höher, je schneller und schwerer ein Geschoss ist.
Unterschieden werden in der Literatur sogenannte „High-Energy“-Waffen von
„Low-Energy“-Waffen [2], [6]. Aber auch hier ist wie schon beim Begriff der
„High-Velocity-Geschosse“ in der Literatur keine einheitliche Grenze zwischen
„High-Energy“- und „Low-Energy“-Waffen definiert [7].
Grob orientierend haben die Projektile von Faustfeuerwaffen am Mündungsausgang eine
kinetische Energie von 500 Joule (J), während die Projektile am Mündungsausgang von
Sturmgewehren eine kinetische Energie von bis zu 3300 Joule (J) aufweisen können.
Jedoch kann die an den Zielkörper abgegebene Energie bei Projektilen mit gleicher
kinetischer Energie sehr unterschiedlich sein. Denn die Menge der an den Zielkörper
abgegebenen Energie hat verschiedene Einflussfaktoren.
So gibt ein Vollmantelgeschoss, das den Zielkörper unverformt wieder verlässt,
weniger Energie ab als ein Teilmantelgeschoss, welches durch seine Verformung im
Körper stärker abgebremst wird, dort verbleibt und somit sämtliche Energie an ihn
abgibt.
In der Literatur werden verschiedene Möglichkeiten der Wirkung bzw. Effekte des
Projektils auf den Zielkörper beschrieben:
-
Zum einen zerreißt das Projektil auf seinem Weg durch den Zielkörper das
Gewebe direkt und hinterlässt den sogenannten permanenten Wundkanal [2], [6], [8], [9].
-
Neben dem permanenten Wundkanal kann eine temporäre Wundhöhle (Tempory
Cavitation) entstehen. Dieser Begriff stammt aus einer Arbeit von Woodruff
aus dem Jahr 1898, der das hoch dynamische Phänomen einer Vakuumformation in
flüssigen Zielen im Fahrwasser von sich schnell bewegenden Projektilen
beschrieb [10]. Durch hohe Energieabgabe an
das durchdrungene Gewebe entstehen zur Seite gerichtete Druckwellen, die zur
temporären Wundhöhle führen. Das Gewebe schwingt zunächst hinter dem
Geschoss radiär auseinander, um dann wieder zurückzuschwingen.
Der Grad der Zerstörung ist dabei vor allem abhängig von der Elastizität des Gewebes.
Erst wenn diese überschritten ist, kommt es theoretisch zu einem Schaden. So ist
Muskel- und Lungengewebe sehr dehnbar und weist bei gleicher temporärer Wundhöhle
weniger Verletzungen auf als das Gewebe der Leber oder des Gehirns.
Merke
Das Gewebe des menschlichen Körpers ist sehr inhomogen, sodass bei der Entstehung
einer temporären Wundhöhle immer von einem Schaden ausgegangen werden muss.
In der sehr dehnbaren Muskulatur liegt dies z. B. an einer Zerstörung der
versorgenden Blutgefäße, deren Intima durch die Entstehung der temporären Wundhöhle
einreißt [2]. Dies wiederum führt dann in der Folge zu
einer Schädigung der Muskulatur.
Die Abgabe der hohen Energie, die notwendig für die Entstehung der temporären
Wundhöhle ist, ist deutlich häufiger bei den „High-Energy“-Geschossen als bei den
Schussverletzungen mit „Low-Energy“-Geschossen.
Fangen die Projektile im Körper an zu taumeln bzw. zu gieren oder sich zu
deformieren, wird das Interface zwischen Geschoss und Gewebe vergrößert, wodurch es
zu der notwendigen hohen Energieabgabe vom Geschoss an das Gewebe kommt, welches die
Voraussetzung für eine temporäre Wundhöhle ist. Der Begriff des Gierens (englisch:
yaw) stammt ursprünglich von der Seitwärtsbewegung von Schiffen und Flugzeugen
insbesondere bei Lenkbewegungen.
Andererseits ist es möglich, dass „High-Energy“-Geschosse den Körper bei stabilem
Flug durchdringen, ohne eine temporäre Wundhöhle zu verursachen [7], [11]. Dies wird in
der Literatur häufig für Schusswunden durch das russische Gewehr vom Typ AK-47
beschrieben. Denn das relativ schwere Projektil fängt erst ab einer Tiefe
entsprechend einem Oberschenkeldurchmesser an zu gieren, wodurch bei kürzeren
Wundkanälen keine temporäre Wundhöhle entsteht [7], [12], [13].
Eine vom klinischen Aspekt her ähnliche Verletzung wie bei einer temporären Wundhöhle
kann bei einem aufgesetzten Schuss durch eine Faustfeuer- oder Langwaffe entstehen,
die durch die Gase der Treibladung der Patrone verursacht wird, die über den
Schusskanal in den Körper dringen und so zu einer Gewebezerstörung führen [7].
Ein weiterer Effekt ist die beim Auftreffen eines schnellen Projektils auf den
Zielkörper beschriebene Stoßwelle, die sich in Richtung der Projektilflugbahn durch
das Gewebe zieht. Hier gibt es in der Literatur sehr viele Begriffe für diesen
Effekt von der Schockwelle über „Tension Wave“ bis hin zur ballistischen Druckwelle
[2]. Allerdings scheint der schädigende Effekt
dieser Stoßwelle – wenn auch in der Literatur kontrovers diskutiert – auf den
menschlichen Körper vernachlässigbar zu sein [14], [15], [16], [17].
Wundkontamination
Lange Zeit galt es als Dogma, dass Projektile nach dem Abschuss als steril zu
betrachten sind [18]. Dies konnte jedoch durch
zahlreiche Studien widerlegt werden [19], [20], [21]. Zudem konnte
eine Untersuchung mit Faustfeuerwaffen zeigen, dass – unabhängig vom gewählten
Kaliber und der getragenen Kleidung – immer Faserreste der Kleidung im permanenten
Schusskanal nachweisbar sind [18].
Bei Schusswunden kann es im Rahmen des Vakuumphänomens bei der Entstehung der
temporären Wundhöhle zusätzlich zur Kontamination von außen kommen [19], [22].
Uneinigkeit besteht in der Literatur bezüglich der chirurgischen Therapie. Während
einige Autoren aufgrund der oben beschriebenen Kontamination grundsätzlich bei jeder
Schussverletzung die Indikation für ein chirurgisches Débridement [18] sowie für eine antibiotische Therapie [7] sehen, ist gerade das chirurgische Débridement bis
heute nicht überall gängige Praxis [18]. Vor allem in
Ländern mit vielen Schussverletzungen durch Handfeuerwaffen wie z. B. in Südafrika
wird bei unproblematischen Wunden keinerlei Débridement durchgeführt und
ausschließlich eine Single-Shot-Antibiose gegeben (s. [Abb. 5]). Auch in den USA werden diese Wunden bei fehlenden
neurovaskulären und knöchernen Verletzungen konservativ austherapiert [18], [23].
Fackler [7] kritisiert in diesem Zusammenhang den
Begriff des Débridements, da dieser sehr unterschiedlich genutzt und verstanden
wird. Im französischen Ursprung war damit eine Inzision und Drainage der Wunde
gemeint. Heute wird häufig auch eine Exzision unter diesem Begriff verstanden. Und
in der chirurgischen Umgangssprache ist unter dem Débridement manchmal auch nur
gemeint, dass etwas „Chirurgisches“ getan wurde.
Präklinische Möglichkeiten der Wundbeurteilung und -behandlung
Präklinische Möglichkeiten der Wundbeurteilung und -behandlung
Fackler [7] versucht, mit seiner Aussage „Treat the
wound, not the weapon!“ den behandelnden Arzt dafür zu sensibilisieren, dass nicht
die verwendete Waffe der ausschlaggebende Punkt für die Art der Behandlung eines
Patienten mit Schussverletzung ist, sondern die Wunde selbst. Folgende Details kann
der Behandler über die Verletzung durch Untersuchung und Anamnese erheben:
-
Einschussöffnung,
-
Ausschussöffnung, wenn vorhanden,
-
Länge des Schusskanals bei vorliegendem Ein- und Ausschuss,
-
permanente Wundhöhle im Schusskanal,
-
verletzte Organe/Gewebearten auf dem Weg des Geschosses zwischen Ein- und
Ausschuss,
-
mögliche innere Wundfolgen bei bekannter Waffe (temporäre Wundhöhle),
Viele der genannten 6 Punkte sind leicht festzustellen bzw. zu erheben, wenn es sich
um „ideale Schussverletzungen“ handelt, wie sie in der Literatur in den
durchgeführten Studien beschrieben und angewendet werden. In der Realität ist dies
häufig deutlich schwieriger. Denn nur selten trifft ein Geschoss im rechten Winkel
auf die Körperoberfläche, von Querschlägern und abgeprallten Geschossen ganz zu
schweigen.
Dennoch sind einige Rückschlüsse möglich:
-
Der Einschuss ist in der Regel kleiner als der Ausschuss.
-
Je länger der Schusskanal im Körper ist, desto höher ist die an den Körper
abgegebene Energie und somit der verursachte Schaden.
-
Schusskanäle, die durch die Leber verlaufen, verursachen infolge der
geringeren Elastizität des Lebergewebes eine ausgeprägtere Verletzung als
ein vergleichbarer Schusskanal durch die Oberschenkelmuskulatur oder durch
das Lungengewebe.
-
Nicht tödliche Schussverletzungen durch Faustfeuerwaffen haben in der Regel
eine günstigere Prognose als solche durch Automatikgewehre. Denn häufig
haben die Projektile aus den erstgenannten Waffen eine deutlich geringere
Energie beim Auftreffen auf den Körper und somit sind auch die Energieabgabe
und damit der Gewebeschaden deutlich geringer.
Beim Lesen der letzten Zeilen fallen die vorsichtigen Formulierungen und die darin
enthaltenen Einschränkungen auf. Denn ein Einschuss kann durchaus größer als ein
Ausschuss sein. Die Schusskanäle müssen nicht gerade verlaufen und Schusswunden
durch Handfeuerwaffen können größere Verletzungen verursachen als solche durch
Gewehre.
Aber welche Möglichkeiten bestehen denn nun für den präklinisch tätigen Arzt bei der
Beurteilung von Schussverletzungen und welche Konsequenzen sollte er aufgrund dieser
Beurteilung für seine Wahl der Therapie ziehen? Präklinisch sind die Möglichkeiten
der Diagnostik sehr eingeschränkt und sie sind sehr wohl vergleichbar mit den
Möglichkeiten der Ärzte in bewaffneten Konflikten. Daher sind die Möglichkeiten des
präklinisch tätigen Arztes die gleichen, wie sie im Buch des Internationalen Roten
Kreuzes „War Surgery: Working with limited resources in armed conflict and other
situations of violence, Vol. 1“ [13] beschrieben
werden. Hervorzuheben ist hier der Rote-Kreuz-Wund-Score ([Tab. 1]). Bis auf den letzten Teilbereich sind alle Details im
präklinischen Bereich zu erheben ([Abb. 2]). Diese
erhobenen Befunde können bei der Übergabe an die Klinik zu einer schnellen und
zielgerichteten Diagnostik und Therapie beitragen.
Tab. 1 Der Rote-Kreuz-Wund-Score (aus: Augat P, Baas NU, Beickert
R et al. Schussverletzungen. In: Bühren V, Keel M, Marzi I, Hrsg.
Checkliste Traumatologie. 8., vollständig überarbeitete Auflage.
Stuttgart: Thieme; 2016).
Kriterium
|
Beschreibung
|
E
|
Kriterium (maximaler Durchmesser in cm)
|
X
|
Beschreibung (maximaler Durchmesser in cm)
|
C
|
Kavitation (fasst die Kavitationshöhle vor dem Débridement 2
Finger? → C0 = nein, C1 = ja)
|
F
|
Fraktur → (F0 = keine Fraktur, F1 = einfache Fraktur, F2 =
Trümmerzone)
|
V
|
V = vitale Struktur (Hirn, Viszera, große Gefäße) → V0 = nicht
betroffen, V1 = Dura, Pleura, Peritoneum eröffnet, große Gefäße
verletzt
|
M
|
metallische Fremdkörper (Röntgen) → M0 = keine, M1 = ein, M2 =
multiple
|
Im präklinischen Bereich gelten die gleichen therapeutischen Grundsätze wie bei
anderen offenen Verletzungen auch. Einer speziellen präklinischen Therapie bedürfen
die Schussverletzungen nicht. Dies unterstreicht die Aussage von Fackler [7]: „Treat the wound, not the weapon.“
Abb. 2 Schussverletzung durch eine Pistole mit Munition aus dem
2. Weltkrieg. a Einschuss an der linken Hand. b Ausschuss an
der linken Hand. c Wiedereintritt des Projektils am linken
Oberschenkel mit Blutsprenkeln aus der Handaustrittswunde der Hand um den
Wiedereintritt herum. d Austrittswunde am linken Oberschenkel.(Quelle: Dr. Mario Steinbach, Ulm)
Eigenschutz und Lagebeurteilung
Eigenschutz und Lagebeurteilung
“The point of wounding is, by definition, a very dangerous and chaotic place.” [13]
Eigenschutz ist die Grundvoraussetzung für das Tätigwerden von Rettungskräften am
Einsatzort, weshalb eine enge Abstimmung zwischen Rettungskräften und Organen der
Gefahrenabwehr (z. B. Polizei) zwingend erforderlich ist. Eine sorgfältige
Lagebeurteilung vor Betreten des Schadensorts dient der Erkennung potenzieller
Gefahren und somit der Risikoreduktion für die Helfer. Zudem müssen
(polizei-)taktische Überlegungen in die Planung mit einbezogen werden, um den
Einsatzablauf, und somit weitere potenzielle Opfer, nicht zu gefährden.
Second Hit
Terroristische Szenarien können darauf abzielen, Helfer und Schaulustige an den
Schadensort zu locken, um dann mit weiteren Attacken oder Anschlägen noch mehr
Opfer zu verursachen. Verwundete sollen nach Möglichkeit nicht am Anschlagsort
versorgt werden, sondern in sicherem Abstand und mit der Möglichkeit zum
Eigenschutz.
Strukturierte präklinische Untersuchung und Erstmaßnahmen
Um die Prähospitalzeit so kurz wie möglich zu halten, wird empfohlen, nach dem
prioritätenorientierten, symptombasierten <C>ABCDE-Schema, einer
militärischen Modifikation des PHTLS-Algorithmus [24] vorzugehen, wobei <C> für „Critical Bleeding“ –
zeitkritische Identifikation und Behandlung komprimierbarer lebensbedrohlicher
Blutungen – steht [25]. Diese Empfehlung steht im
Einklang mit der aktuellen Fassung der S3-Leitlinie
Polytrauma-/Schwerverletztenbehandlung [26].
<C> – Critical Bleeding
Stark blutende Extremitätenverletzungen, welche die Vitalfunktionen
beeinträchtigen können, sollen mit Priorität versorgt werden [26]. Mittel der Wahl sind:
Die indikationsgerechte Anwendung von Tourniquets gilt auch im zivilen Umfeld
als sicher [27], [28]. Die Anwendung eines Tourniquets stellt eine temporäre
Maßnahme dar und sollte, sobald es Situation, Zeit und Versorgungskapazität
ermöglichen, durch andere blutstillende Maßnahmen ersetzt werden. Die lange
als gültig angenommene Behauptung, die Anlage des Tourniquets sollte nur am
Oberarm bzw. -schenkel erfolgen, da durch das Vorliegen nur eines zentral
liegenden Knochens eine sichere Blutstillung gewährleistet werden kann, ist
heute eindeutig widerlegt [29], [30].
Merke
Das Tourniquet sollte idealerweise 10 – 15 cm oberhalb der Verletzung
angebracht werden.
Indikationen zur Anlage eines Tourniquets [26]
sind:
-
lebensgefährliche Blutungen/multiple Blutungsquellen an einer
Extremität,
-
Nichterreichbarkeit der eigentlichen Verletzung,
-
mehrere Verletzungen mit Blutungen,
-
schwere Extremitätenblutung mit gleichzeitigem kritischen A-, B- oder
C-Problem,
-
Unmöglichkeit der Blutstillung durch andere Maßnahmen,
-
schwere Blutungen an Extremitäten bei Zeitdruck unter
Gefahrensituationen.
Eine weitere Option stellt die Anwendung hämostyptischer Substanzen oder
extrem saugfähiger Verbandmaterialien dar. Auch zur präklinischen Tamponade
oder bei ausgeprägteren Wunden und auch zum Packing einer blutenden Wunde
eignen sich Hämostyptika [31]. In einer
In-vitro-Untersuchung konnte gezeigt werden, dass moderne Hämostyptika
durchaus die Effektivität eines hämostatischen Wundverbands erhöhen können
[32]. Auch in einem zivilen präklinischen
Umfeld wurden die Vorteile der Hämostyptika zur Blutungskontrolle
hervorgehoben [33]. Publizierte In-vitro- und
In-vivo-Untersuchungen zeigen teilweise sehr vielversprechende Ergebnisse
der Hämostyptika zur Blutungskontrolle, wenngleich bis heute
kontrolliert-randomisierte, präklinische Multicenterstudien fehlen, welche
die Wirkung von Hämostyptika belegen [34],
sodass derzeit die Kriterien der Evidence-Based Medicine nicht erfüllt
sind.
A – Atemwege und HWS-Immobilisation
Indikationen zur Atemwegssicherung bei Traumapatienten sind insbesondere:
Mehr als 45% der Schussverletzten weist bei Auffinden einen GCS-Wert ≤ 8 auf
[35]. Bei Notfallpatienten mit erhaltener
Spontanatmung ist nach Freimachen der Atemwege die Gabe von Sauerstoff mit
höchstmöglichem Fluss über Maske mit Reservoirbeutel obligat. Entsprechend
der Handlungsempfehlung für das präklinische Atemwegsmanagement der
Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) sollte
die Anzahl der Intubationsversuche nicht mehr als 2 betragen – mit einer
maximalen Dauer von jeweils 30 Sekunden [36].
Supraglottische Atemwegshilfen stellen eine Alternative bei Patienten dar,
die nicht intubiert werden können. Die Koniotomie ist die Ultima Ratio in
der „Cannot ventilate – cannot intubate“-Situation [36].
Die Immobilisation der Halswirbelsäule (HWS) ist insbesondere bei Patienten
mit Schussverletzungen im Bereich des Kopfes oder des Nackens indiziert
[37], jedoch muss auch an eine mögliche
Fraktur im Bereich der HWS als sekundäre Sturzfolge gedacht werden.
B – Belüftung/Beatmung
Nach einer Untersuchung der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU)
wiesen 26,9% der schussverletzten Patienten Verletzungen des Thorax auf
[35].
Offene Thoraxverletzungen sind unverzüglich mit luftdichten Verbandmitteln zu
schließen. Die Entlastungspunktion mittels großkalibriger Nadel im
2. Interkostalraum (ICR) medioklavikular (Monaldi-Position) stellt eine
einfach und schnell durchzuführende, aber temporäre Maßnahme dar, bis eine
Minithorakotomie mit Einlage einer Thoraxdrainage in Bülau- (4. ICR vordere
Axillarlinie) oder Monaldi-Position (2. ICR medioklavikular) erfolgen kann.
Die zur Entlastungspunktion verwendete Kanüle benötigt bei Anwendung im
empfohlenen 2. ICR medioklavikular mindestens eine Länge von 64 mm, d. h.
die Venenverweilkanülen mit 16 und 14 G (Stichlänge 50 mm) reichen u. U.
nicht aus, um den Pleuraraum sicher zu erreichen [38]. Kann der Pleuraraum mit der zur Verfügung stehenden
Punktionsnadel nicht sicher erreicht werden, muss unverzüglich eine
Minithorakotomie erfolgen.
C – Circulation
Nachdem initial bereits vital bedrohliche Extremitätenblutungen unterbunden
wurden, gilt es die Verletzten nach weiteren Blutungen abzusuchen und ggf.
blutstillende Maßnahmen durchzuführen. Liegende Tourniquets und
Druckverbände müssen erneut auf ihre Effektivität überprüft werden. Die
Anlage eines intravenösen Zugangs bei hämodynamischer Instabilität darf die
präklinische Versorgungszeit nicht unnötig verlängern, der intraossäre
Zugang bietet hier spätestens nach 3 frustranen periphervenösen
Punktionsversuchen eine sinnvolle Alternative [39]. Als Punktionsstellen eignen sich die proximale und distale
Tibia sowie bei Patienten mit Verletzungen in diesem Bereich auch der
proximale Humerus.
Kreislaufinstabile Patienten mit unkontrollierten Blutungen profitieren
einzig von einer zügigen chirurgischen Therapie. Bis zum Erreichen der
Klinik kann die Kreislaufstabilisierung mit Volumen und Katecholaminen
erfolgen. Das Konzept der permissiven Hypotension mit systolischem Blutdruck
von 80 – 90 mmHg verbessert möglicherweise das Outcome von Patienten mit
nicht beherrschbaren Blutungen [40], sollte
jedoch bei Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma keine Anwendung finden.
Aktuelle Untersuchungen deuten darauf hin, dass bei Patienten mit
penetrierenden Verletzungen und einem systolischen Blutdruck unter 110 mmHg
die Letalität steigt [41]. Instabile
Beckenfrakturen sollen durch Anlage einer Beckenschlinge komprimiert und
frakturierte Extremitäten geschient werden, um den Blutverlust zu
reduzieren.
Abb. 3 Schussverletzung durch eine Pistole am rechten
Unterbauch. Verletzt war die Blase durch einen Durchschuss, bei dem
das Projektil intraperitoneal ohne weitere Verletzung verlief, das
Peritoneum am rechten Blasendach durchdrang, die Blase durchschlug
und letztendlich am vorderen Beckenring hängen blieb. a Zwei
nah aneinander liegende Einschusswunden sowie einer Ausschusswunde
mit sichtbarem prolabiertem Omentum. b Nachweis des
Projektils am Beckenknochen bei fehlendem 2. Ausschuss.
D – Disability
Eine orientierende neurologische Untersuchung umfasst die Erhebung der GCS,
die Abfrage der Orientierung zu Ort, Zeit und Person sowie die Überprüfung
der Pupillenreaktion. Nach einer Analyse aus dem TraumaRegister
DGU® wiesen 45,1% der Schussverletzten einen GCS-Wert ≤ 8 mit
entsprechend hoher Intubationsrate auf; in 49,8% lagen Kopfverletzungen vor,
die zu über 80% in suizidaler Absicht selbst beigebracht wurden [35].
Abb. 4 Vollständig extraperitoneal verlaufende
Schussverletzung. Durch diesen Schuss war die Harnblase am
Blasenhals durchschlagen worden. a Einschuss im Bereich des
rechten Gesäßes ohne Nachweis eines Ausschusses. b Nachweis
des Projektils am vorderen linken Beckenring.
E – Environment
Hypothermie verstärkt die traumainduzierte Koagulopathie und muss frühzeitig
durch wärmeerhaltende Maßnahmen und angewärmte Infusionen therapiert
werden.
Abb. 5 Unkomplizierter Durchschuss am linken Oberschenkel
durch eine Faustfeuerwaffe. Nach Ausschluss von Gefäßverletzungen
erfolgten eine Single-Shot-Antibiose sowie eine konservative
Therapie. a Einschuss ventral. b Ausschuss
dorsomedial.
Merke
Es versteht sich von selbst, dass die orientierende
Ganzkörperuntersuchung gerade bei Schussverletzungen ein absolutes Muss
darstellt.
In den [Abb. 3] bis [5] finden sich Beispiele für verschiedene Schussverletzungen.
Kernaussagen
-
Schusswunden, verursacht durch Faustfeuerwaffen wie Pistolen und
Revolver, erzeugen häufiger ausschließlich einen permanenten
Schusskanal.
-
Schusswunden, verursacht durch Gewehre, weisen zusätzlich oft auch noch
eine temporäre Wundhöhle auf, auf deren Ausmaß allein durch die
Betrachtung des Ein- und Ausschusses am Körper keine eindeutigen
Rückschlüsse gezogen werden kann.
-
Beim aufgesetzten Schuss kann durch das Gas aus der Treibladung der
Patrone im Zielkörper ebenfalls eine Wundhöhle entstehen.
-
Alle Schusswunden müssen als kontaminiert betrachtet werden und bedürfen
einer antibiotischen Therapie sowie meistens eines chirurgischen
Débridements.
-
Präklinisch kommt zur Therapie der Blutung neben dem Druckverband, der
Tamponade bzw. dem Packing sowie dem Tourniquet an den Extremitäten auch
der Einsatz von Hämostyptika in Betracht.
-
Die präklinische Versorgung erfolgt nach dem prioritätenorientierten,
symptombasierten <C>ABCDE-Schema.
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen
Wissenschaftlich verantwortlich gemäß Zertifizierungsbestimmungen für diesen Beitrag
ist Dr. med. Falk von Lübken, Ulm.
Erstveröffentlichung
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in: Notarzt 2017; 33: 120 – 131