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DOI: 10.1055/s-0043-120126
Foto-Interview – „Das möchte ich verbessern“
Subject Editor:
Publication History
Publication Date:
05 January 2018 (online)
- Erste Sitzung: Ziele auswählen
- Lösungsfokussierte Karten einsetzen
- Es geht um die Lösung, nicht um das Problem
- Ein neues Instrument
- Für Kinder ab sieben Jahren geeignet
- Derzeit noch wenige Studien
- Ein Ansatz, der in die Ergotherapie passt
Das Foto-Interview unterstützt Ergotherapeuten und Pädagogen darin, Alltagsziele mit Kindern zu definieren und umzusetzen. Bei dieser lösungsfokussierten und ressourcenorientierten Intervention entscheidet das Kind, was es genau verändern, lernen oder erreichen möchte.
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Viktoria Peter, Ergotherapeutin, BSc (Occ. Th. UK), arbeitet in der Ergotherapie-Praxis Kramer in Bonn mit dem Schwerpunkt Pädiatrie und Neurologie. Sie hat das niederländische Foto-Interview übersetzt und es erstmalig in Deutschland angewendet. Die nächste deutschsprachige Fortbildungen zum Foto-Interview gibt sie im April 2018 in Hamburg.
Kontakt: FotoInterviewDeutschland@freenet.de
Das Foto-Interview ist eine Intervention für Kinder ab etwa sieben Jahren sowie für Jugendliche. Zum einen geht es darum, Alltagsziele mit Kindern auszuarbeiten, zum anderen stellt es eine Art Leitfaden dar, den Therapeuten bzw. Pädagogen nutzen können, damit Kinder ihre Ziele möglichst selbstständig erreichen. Das Interview besteht aus 110 Bildkarten zu verschiedenen Aktivitäten, neun lösungsfokussierten Karten (z. B. Ja-Karte/Nein-Karte, Werkzeugkarte) ([ABB].), einer Anleitung sowie einem Ergebnisformular, um Ziele, Übungen und Ergebnisse zu dokumentieren.
Erste Sitzung: Ziele auswählen
In der ersten Therapiesitzung definiert die Ergotherapeutin mit dem Kind drei Ziele. Dafür wählt sie vor der Sitzung mindestens 50 relevante Fotos für das Kind aus. Es sollten Aktivitäten enthalten sein, die das Kind mit großer Wahrscheinlichkeit gut ausführen kann, aber auch Aktivitäten, die das Kind aufgrund der Information der Erstanmeldung/Anamnese wahrscheinlich nicht gut ausüben kann.
Die Therapeutin legt zuerst die Ja-Karte und die Nein-Karte auf den Tisch: „Ja. Das möchte ich gerne verbessern oder lernen“ und „Nein. Das kann ich schon. Das brauche ich nicht zu lernen oder verbessern“. Die Formulierungen sind bewusst so gewählt, dass das Kind „Ja“ mit etwas verbindet, das es lernen möchte. Dann erklärt die Therapeutin dem Kind, dass sie herausfinden will, was seine Ziele sind. Sie betont, dass sie nicht an den Zielen von Eltern, Lehrern oder Therapeuten interessiert ist, sondern dass es allein um die Ziele des Kindes geht und dass es selbst Experte für sein eigenes Lernen und Leben ist.
Das Kind bekommt die Aufgabe, jede Bildkarte entweder auf den Ja- oder den Nein-Stapel zu legen. Bei einem Zweifel ist es auch möglich, Bildkarten in die Mitte der Stapel zu legen. Die Eltern dürfen als stille Beobachter im Hintergrund sein. Sie bekommen die Aufgabe, genau zuzuhören, was ihr Kind wählt. Die Therapeutin gibt dem Kind eine Karte in die Hand. Sie fragt, wohin es diese legen möchte und was es in ihr sieht. Meist legen Kinder mehr Karten auf den Stapel: „Nein. Das kann das schon“ und sind erstaunt und stolz, dass sie schon so viele Aktivitäten ausführen können.
Anschließend kommt die „Haben wir noch etwas vergessen?“-Karte zum Einsatz ([ABB].). Denn manchmal nennen Kinder Ziele, die nicht auf den Karten vermerkt sind, zum Beispiel „einer Geschichte aufmerksam zuhören“. Dann darf das Kind dieses Ziel auf ein Blatt Papier malen und hinzufügen.
Im nächsten Schritt wählt das Kind drei Ziele aus dem „Ja. Das möchte ich lernen“-Stapel aus. Damit endet die erste Sitzung und auch die Zielsetzung.
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Lösungsfokussierte Karten einsetzen
In der zweiten Sitzung kommen die Zauberkarte, die Stolz-, die Vorteil-, die Werkzeug- und die Skalierungskarten zum Einsatz ([ABB].). Jetzt wird gemeinsam erarbeitet, wie das Kind seine Ziele erreichen kann.
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Die Zauberkarte unterstützt das Kind dabei, ein Ziel genauer zu definieren. Die Frage: „Wie wäre es, wenn du zaubern könntest?“ hilft ihm, sich eine optimale Betätigungsperformanz vorzustellen. Wie würde zum Beispiel eine erwünschte Handschrift aussehen? Was wäre anders zum Ist-Zustand? Wäre sie schneller? Schöner? Ordentlicher? Auf den Linien? …
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Mit der Vorteilkarte sammelt das Kind all die Vorteile, die es hat, wenn es die Aktivität ausführen kann. Dies dient dazu, die intrinsische Motivation zu fördern.
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Die Stolzkarte macht dem Kind seine Stärken und inneren Ressourcen bewusst. Was kann ich schon gut? Was sind meine Fähigkeiten? Wie helfen sie mir, mein Ziel zu erreichen?
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Die Werkzeugkarte hilft dem Kind, sich zu überlegen, was es für die erfolgreiche Durchführung der Aktivität benötigt. Braucht es Material, Helfer, eine Anleitung?
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Anhand der Skalierungskarten soll sich das Kind auf einer Skala von 1 (kann ich gar nicht gut) bis 10 (kann ich sehr gut) einschätzen. Dieser Wert ist nicht objektiv absolut, hilft aber zu verstehen, wie gut bzw. schlecht sich ein Kind selbst sieht und wie es sich in seiner Selbstwahrnehmung im Laufe der Zeit verändert. Verbessert sich der Wert? Bleibt er gleich? Welche Zahl wählt es? Zu welcher Zahl möchte es kommen? Was muss sich bis dahin noch verändern (zurück zur Zauberkarte)?
Die besprochenen Ziele und Wünsche, die vorhandenen Stärken, die benötigten Hilfen, die eigene Einschätzung etc. dokumentiert die Ergotherapeutin auf dem Ergebnisformular.
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Es geht um die Lösung, nicht um das Problem
Die theoretische Basis des Foto-Interviews bilden ergotherapeutische und psychologische Ansätze, wie die Cognitive Orientation to Occupational Performance (CO-OP) [1, 2] und die lösungsfokussierte Therapie, die von den Psychotherapeuten Insoo Kim Berg und Steve De Shazer seit 1982 in den USA entwickelt wurde und die auch in Europa inzwischen verbreitet ist [3, 4]. Bei lösungsfokussierten Therapien geht es darum, nicht das Problem in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Lösung. So würde man bei einer problemorientierten Sichtweise fragen: „Warum kann das Kind keine Schuhe binden?“ Meist findet man Schuldfaktoren beim Kind, bei den Eltern und/oder den Lehrern. Die lösungsfokussierte Sichtweise fragt: „Welche Fähigkeiten muss ein Kind erlernen, um seine Schuhe erfolgreich zu binden?“ Dabei geht man davon aus, dass die Kinder Experten für ihr eigenes Leben sind: Sie kennen sich, ihre Stärken und ihre Wünsche ganz genau und besitzen genügend Fähigkeiten, um für die meisten Probleme selbst Lösungsansätze zu finden und ihr Leben positiv zu beeinflussen. Eltern, Therapeuten, Lehrer fungieren als Helfer, aber sie dirigieren nicht die Richtung. Dazu ist es notwendig, dass sich die Helfer an die altersgemäße Gesprächsebene anpassen [5]. Dies ist gar nicht so einfach und benötigt Übung.
Die Eltern dürfen die Zielfindung nicht beeinflussen. Das Kind entscheidet allein, was relevant ist.
Das Hauptanliegen der Ergotherapeutin soll sein, positive Erfahrungen hervorzuheben. Dennoch darf sie auch negative Erfahrungen benennen und besprechen. So zeigt sie dem Kind, dass sie es mit seinen Sorgen und Ängsten ernst nimmt. Danach lenkt sie das Gespräch wieder in eine positive Richtung. Außerdem sollte sie nicht zu schnell und übertrieben begeistert reagieren. Es braucht hier eine gewisse Erfahrung und Fingerspitzengefühl, um Positives und Defizite im richtigen Maß für das Kind hervorzuheben und dabei das Kind geleitet entdecken zu lassen.
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Ein neues Instrument
Die Idee zum Foto-Interview hatten Lehrer und Therapeuten der inklusiven Mytylschool Tilburg (Niederlande). Sie baten Prof. Dr. Helene Polatajko um Erlaubnis, die Pediatric Activity Card Sort [6] weiterzuentwickeln, da ihnen typisch niederländische Aktivitäten fehlten. So wurden Bilder aktualisiert und neue Aktivitäten hinzugefügt wie „Fahrrad abstellen“ und „sich mit anderen Kindern nach der Schule verabreden“. Auch die Durchführung wurde modifiziert, indem der Fokus auf die innere Motivation des Kindes und seine Ressourcen gelegt wurde. Inspiriert durch verschiedene Theorien [1, 3, 4, 7] entstanden weitere Karten wie die Zauberkarte und die Stolzkarte. Ziel war es, einen Ansatz zu entwickeln, der Kindern mehr Regie und Autonomie für ihre eigenen Lernziele zuspricht. Seit 2013 ist das Foto-Interview in den Niederlanden im Einsatz. Seit 2017 gibt es eine gleichnamige deutsche Version (Foto-Interview, S. 26).
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Für Kinder ab sieben Jahren geeignet
In den Niederlanden wird das Interview zur Zielsetzung verwendet sowie als Intervention, um zum Ziel zu gelangen. Kommt ein Kind bereits mit klaren Zielen, kann man auch nur die Intervention durchführen. Das Foto-Interview richtet sich an Schul- und Therapiekinder ab etwa sieben oder acht Jahren, die ein geringes Selbstwertgefühl haben und Unterstützung benötigen, Betätigungen auszuführen.
Beim Foto-Interview geht es um die Zukunft! Was möchte das Kind wie lernen, um es in der nahen Zukunft zu können? Das Kind entscheidet selbst, was es verändern, erlernen, üben und erreichen möchte. Kleineren Kindern im Alter von sechs Jahren oder jünger fehlt dafür oft das metakognitive Bewusstsein: Sie nehmen zwar wahr, dass sie Aktivitäten besser oder schlechter als Altersgenossen ausführen, aber sie wissen nicht warum. Oft überschätzen sie sich und meinen, sie können alles gut. Hier können die Bilder des Foto-Interviews hilfreich sein, um bei 5- bis 6-Jährigen zumindest eine Richtung für die Zielentwicklung vorzugeben [8]. Für Jugendliche von 12 bis 16 Jahren gibt es eine Version für Jugendliche.
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Derzeit noch wenige Studien
Das Foto-Interview befindet sich in Deutschland in der Testphase. Eine Schwäche ist daher, dass es dazu noch keine Forschung im deutschsprachigen Raum gibt. Die bisherige Anwendung seit Juni 2017 in der Ergotherapie bei Kindern zwischen sechs und zehn Jahren in Bonn hatte jedoch positive Erfolge und wurde auch von Eltern und Lehrern positiv aufgenommen. Kulturell ähneln sich die Aktivitäten deutscher und niederländischer Kinder stark.
Die niederländische Ergotherapeutin Annelies De Hoop untersuchte in ihrer Masterarbeit den Effekt des Foto-Interviews auf die Motivation von zehn Kindern, an ihren eigenen Zielen zu arbeiten, und kam zu einem positiven Resultat [9]. Weitere Studien werden momentan von niederländischen Studenten der Ergotherapie, Logopädie und Pädagogik durchgeführt. Bis eindeutige Ergebnisse vorliegen, gilt als Maßstab für das Funktionieren des Foto-Interviews: ob ein Kind sein Ziel nun zu seiner Zufriedenheit ausüben kann und ob sich sein Wunsch erfüllt hat.
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Ein Ansatz, der in die Ergotherapie passt
Der Erfolg der Behandlung steht und fällt mit der richtigen Durchführung der Intervention, daher legen die Autoren Wert darauf, dass jeder Anwender ein Training zum Foto-Interview absolviert (FOTO-INTERVIEW, S. 26). Es gibt klassische Fehlerfallen, die man unbedingt vermeiden sollte. So müssen zum Beispiel die Ziele eindeutig vom Kind kommen, also völlig frei sein von der Beeinflussung der Eltern. Später, bei der Festlegung der drei Ziele, kann man gemeinsam diskutieren, vorausgesetzt, die Kinder haben das nötige Selbstbewusstsein. Da viele Kinder jedoch negative Erfahrungen gemacht haben, ist das Wichtigste, dass sie Erfolgserlebnisse haben und selbst wählen dürfen [7]. Die Erfahrung zeigt, dass die Kinder sehr wohl relevante Ziele auswählen!
Wo kann man es beziehen?
Dem Autorenteam der Mytylschool Tilburg ist es wichtig, dass das Foto-Interview korrekt angewandt wird und die Qualität erhalten bleibt. Daher ist vor dem Erwerb ein Training notwendig. Schulungen auf Niederländisch können bei der Ergotherapeutin Annelies de Hoop, Schulungen auf Deutsch bei der Ergotherapeutin Viktoria Peter per E-Mail angefragt werden:
anneliesdehoop@datkanX11.nl
(Annelies de Hoop)
FotoInterviewDeutschland@freenet.de
(Viktoria Peter)
Nach dem Training kann man das Foto-Interview für 121 Euro (Stand: Oktober 2017) über Annelies De Hoop beziehen. Weitere Informationen (auf Niederländisch) zum Foto-Interview und zum Training gibt es auf der Website www.datkanX11.nl . Ein englischsprachiges Video zur Anleitung finden Interessierte im Internet unter http://bit.ly/Fotointerview .
Das Foto-Interview ist ein Ansatz, der sich gut mit bestehenden Modellen bzw. Ansätzen der Ergotherapie vereinbaren lässt, zum Beispiel dem Canadian Model of Occupational Performance (CMOP) und dem CO-OP. Es folgt dem aktuellen wissenschaftlichen und weltweiten Trend, in der Praxis mehr Top-down zu behandeln, Klienten ihre Behandlung aktiver gestalten zu lassen und als Ergotherapeutin weniger vorzugeben, sondern mehr zu coachen – aus meiner Sicht ist das seine große Stärke [10].
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