(Quelle: © cirquedesprit – AdobeStock ; Grafik: K. Wesker, aus: Schünke M, Schulte E,
Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem.
Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 3. überarb. u. erw. Aufl.; Stuttgart: Thieme;
2011)
Die Altersstruktur der heutigen Gesellschaft wird sich in Zukunft verändern. Der Anteil der älteren Patienten in
der Praxis wird zunehmen, was zur Folge hat, dass Ärzte und Therapeuten häufiger Patienten mit
Verschleißerscheinungen im Bereich der Wirbelsäule behandeln werden. Altert oder verschleißt die Wirbelsäule,
kommt es häufig zu Beeinträchtigungen des Spinalkanals im Sinne einer degenerativen lumbalen Stenose. Die hieraus
resultierenden Rücken- und Beinschmerzen stellen für die Patienten eine ausgeprägte Beeinträchtigung der
Lebensqualität dar.
Anatomie des Wirbelkanals
Anatomie des Wirbelkanals
Die Wirbelsäule dient neben ihrer eigentlichen Aufgabe als Halte- und Stützapparat zusätzlich dazu, das Rückenmark
sowie die segmentalen Spinalnerven knöchern zu leiten und zu schützen. Um gleichzeitig ein Maximum an
Beweglichkeit und einen größtmöglichen Schutz für die neurologischen Strukturen zu gewährleisten, ist der
Wirbelkanal (auch Rückenmarkkanal oder Spinalkanal) in seiner Anatomie äußerst komplex aufgebaut.
Auf seiner ventralen Seite ist der Wirbelkanal durch die Hinterkanten der Wirbelkörper und der dazwischen liegenden
Bandscheiben, die mit dem Ligamentum longitudinale posterius miteinander verbunden sind, begrenzt. Lateralseitig
befinden sich die Pedikel der Wirbelkörper, die jeweils mit dem benachbarten Wirbel eine Austrittsöffnung für die
Nerven bilden. Die Wirbelbögen und das dazwischen verlaufende gelbe Band (Lig. flavum) sowie die
Zwischenwirbelgelenke (Facettengelenke) formieren die Begrenzung nach dorsal ([
Abb.
1
]). Das von Rückenmarkhäuten umgebene Myelon samt Konus und Kaudafasern sind zusätzlich in
epidurales Fett eingebettet ([
Abb. 2
]).
Abb. 1 Median-Sagittal-Schnitt durch den unteren Abschnitt der Wirbelsäule. (Quelle: K. Wesker, aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der
Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 2. Aufl.
Stuttgart: Thieme; 2007)
Abb. 2 Cauda equina in Höhe des 2. Lendenwirbels. (Quelle: K. Wesker, aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas der
Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker. 2. Aufl.
Stuttgart: Thieme; 2007)
Pathophysiologie
Die lumbale Spinalkanalstenose lässt sich grundsätzlich in eine primäre (angeborene/anlagebedingte) und sekundäre
(erworbene, zum Beispiel degenerative oder posttraumatische) Form unterteilen. Aufgrund der absoluten Dominanz der
degenerativ bedingten Stenose wird im Weiteren lediglich auf diese Form eingegangen. Grundsätzlich besteht bei
einer Spinalkanalstenose ein Missverhältnis zwischen dem zur Verfügung stehenden Platz im Wirbelkanal und den
durchlaufenden Strukturen (Kaudafasern). Dieses Missverhältnis kann dazu führen, dass die neurologischen
Strukturen komprimiert und mechanisch geschädigt werden oder/und dass Durchblutungsstörungen auftreten. Hierbei
wird in der Literatur sowohl eine arterielle Minderversorgung als auch ein venöser Rückstau durch die Stenose
diskutiert [8].
Hauptursachen einer Stenose
Die Ausbildung einer Stenose lässt sich auf drei Hauptursachen (diskogen, knöchern und ligamentär)
zurückführen, die in der Regel gemeinsam auftreten oder sich gegenseitig bedingen können.
Diskogene Ursache
Die fortschreitende Degeneration der Bandscheibe mit Flüssigkeitsverlust des Nucleus pulposus und
konsekutiver Höhenminderung führt zu einer Protrusion des Anulus fibrosus in den Spinalkanal mit ventraler
Einengung des Spinalkanals und Pelottierung des Duralschlauches. Zusätzlich können verschleißbedingte
knöcherne Anbauten an den Wirbelkörpern (sogenannte Spondylophyten) den Spinalkanal weiter einengen.
Gleichzeitig führt der Höhenverlust des Segmentes zu einer neuroforaminalen Enge, die zu einer Einklemmung
der jeweils austretenden Nervenwurzel führen kann.
Knöcherne Ursache
Die mechanische Überlastung der Facettengelenke durch den Höhenverlust der Bandscheibe führt im weiteren
Verlauf zur Ausbildung einer Spondylarthrose mit einhergehender Hypertrophie der Zwischenwirbelgelenke und
daraus resultierender rezessaler Einengung des Wirbelkanales von dorsal.
Ligamentäre Ursache
Ebenfalls bedingt die Höhenminderung des Segmentes, dass sich die benachbarten Wirbelbögen einander
annähern, sodass das dazwischen aufgespannte Lig. flavum erschlafft und durch Vorwölbung
(Pseudohypertrophie) in den Spinalkanal zu einer Einengung von dorsal führt. Dieser Effekt verstärkt sich
vor allem im Stehen, wenn die zunehmende Lordose der Lendenwirbelsäule zu einer weiteren Annäherung der
Wirbelbögen führt. Auch eine verschleißbedingte echte Hypertrophie des Lig. flavum verstärkt die Enge im
Wirbelkanal.
Eher selten kommt es durch übermäßiges Fett im Spinalkanal zu einer Stenosierung mit Kompression der
Kaudafasern, der Lipomatosis spinalis. Als Folgeerscheinung des segmentalen Höhenverlustes der Bandscheibe
sowie der degenerativen Verformung der Facettengelenke kann es aufgrund der resultierenden Instabilität
des Segmentes zu einem degenerativen Wirbelgleiten kommen, das zu einer zusätzlichen Einengung des
Rückenmarkkanals führt. Je nach Ort der Lokalisation der Enge spricht man von einer zentralen, einer
rezessalen oder einer neuroforaminalen Stenose. Hauptsächlich betroffen sind die Etagen L3/4 und L4/5,
wobei sowohl monosegmentale als auch multisegmentale Stenosen auftreten.
Klinische Symptomatik
Da es sich bei der lumbalen Stenose in der Regel um eine Pathologie handelt, die sich über viele Jahre entwickelt,
beklagen die Patienten meistens keine akut auftretende Beschwerdesymptomatik, sondern eine sich langjährig
anbahnende, schleichend progrediente Kombination aus unspezifischen Rückenschmerzen, die unter Belastung in die
Beine ausstrahlen. Vor allem beim Stehen und Gehen kommt es bei der zentralen Stenose zu diffus in die Beine
ausstrahlenden Schmerzen, meist beidseitig im Bereich der dorsalen Ober- und Unterschenkel, ohne dass eine sichere
radikuläre Zuordnung möglich ist. Begleitet werden die Schmerzen von einem belastungsabhängig auftretenden
Schwäche- oder Schweregefühl der Beine, das die Patienten zum Stehenbleiben zwingt. Meist führt erst ein Hinsetzen
zur Linderung der Beschwerden, da sich durch die Beckenkippung mit folgender Entlordosierung der Lendenwirbelsäule
und somit Straffung des Lig. flavum die Platzverhältnisse im Spinalkanal entspannen. Pathognomonisch ist eine
deutlich eingeschränkte Gehstrecke, die durch mehrfaches Stehenbleiben und Hinsetzen nach kurzer Distanz
gekennzeichnet ist. Vornübergebeugtes Gehen am Rollator oder Einkaufswagen wird aufgrund der Kyphosierung der LWS
häufig als angenehm empfunden, wodurch die Gehstrecke erweitert werden kann. Klassischerweise können die Patienten
auch problemlos weitere Strecken Fahrrad fahren, ohne dass es zu entsprechenden Symptomen kommt. Erst im
fortgeschrittenen Stadium beklagen die Patienten auch Gefühlsstörungen oder gar Paresen an den Beinen bis hin zu
Gangstörungen samt Gleichgewichtsproblemen. Eine ähnliche Beschwerdesymptomatik wird bei Durchblutungsstörungen
der Beine (periphere arterielle Verschlusskrankheit, pAVK) beobachtet, wobei hier ein Stehenbleiben zu einem
sofortigen Verschwinden der Schmerzen führt (daher auch die Bezeichnung „Schaufensterkrankheit“). Eine eher
radikuläre Ausstrahlung der Schmerzen in die Beine ist ein Hinweis auf eine rezessale oder neuroforaminale
Stenose, die dann jedoch meist nur einseitig auftritt.
Bezeichnend für eine Spinalkanalstenose ist eine aufgrund der Schmerzen eingeschränkte Gehstrecke.
Diagnostik
Die Diagnose einer Spinalkanalstenose erfolgt hauptsächlich anhand der Anamnese sowie der körperlichen Untersuchung
und wird in der Regel durch die Bildgebung lediglich bestätigt. Die klinische Untersuchung ist allerdings wenig
spezifisch und zielt vor allem auf eine periphere neurologische Untersuchung ab, um bereits vorliegende
neurologische Ausfälle aufzuspüren. Die Erhebung des Pulsstatus der peripheren Beingefäße sollte Teil der
Diagnostik sein, um die Möglichkeit einer vorliegenden pAVK zu eruieren.
Zur vollständigen Diagnostik gehört auch eine Erhebung des peripheren Pulsstatus, um eine pAVK als Ursache der
Beschwerden mit in Betracht zu ziehen.
Aktive Beweglichkeit/Inspektion
Bei der Untersuchung der Beweglichkeit der Lendenwirbelsäule fällt häufig auf, dass die Patienten beim
Überprüfen der Inklinationsfähigkeit eine spontane Beschwerdelinderung erfahren, während die Reklination zu
einer Schmerzexazerbation mit Ausstrahlung in die Beine führt. Inspektorisch ist im Sagittalprofil oft eine
Entlordosierung der LWS mit ventralem Lotüberhang der Wirbelsäule auffällig.
Elektrophysiologische Messung
Elektrophysiologische Messungen sind hilfreich, um differenzialdiagnostisch neurologische Krankheitsbilder wie
die Polyneuropathie oder Myelopathie abzuklären, eine wirkliche Abgrenzung von der lumbalen Stenose bleibt
jedoch schwierig [7].
Bildgebung
Die Kernspintomografie (MRT) stellt das Mittel der Wahl zur radiologischen Abklärung einer lumbalen
Spinalkanalstenose dar, da sie in hervorragender Weise die verschiedenen anatomischen Strukturen des
Spinalkanals (vor allem der Weichteile wie Bandscheiben und Bänder) sowie der durchlaufenden neurologischen
Strukturen abbildet ([
Abb. 3
] & [
Abb.
4
]). Das Ausmaß der Befunde korreliert jedoch nicht mit der Intensität der klinischen
Beschwerden [1]
[3]
[4]. Die Computertomografie hat aufgrund der schlechteren Auflösung sowie der
Strahlenbelastung nachgeordneten Charakter und kommt nur zum Einsatz, sofern Einwände gegen eine MRT, zum
Beispiel ein vorhandener Herzschrittmacher oder eine klaustrophobische Störung („Platzangst“), bestehen.
Beiden Verfahren ist jedoch gemein, dass sie dynamische Prozesse wie ein Wirbelgleiten oder ein Drehgleiten im
Stand als Ursache einer Stenosierung nicht abbilden, sodass zur vollständigen Bildgebung auch
nativradiologische Abbildungen der LWS im Stand in zwei Ebenen (sowie bei Bedarf Funktionsaufnahmen in Flexion
und Extension) zählen. Nur bei weiterhin unklaren Befunden in der Bildgebung (zum Beispiel störende Artefakte
durch Implantatmaterial) kommen invasivere Techniken wie die Myelografie oder ein post-Myelo-CT zur Anwendung
([
Abb. 5
]).
Abb. 3 MRT: transversaler Schnitt einer Spinalkanalstenose. (Quelle: J. Beyerlein)
Abb. 4 MRT: sagittaler Schnitt einer Spinalkanalstenose. (Quelle: J. Beyerlein)
Abb. 5 Degenerative lumbale Spinalkanalstenose: sanduhrförmige Einengung des Spinalkanals,
dargestellt in der Myelografie. a Darstellung einer lumbalen Spinalkanalstenose anhand einer
Myelografie in seitlicher Projektion. b Sanduhrförmige Einengungen des kontrastmittelgefüllten
Durasackes. (Quelle: K. Wesker, aus: Schünke M, Schulte E, Schumacher U. Prometheus. LernAtlas
der Anatomie. Allgemeine Anatomie und Bewegungssystem. Illustrationen von M. Voll und K. Wesker.
2. Aufl. Stuttgart: Thieme; 2007)
Grad der Stenose
Als weiterhin schwierig stellt sich jedoch die Quantifizierung des Stenosegrades sowie dessen Korrelation mit den
klinischen Beschwerden dar. Die früher herangezogenen Messwerte des mittsagittalen und transversalen Durchmessers
auf Bandscheibenniveau scheinen nicht geeignet zu sein, da hierbei die rezessale Bedrängung außer Acht gelassen
wird. Ausschlaggebend ist eher die gesamte Querschnittfläche des Spinalkanals. Eine Querschnittfläche von < 100
mm² kennzeichnet eine relative Stenose, eine Fläche von < 70 mm² eine absolute Stenose [11]. Eine morphologische Einteilung der Stenoseart sowie der Verteilung der Nervenfasern und des
intraduralen Liquors in Grad A-D nach Schizas soll eine bessere Korrelation zwischen Stenose und klinischen
Beschwerden erreichen ([
Abb. 6
]) [9]
[10].
Abb. 6 Klassifikation nach Schizas. (graf. Umsetzung: Thieme Gruppe, nach: Schizas et al. 2010 [9])
Therapie
Auch wenn mittlerweile die Studienlage eine Überlegenheit der operativen gegenüber der konservativen Behandlung
aufzeigt [2]
[5], liegt das Hauptaugenmerk zunächst auf einer konservativen Therapie, die für
mindestens zwölf Wochen durchgeführt werden sollte. Auch ein hohes perioperatives anästhesiologisches Risiko
aufgrund vorliegender Komorbiditäten kann die Entscheidung zur konservativen Therapie rechtfertigen. Es existieren
jedoch keine spezifischen Prädiktoren, wann eine konservative Therapie einer Operation vorzuziehen ist [12]. Bereits vorliegende neurologische Ausfälle zwingen allerdings zu einem raschen
operativen Handeln. Im Unterschied zum Bandscheibenvorfall, bei dem es im Laufe der Zeit durch eine Größenabnahme
meist zu einer spontanen Regredienz der Beschwerden kommt, nehmen bei der Spinalkanalstenose die chronischen
Schmerzen durch den altersbedingt zunehmenden Verschleiß im Verlauf eher zu – eine operative Maßnahme ist daher
meist unausweichlich.
Konservative Therapieoptionen
Konservative Therapieoptionen
Als konservative Therapie bietet sich idealerweise ein multimodales Therapiekonzept mit einer Kombination aus
medikamentöser, physiotherapeutischer und physikalischer Therapie an.
Physiotherapie/physikalische Therapie
In der Physiotherapie kommen neben einem Krafttraining der stabilisierenden tiefen Rücken- und Bauchmuskulatur
und einer Gangschulung vor allem entlordosierende Übungen zum Einsatz, um die betroffenen Segmente zu
entlasten und zu stabilisieren. Zusätzlich führen passive Methoden wie eine TENS-Behandlung, Wärme,
Ultraschall oder entlordosierende lumbale Orthesen zu einer weiteren Beschwerdelinderung.
Medikamentöse Therapie
Die medikamentöse Therapie besteht in der Regel aus einer Basismedikation mit nichtsteroidalen Antirheumatika
(Ibuprofen, Diclofenac und andere), die kurzfristig durch Kortisongaben und Muskelrelaxantien ergänzt werden
kann. Erst bei Beschwerdepersistenz und massiven Schmerzen sollte zu Opioiden gegriffen werden. Eine weitere,
meist jedoch nur temporäre Linderung der Beschwerden kann durch Infiltrationen mit einem Gemisch aus lokalem
Betäubungsmittel und kristallinem Kortison erzielt werden, wobei dieses – je nach Beschwerden – im
Epiduralraum, im Bereich der Nervenwurzel (periradikulär/PRT) oder im Bereich der Facettengelenke injiziert
wird [6].
Fazit
Die lumbale Stenose gewinnt aufgrund der sich verändernden Altersstruktur der Gesellschaft zunehmend an Bedeutung
in der täglichen Praxis. Aus wenn am Ende die operative Behandlung der Stenose meist unausweichlich ist, so sollte
nach sorgfältiger Diagnostik bei Abwesenheit neurologischer Ausfälle ein konservativer Therapieversuch unternommen
werden.