Schlüsselwörter
präoperative Nüchternheit - Kaffee - Rauchen - Kaugummikauen - Magenentleerung
Key words
preoperative fasting - coffee - smoking - chewing gum - gastric emptying
Mythen der präoperativen Nüchternheit
Mythen der präoperativen Nüchternheit
Mythen sind jenseits von wahr und falsch. Sie leben davon, dass Menschen an sie glauben
und werden mehr oder weniger unverändert von Generation zu Generation weitergegeben.
Mythen prägen selbst im Zeitalter der evidenzbasierten Medizin in vielen Fällen die
Vorstellungen von präoperativer Nüchternheit. So bedingen sie – aus unberechtigter
Sorge vor erhöhten Aspirationsrisiken – das Absetzen oder die unnötige Verzögerung
von operativen Eingriffen.
In den nachfolgend dargestellten klinischen Untersuchungen werden verschiedene Lebens-
und Genussmittel hinsichtlich der perioperativen Risiken verglichen. Das tatsächliche
Aspirationsrisiko ist multifaktoriell bedingt und nicht unmittelbar messbar. Daher
beruhen die vorliegenden Empfehlungen zumeist auf den Vergleichen des gastralen Residualvolumens
und des pH-Werts des Magensekrets als entsprechende Surrogatparameter.
Nahrungskarenz
Vor elektiven operativen Eingriffen werden Nahrungskarenzen von 2 (klare Flüssigkeiten)
bzw. 6 Stunden (feste Nahrung) empfohlen [1], [2], [3]. Diese Nüchternzeiten beruhen auf einer Risikoabwägung. Einerseits ist ein zeitliches
Mindestintervall erforderlich, um eine ausreichende Magenentleerung zu ermöglichen
mit dem Ziel, das Aspirationsrisiko zu reduzieren. Andererseits sollte jedoch beachtet
werden, dass eine fehlende Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme neben einem z. T. erheblichen
Unwohlsein durch Hunger und Durst auch zu katabolen Stoffwechsellagen führen kann.
Insbesondere in Kombination mit dem physiologischen Stress einer Operation können
hierdurch eine gesteigerte Insulinresistenz, ein vermehrter Proteinabbau und eine
Muskelschwäche verursacht werden.
Cave
Aus Sorge vor einer Aspiration wird häufig außer Acht gelassen, dass Nüchternzeiten,
die über die empfohlenen Intervalle hinausgehen, ebenfalls die Sicherheit der Patienten
gefährden können.
Es hat sich wiederholt gezeigt: Verlängerte Fastenintervalle – wie „nil per os“ ab
Mitternacht – haben keinen vorteilhaften Einfluss auf das gastrale Residualvolumen,
den pH-Wert des Magensekrets oder das Aspirationsrisiko. Im Gegenteil: Eine Flüssigkeitsaufnahme
scheint die Magenperistaltik anzuregen. So ist das gastrale Residualvolumen nach kurzem
Fastenintervall (2 Stunden) zum Zeitpunkt des Anästhesiebeginns nachweislich niedriger
als bei Patienten, die die komplette Nacht nüchtern geblieben sind [4]. Dennoch gaben nur 34% der Teilnehmer einer deutschlandweiten Umfrage im stationären
und ambulanten Sektor an, dass die aktuell empfohlenen Nüchternzeiten regelhaft eingehalten
werden [5]. Zumeist sind die tatsächlichen Fastenintervalle aufgrund organisatorischer Mängel
(z. B. unzuverlässige OP-Planung, unzureichende Kommunikation) oder missverstandener
Einschätzungen des Aspirationsrisikos verlängert.
Die gezielte Zufuhr von Nährstoffen durch kohlenhydrathaltige Flüssigkeiten kurz vor
Anästhesiebeginn ist zur Aufrechterhaltung der perioperativen Stoffwechselhomöostase
häufiger Bestandteil von ERAS- (enhanced recovery after surgery) bzw. Fast-Track-Konzepten.
Die bisherigen Studienergebnisse sind noch unzureichend, um dieses Vorgehen abschließend
zu bewerten. Jedoch ist es unstrittig, dass ungerechtfertigt lange Nüchternzeiten,
insbesondere „nil per os“ ab Mitternacht, eine potenzielle Gefährdung der Patientensicherheit
darstellen.
Kaffee und Orangensaft
Der Magen benötigt nach der Aufnahme klarer Flüssigkeiten 12 – 15 Minuten, um 50%
des Volumens zu entleeren. In Anbetracht dieser Tatsache scheint ein 2-stündiges Fastenintervall
mehr als ausreichende Sicherheitsreserven zu bieten [6], [7].
Während die Aufnahme klarer Flüssigkeiten als vergleichsweise unkritisch angesehen
wird, bestehen bei Kaffee und bei Orangensaft als kohlenhydrathaltigem Getränk häufig
Sorgen vor erhöhter Azidität oder verzögerter Magenentleerung. Der Vergleich von Patienten,
die bis 2 Stunden vor Anästhesiebeginn eine Tasse Kaffee bzw. ein Glas Orangensaft
zu sich nahmen, und Patienten, die die komplette Nacht fasteten, zeigte jedoch: Kaffee
oder Orangensaft hatten keinen Einfluss auf das gastrale Residualvolumen oder den
pH-Wert [4], [8].
Info
Fruchtfleisch in Säften
In den zur präoperativen Aufnahme von Orangensaft vorliegenden Studien werden jedoch
keine Angaben zum Fruchtfleischgehalt der verwendeten Orangensäfte gemacht. Auch fehlen
bislang Untersuchungen zur Frage, ob die Magenentleerung in Abhängigkeit von dem Fruchtfleischgehalt
verzögert wird. Daher sollte für fruchtfleischhaltige Säfte bis zur Klärung dieser
Frage ein 6-stündiges Nüchternheitsintervall eingehalten werden.
Milch im Kaffee
Fettreiche Lebensmittel können die Magenentleerung verzögern. Deshalb wird in den
aktuellen Empfehlungen der DGAI (Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin),
der ESA (European Society of Anaesthesiology) und der ASA (American Society of Anesthesiologists)
zu präoperativer Nüchternheit explizit darauf hingewiesen: Das 2-stündige Fastenintervall
für Flüssigkeiten gilt nicht für Milch [1], [2], [3]. Da Milch bei der Einnahme größerer Mengen im Magen gerinnt, ist tatsächlich davon
auszugehen, dass die Magenpassage ähnlich wie bei fester Nahrung langsamer erfolgt.
Jedoch scheint dieser Effekt für die Beimengung geringer Milchmengen zu anderen Getränken,
wie Kaffee, keine klinische Relevanz zu besitzen. Es konnte gezeigt werden, dass ein
Milchzusatz von bis zu 50% in einem Kaffee keinen Einfluss auf das gastrale Residualvolumen
nach 2 Stunden hat [9]. Folglich erscheinen die Empfehlungen der Fachgesellschaften hinsichtlich des Verbots
der präoperativen Aufnahme geringer Milchmengen übermäßig restriktiv, und es scheint
angeraten, diese Vorgaben zu überarbeiten.
Merke
Aktuelle Studienergebnisse stellen das kategorische Verbot der Aufnahme milchhaltiger
Getränke (bis zu einem Milchanteil von 50% des Gesamtvolumens) bis 2 Stunden vor Anästhesiebeginn
infrage.
Alkoholkonsum
Ein strenges präoperatives „Nüchternheitsgebot“ gilt im wörtlichen Sinne für den Konsum
alkoholhaltiger Getränke. Die übliche Magenentleerung von Flüssigkeiten wird erheblich
verzögert durch
-
den hohen Kaloriengehalt,
-
die gesteigerte Osmolarität und
-
im Fall von Bier und Wein den zusätzlichen Einfluss nicht alkoholischer Nebenprodukte
aus Gärungsprozessen [7], [10].
Die Halbwertszeiten zur Magenentleerung von Bier (39 min) und Wein (73 min) liegen
um ein Vielfaches über der von Wasser (12 – 15 min). Folglich sollte bei einer akuten
Alkoholingestion die Indikation zur Rapid Sequence Induction großzügig gestellt werden.
Die alkoholbedingte Verzögerung der Magenentleerung bei der zusätzlichen Aufnahme
fester Nahrung hingegen ist weniger stark ausgeprägt. Dennoch wird die Halbwertszeit
der Magenentleerung eines hochkalorischen Nudelgerichts im Vergleich zu Wasser (131 min)
durch Bier (163 min) und Wein (186 min) verlängert [10]. Hier könnte selbst ein 6-stündiges Fastenintervall noch unzureichend sein, um eine
vollständige Magenentleerung sicherzustellen.
Rauchen
Neben den schädlichen Langzeitfolgen des Rauchens, wie kardiovaskuläre, pulmonale
und karzinomatöse Erkrankungen, hat der Nikotinkonsum auch unmittelbaren Einfluss
auf die perioperative Morbidität und Mortalität (s. „Info – Perioperative Risiken“).
Info
Perioperative Risiken
Erhöht sind bei aktiven Rauchern die Odds-Ratios (OR) für
-
perioperative Pneumonien (OR = 2,1),
-
Notwendigkeit einer maschinellen Nachbeatmung (OR = 1,5),
-
Herzinfarkt (OR = 1,8),
-
Herzstillstand (OR = 1,6),
-
Schlaganfall (OR = 1,7),
-
Wundinfektionen (OR = 1,4),
-
Sepsis (OR = 1,3)
-
Tod (OR = 1,4) [11].
Zweifelsohne kann das Prämedikationsgespräch die Möglichkeit bieten, Patienten über
die schädigenden Einflüsse des Rauchens und die gesteigerten perioperativen Risiken
aufzuklären und Optionen zur Raucherentwöhnung aufzuzeigen. Allerdings ist eine kurzfristige
Nikotinkarenz unzureichend, um perioperative Risiken effektiv zu senken. Vorteilhafte
Effekte der Rauchabstinenz treten erst verzögert auf: Normalisierung der Bronchoreaktivitiät
(bis 4 Wochen), verminderte Sputumproduktion (2 – 6 Wochen), reduzierte pulmonale
Morbidität (8 Wochen) sowie reduziertes Infarktrisiko (2 – 3 Jahre) [12].
Dennoch sind strikte präoperative Rauchverbote aus Sorge vor einem erhöhten Aspirationsrisiko
verbreitet: Nikotinkonsum soll die Produktion von saurem Magensaft steigern, die Magenentleerung
verzögern und eine Tonusminderung des unteren Ösophagussphinkters induzieren. Hierfür
fehlt jedoch eine Evidenzgrundlage. Bei chronischen Rauchern hat eine nächtliche Nikotinkarenz
nachweislich keinen Einfluss auf das gastrale Residualvolumen oder den pH-Wert des
Magensafts [13]. Anzeichen einer minimal verzögerten Magenentleerung wurden in kleinen Kollektiven
lediglich für feste Nahrung detektiert [13]. Nikotinhaltige Kaugummis haben ebenfalls keinen Einfluss auf das gastrale Residualvolumen
[14]. Rauchen reduziert messbar den Ösophagussphinktertonus, jedoch dauert dieser Effekt
nur 5 – 8 min an [13]. Folglich ist der Effekt des präoperativen Nikotinkonsums hinsichtlich des Aspirationsrisikos
zu vernachlässigen.
Dennoch kann bei speziellen Patientengruppen eine kurzfristige Nikotinkarenz sinnvoll
sein. Rauchen steigert die CO-Hämoglobin-Konzentration im Blut, die bei Patienten
mit koronarer Herzkrankheit (KHK) mit dem Risiko für intraoperative Myokardischämien
korreliert [15]. Da die CO-Elimination erst nach 2 – 5 Stunden abgeschlossen ist, wird für KHK-Patienten
eine Rauchabstinenz von 12 bis 48 Stunden empfohlen [1].
Bei einer kurzfristigen präoperativen Rauchabstinenz (Tage bis wenige Wochen) wird
teilweise befürchtet: Durch eine vermehrte Sputumproduktion bei reduziertem Hustenreflex
und bronchialer Hyperreaktivität könnte es zunächst zu einem paradoxen Anstieg der
perioperativen pulmonalen Risiken kommen. Vereinzelte Untersuchungen mit verschiedenen
methodischen Schwächen berichten über entsprechende Beobachtungen. Dennoch zeigt sich
in der Zusammenschau aller bisherigen Studien, dass es für diese Befürchtungen keine
verlässliche Evidenzgrundlage gibt [16]. Die meisten vorteilhaften Effekte der Nikotinkarenz treten zwar erst verzögert
auf – trotzdem kann auch eine unmittelbar präoperativ eingeleitete Abstinenz die Gewebeoxygenierung
steigern und zudem einen ersten Schritt zur langfristigen Raucherentwöhnung darstellen.
Merke
Eine präoperative Nikotinkarenz kann intraoperative Risiken für KHK-Patienten reduzieren.
Sie hat jedoch keinen relevanten Einfluss auf das Aspirationsrisiko.
Kaugummikauen
Bei präoperativem Genuss von Kaugummi wird befürchtet, dass das Aspirationsrisiko
durch eine gesteigerte Azidität des Magensekrets und ein erhöhtes gastrales Residualvolumen
ansteigt. Ein Einfluss auf die Azidität des Magensafts konnte nicht nachgewiesen werden,
jedoch steigt das gastrale Flüssigkeitsvolumen durch Kaugummikauen an. Dieser Effekt
ist unabhängig davon, ob es sich um zuckerhaltigen oder zuckerfreien Kaugummi handelt.
Auch wenn dieser Unterschied statistisch signifikant ist, ist die Relevanz für das
tatsächliche Aspirationsrisiko unklar. Denn in Bezug auf die absoluten Sekretmengen
handelt es sich um kleine Unterschiede (gastrales Flüssigkeitsvolumen in ml/kgKG;
kein Kaugummi = 0,27; Kaugummi = 0,48) [14]. Bei einen 75 kg schweren Patienten würde der präoperative Kaugummigenuss das gastrale
Flüssigkeitsvolumen demnach lediglich um 16 ml steigern (20 ml vs. 36 ml). Diese Differenz
ist in Anbetracht einer täglichen Magensaftproduktion von 2000 – 3000 ml zu vernachlässigen.
Folglich sollte ein präoperativer Kaugummigenuss keine Rechtfertigung für das Absetzen
eines Eingriffs darstellen.
Cave
Die klinische Relevanz des durch Kaugummikauen gesteigerten gastralen Flüssigkeitsvolumens
ist nicht abschließend geklärt.
Kernaussagen
-
Die Aufnahme klarer Flüssigkeiten (einschließlich Kaffee und Orangensaft ohne Fruchtfleisch)
bis 2 Stunden vor Anästhesiebeginn ist unproblematisch.
-
Entgegen den Empfehlungen der Fachgesellschaften scheint die Aufnahme von milchhaltigen
Getränken (bis 50% des Gesamtvolumens) in geringen Mengen unbedenklich zu sein.
-
Alkoholhaltige Getränke können die Magenentleerung erheblich verzögern.
-
Unmittelbar präoperativer Nikotinkonsum hat keinen Einfluss auf das Aspirationsrisiko,
jedoch kann eine kurzfristige Nikotinabstinenz bei Patienten mit KHK das Risiko für
intraoperative Myokardischämien reduzieren.
-
Kaugummikauen hat keinen Einfluss auf den pH-Wert des Magensafts, jedoch wird das
gastrale Flüssigkeitsvolumen geringfügig gesteigert.
-
Das Absetzen von Operationen aufgrund von präoperativem Kaugummikauen des Patienten
ist – trotz gesteigerten gastralen Flüssigkeitsvolumens – nicht gerechtfertigt.