Pneumologie 1999; 53(9): 459-463
DOI: 10.1055/s-1999-9038
ORIGINALARBEIT
Georg Thieme Verlag Stuttgart ·New York

Überlegungen zur neuen Berufskrankheit Nr. 4111

Ohne jeden vernünftigen Zweifel leidet Herr X. seit Mitte der 70er Jahre an einer chronischen obstruktiven Bronchitis und Herr Y. an einem LungenemphysemReflections on the New Occupational Disorder No. 4111:U. Smidt
  • Institut für Arbeitsmedizin, Moers
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Prof. Dr. med. Udo Smidt

Institut für Arbeitsmedizin

Filderstr. 133

D-47447 Moers

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Publication Date:
31 December 1999 (online)

 
Table of Contents #

Zusammenfassung:

Die sichere Diagnosestellung einer chronischen obstruktiven Bronchitis bzw. eines Lungenemphysems im Rahmen der neuen Berufskrankheit Nr. 4111 birgt viele Schwierigkeiten, die hier dargestellt werden.

Without reasonable doubt Mr. X. suffers from a chronic obstructive bronchitis and Mr. Y. from pulmonary emphysema. With relation to the new occupational disease no. 4111 the safe diagnosis of chronic obstructive bronchitis and of pulmonary emphysema is very difficult. The various aspects are described here.

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Einleitung

Die aktuelle und mehr noch die retrospektive Diagnosestellung der neuen Berufskrankheit Nr. 4111 „Chronische obstruktive Bronchitis oder Lungenemphysem von Bergleuten unter Tage im Steinkohlenbergbau ...” ist eine äußerst schwierige ärztliche Aufgabe, zumal das Sozialrecht für die Diagnose nicht nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit, sondern Gewißheit - ohne vernüftige Zweifel - fordert (Schönberger et al. 1998).

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Zur Diagnose einer chronischen obstruktiven Bronchitis

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Leidet Herr X. an einer chronischen obstruktiven Bronchitis?

Herr X. hat angegeben, daß er Mitte der 70er Jahre erstmals Husten/Auswurf/Atemnot bemerkte (genauer ist das den Akten nicht zu entnehmen). 1975 wurde im Rahmen einer Silikose-Überwachungsuntersuchung ein Vitalogramm aufgezeichnet, wobei FVC 84% des Sollwertes und FEV1 83% des Sollwertes betrugen. Laut Unterlagen der Bundesknappschaft war er 1976 und 1978 jeweils drei Tage unter der Diagnose Bronchitis arbeitsunfähig krank. In einem weiteren Vitalogramm von 1991 betrug FVC 91% des Sollwertes, FEV1 87%. Der Hausarzt teilt 1997 anhand seiner Aufzeichnungen mit, daß er Herrn X. seit 1970 kennt und von 1992 bis 1993 Sekretolytika verordnet habe und seit 1996 durchgehend β2-Sympathomimetika. Er fügt das Protokoll einer Lungenfunktionsprüfung von 1994 bei. Zu diesem Zeitpunkt war die ganzkörperplethysmographisch bestimmte Resistance mit 0,28 kPa · s/l normal, ebenso FVC und FEV1. Im Jahr 1997 wurden für diese Parameter deutlich pathologische Werte gemessen.

Das Sozialgericht fragt nun: „Seit wann besteht bei Herrn X. mit Gewißheit eine chronische obstruktive Bronchitis?”

Nicht jeder Fall ist so schwierig wie dieser, aber er wird hier als Beispiel aufgeführt, um daran die auftretenden diagnostischen Probleme zu erläutern. Ähnlich kann es beim Lungenemphysem aussehen.

Im Merkblatt zur Berufkrankheit Nr. 4111 (Bundesarbeitsblatt 12/1997) wird für die Diagnosestellung einer chronischen Bronchitis die WHO-Definition von 1961 empfohlen, d.h. Husten und Auswurf an den meisten Tagen je dreier Monate in zwei aufeinanderfolgenden Jahren. Für das Lungenemphysem gilt die Definition einer irreversiblen Erweiterung der Atemwege jenseits der terminalen Bronchiolen (CIBA Guest Symposium, 1959). Laut Anweisung der Bergbau-Berufsgenossenschaft soll sich die Emphysemdiagnose auf röntgenologische oder morphologische und, wenn möglich, funktionsanalytische Befunde stützen.

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Kriterien einer Bronchitis, ihrer Chronizität und der Obstruktion

Chronische Erkrankungen gelten allgemein als lebenslänglich. Aber mit welchem Recht? Kann man nicht auch zwar langzeitig, aber dennoch nicht für immer an einer Krankheit leiden? Ist es vorstellbar, daß jemand chronischer Bronchitiker war, aber nicht mehr ist? Eine chronische Hepatitis kann unter Narbenbildung ihre entzündliche Aktivität verlieren, eine chronische Nagelmykose kann sogar narbenlos heilen. Die chronische Bronchitis ist „nur” dadurch definiert, daß über zwei Jahre während mindestens je drei Monaten an den meisten Tagen Husten und Auswurf bestehen/bestanden (WHO, 1961).

Wenn in der neuen Berufskrankheitenverordnung die Krankheit als chronische obstruktive Bronchitis bezeichnet ist, so muß man sich darüber klar sein, daß hier ein entzündliches Geschehen (...itis), eine funktionelle Komponente (obstruktiv) und eine anamnestische Komponente (chronisch) zusammenkommen müssen.

Und diese Medaille hat auch noch zwei Seiten: schraubt man die Anforderungen an die Diagnosestellung sehr hoch, so wird kaum ein Bergmann in den Genuß einer Rente kommen. Setzt man sie niedrig an, dann wird ebenfalls kaum ein Bergmann zu berenten sein, weil dann um so häufiger der Eintritt des Versicherungsfalles schon vor dem 1. 1. 1993 zu konstatieren ist, und das heißt: nicht anerkennungsfähig.

Nowak hat kürzlich in einem Konsenspapier der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin (1999) darauf hingewiesen, daß die WHO-Definition der chronischen Bronchitis für epidemiologische Fragestellungen gut, jedoch für den konkreten Versicherungsfall nur wenig geeignet sei. Nowak möchte die Diagnose einer chronischen obstruktiven Bronchitis auf die Symptome Husten und/oder (in aller Regel behandlungsbedürftige) Atemnot bzw. charakteristische Auskultationsbefunde wie Giemen und Brummen stützen, während die Angabe von Auswurf nicht in gleicher Weise relevant sei. Im übrigen komme der Lungenfunktionsprüfung eine besondere Bedeutung zu.

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Feststellung einer Bronchitis

Streng genommen, kann man eine Bronchitis nur mittels Bronchoskopie nachweisen, aber diese ist nicht duldungspflichtig. Dies muß aber den Arzt nicht zwingen, die Diagnose Bronchitis ohne Bronchoskopie zu stellen. Die Beweispflicht für das Vorliegen einer Erkrankung liegt bekanntlich bei dem Betroffenen. So wird man manchmal dem Betroffenen klar machen müssen, daß man ohne diese Untersuchungsmethode nicht zu einer sicheren Diagnose kommen kann. Vielleicht läßt sie sich in Zukunft durch eine biochemisch-mikroskopische Analyse des Atemkondensates in dieser Hinsicht ersetzen (Becher et al. 1998).

Husten kann bekanntlich viele Ursachen haben, Atemnot erst recht. Giemen und Brummen sprechen für eine Obstruktion, können aber auch fehlen. Auswurf ist ein klares Symptom einer vermehrten Schleimproduktion, also in aller Regel einer Bronchitis, aber Auswurf kann bei atrophischer Bronchitis fehlen oder ein Patient verneint das Symptom, weil er nicht „auswirft”, sondern das Sekrekt herunterschluckt. Das vermehrte Bronchialsekret wird erst durch Husten zum „Auswurf”. Auf anamnestische Angaben, die auf eine vermehrte bronchiale Schleimproduktion hinweisen, wird man deshalb zur Diagnosestellung einer Bronchitis nicht verzichten können, wenn kein bronchoskopischer Befund vorliegt. Wenn der Patient Husten bejaht, aber Auswurf verneint, muß man ihn befragen, ob denn der Husten trocken ist oder ob „etwas hochkommt”, was er verschluckt. Auch dann ist man wohl berechtigt, eine Bronchitis „ohne vernüftige Zweifel” anzunehmen. (Daß dahinter auch ein Bronchialkarzinom stecken kann, steht auf einem anderen Blatt.)

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Feststellung der Chronizität

Die Frage der Chronizität läßt sich nicht präzise beantworten. Zwei Jahre mögen dem einen zu kurz, dem anderen zu lang erscheinen. Zwei Jahre sind aber wohl doch ein vernünftiger Kompromiß. Viel fragwürdiger ist, warum - laut WHO - diese Symptome nur während mindestens je dreier Monate bestanden haben sollen. Das könnte man ebenso gut als Argument gegen eine Chronizität auslegen. Praktisch stellt sich diese Frage kaum, da ein Bergmann, wenn er von Husten und Auswurf berichtet, diese Symptome so gut wie immer ganzjährig angibt, wenn auch mit jahreszeitlichen Schwankungen, wobei die Wintermonate durchaus nicht immer im Vordergrund stehen. Man kann aber aus solchen Angaben nur schließen, daß derzeit eine chronische Bronchitis besteht. Wenn diese Symptome vor 5 Jahren bestanden, muß heute nicht zwangsläufig auch noch eine chronische Bronchitis vorliegen - wie weiter oben dargelegt. Und wenn aus den Akten entsprechende Symptome in den früheren Jahren ersichtlich sind, muß keine Kontinuität bis zum heutigen Tag vorliegen. Schon durch diese Definition ergibt sich die Frage, ob diese Krankheit denn auch weiter besteht, wenn Husten und Auswurf nicht weiter bestehen. Schwankungen kommen durchaus vor, wie z. B. die Längsschnittstudie der Deutschen Forschungsgemeinschaft gezeigt hat. Dort hat sich bei Nachuntersuchungen nach fünf Jahren gezeigt, daß die Symptome, die bei der Erstuntersuchung zu dieser Diagnose geführt hatten, nach fünf Jahren in ca. einem Drittel der Fälle nicht mehr vorhanden waren (Verfürth et al., 1980). Bei einer Untersuchung von Petty et al. (1976) an 179 Probanden waren es sogar 50 %, in einer Studie von Sharp et al. (1973) an 1263 Männern bis zu 84 %. An Silikosekranken wurde Ähnliches beobachtet (Smidt et al. 1977). Die silikotischen Veränderungen selbst sind irreversibel (Ausnahme Schwielenzerfall, aber dann tritt Narbengewebe an ihre Stelle).

Bronchietasen sind irreversibel, eine Bronchitis nicht - wie jede „Grippe” zeigt. Erst wenn die Hyperplasie der Bronchialschleimhaut in eine Atrophie übergeht, sind die Veränderungen irreversibel. Aber dann endet auch die Hyperkrinie und somit der Auswurf.

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Feststellung des obstruktiven Charakters

Ob eine Atemwegsobstruktion vorliegt oder nicht, wird man heute nicht ohne die Ergebnisse einer Lungenfunktionsprüfung beurteilen. In aller Regel wird man eine ganzkörperplethysmographisch bestimmte Resistance von > 0,35 kPa · s/l für die Diagnose einer Obstruktion verlangen. Besser noch nähme man die spezifische Resistance (sR), also das Produkt aus Resistance und intrathorakalem Gasvolumen, weil man auf diese Weise die Verfälschungen durch ein anomal großes oder kleines intrathorakales Gasvolumen ausschaltet. Eine Resistance von z. B. 0,38 kPa · s/l hat bei einem normalen intrathorakalen Gasvolumen von z. B. 3 Liter (ergibt sR = 3 · 0,38 = 1,14 kPa · s) einen anderen Stellenwert als bei einem intrathorakalen Gasvolumen von 2 Liter (sR = 2 · 0,38 = 0,76 kPa · s). Im ersteren Fall ist eine Obstruktion anzunehmen, im letzteren nicht. Für sR hat sich ein Grenzbereich von 0,9 - 1,1 kPa · s bewährt, für R ein solcher zwischen 0,3 und 0,35 kPa · s/l. Liegt die (spezifische) Resistance im Grenzbereich, wird man weitere LF-Parameter zur Entscheidung mit heranziehen. Die Impuls-Oszillometrie hat sich uns hier inzwischen sehr bewährt. Wenn die oszillatorisch bei 5 Hz gemessene Resistance über 0,45 kPa · s/l beträgt, verifiziert dies den Verdacht auf eine Obstruktion, die sich dann meistens in der peripheren Resistance (Rp) deutlicher zeigt als in der zentralen (Rz). Die spirometrischen Größen (FEV1 und MEF-Werte) sollte man im Rahmen der Begutachtung nur mit heranziehen, wenn die Werte bei dreimaliger Messung um nicht mehr als 10 % streuen.

Ob eine so festgestellte Atemwegsobstruktion im Zusammenhang mit einer chronischen Bronchitis zu sehen ist oder nicht, ist eine getrennte Frage.

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Sicherheit der Diagnose einer chronischen obstruktiven Bronchitis

Nicht selten stehen Patienten unter der Einwirkung atemwirksamer Medikamente, was das Bild verschleiern kann. Wir teilen den Patienten im Einladungsschreiben zur gutachtlichen Untersuchung mit, daß sie - nach Rücksprache mit ihrem Hausarzt - am Morgen des Untersuchungstages möglichst auf die Einnahme atemwirksamer Medikamente zunächst verzichten sollen. Wenn ein Patient meinte, dies nicht zu können, aber dennoch bei ihm eine normale Resistance gemessen wird, mag man sich fragen, ob solche Medikamente überhaupt indiziert sind. Falls er auch kortisonhaltige Medikamente nimmt, deren Wirkung länger anhält, empfehlen wir eine Kontrollmessung nach mehrtägiger Pause.

Prinzipiell genügt aber der einmalige Nachweis einer Obstruktion (wenn nicht andere Ursachen wie z. B. ein akuter Infekt oder die Einnahme von β-Blockern zu vermuten sind), nicht aber der einmalige Nicht-Nachweis, falls ein Medikamenteneinfluß möglich ist.

Viel schwieriger ist die Stellung der Diagnose einer chronischen obstruktiven Bronchitis für die Vergangenheit, wenn keine Daten von früheren Lungenfunktionsprüfungen vorliegen. Eine längerfristige Verordnung von β-Sympathomimetika und/oder kortikoidhaltigen Medikamenten kann dann ein Ersatz sein. Angesichts von einigen Fällen, die heute bei mehrtägiger Unterbrechung solcher Medikation dennoch keine Obstruktion zeigen, sollte man hier aber sehr vorsichtig sein. Begann die Medikation vor dem 1. 1. 1993, könnte eine Berentung ungerechtfertigt sein, begann sie nach dem 31. 12. 1992, könnte die Verweigerung der Berentung zu einem späteren Zeitpunkt genauso ungerechtfertigt sein.

Frühere Arbeitsunfähigkeitszeiten, Kuren oder gar Krankenhausaufenthalte wegen Atemwegserkrankungen sind ein gewichtiges Indiz. Man sollte sich aber bewußt sein, daß die Diagnosestellung anhand solcher Daten „ohne vernüftige Zweifel” geschehen muß.

Das Symptom Atemnot ist völlig wertlos, wenn es nicht näher spezifiziert ist. Jeder Gesunde gerät „außer Atem”, wenn er sich sehr anstrengt. Im Krankheitsfall kann eine Atemnot sehr viele Ursachen haben: auch Trainingsmangel, Herzerkrankungen, Lungenemphysem oder anderweitige Lungenerkrankungen, starke Adipositas usw. In den Aktenunterlagen findet man auch so gut wie nie eine genauere Graduierung, ob z. B. nach Ersteigen von einer oder drei Treppen. Nach unserer Erfahrung berichten 99 von 100 Bergleuten bei gutachtlichen Untersuchungen von Atemnot. Ganz anders ist dies z. B. bei Patienten, die asbestexponiert waren und weniger eine Rente erhoffen als vielmehr eine asbestbedingte Erkrankung befürchten. Solange eine Berufskrankheit Nr. 4103 nicht anerkannt ist, wird wesentlich seltener über Atemnot geklagt. Damit soll der Bergmann nicht der Aggravation bezichtigt werden, aber er weiß, daß seine Silikose oder Bronchitis oder Emphysem zwar beeinträchtigend, aber kaum tödlich sind, während der Asbestexponierte einen Krebs befürchtet und auf diesen und die Rente lieber verzichtet.

Hausärztliche Angaben über die Verordnung von Sekretolytika sind nicht ausreichend, um einer chronischen Bronchitis einen obstruktiven Charakter zuzuschreiben. Wenn es sich um eine längerfristige Verordnung von β-Sympathomimetika oder gar Kortison handelt, hat dies ein großes Gewicht, sollte aber durch den aktuellen Nachweis einer Obstruktion verifiziert werden, denn es gibt leider auch Fälle, die grundlos so behandelt wurden und werden.

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Hat Herr X. nun eine chronische obstruktive Bronchitis?

In der Mitte der 70er Jahre mag er eine chronische Bronchitis gehabt haben, da er Husten/Auswurf/Atemnot bejaht hat - wenn auch ohne Spezifikation. Die kurzen Arbeitsunfähigkeiten sprechen gegen den chronischen Charakter einer Bronchitis. Ob die einmalig etwas verminderten Werte von FVC und FEV1 einen obstruktiven Charakter hinreichend sichern, erscheint fraglich, zumal sie 1991 fast und 1994 ganz normal waren. Wenn der Hausarzt erst 1992/93 Sekretolytika verordnete, so lag zu dieser Zeit offenbar keine Atemwegsobstruktion vor. Ob die Symptome Mitte der 70er Jahre einen Krankheitswert hatten, erscheint fraglich, da offenbar keine entsprechende medikamentöse Behandlung stattfand. Man kann sich nun zwar fragen, warum 1994 überhaupt eine Lungenfunktionsprüfung veranlaßt wurde, aber jedenfalls hatte sie kein pathologisches Ergebnis, sondern dies erst 1997. So müßte der ärztliche Gutachter bei Herrn X. zu dem Ergebnis kommen, daß bei ihm erst 1997 eine chronische obstruktive Bronchitis mit Gewißheit vorliegt.

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Lungenemphysem

Beim Lungenemphysem hat der Gesetzgeber den ärztlichen Gutachter vor eine fast unlösbare Aufgabe gestellt. Die heute weitgehend anerkannte Definition dieser Erkrankung als eine irreversible Erweiterung der Atemwege jenseits der terminalen Bronchiolen (durch Destruktion von Trennwänden und dadurch entstehender Verschmelzung mehrerer paralleler Atemwege und Alveolen), wie sie 1959 auf dem CIBA-Guest-Symposium formuliert wurde, läßt sich klinisch, konventionell-radiologisch und lungenfunktionsanalytisch zwar in deutlichen Fällen wahrscheinlich machen, aber kaum je „ohne vernünftige Zweifel”. Man liest diese Diagnose in älteren Befundberichten recht häufig, gestellt anhand von konventionellen Röntgenaufnahmen oder eines vergrößerten Residualvolumens oder intrathorakalen Gasvolumens. Schon die Erfahrung, daß beim nächsten Röntgenbefund oder bei der nächsten Lungenfunktionsprüfung diese Diagnose oft nicht gestellt wurde, zeigt die Fragwürdigkeit, ob hier wirklich eine irreversible Erweiterung der peripheren Atemwege vorliegt.

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Emphysem ist nicht gleich Emphysem

Es gibt bekanntlich verschiedene Formen des Lungenemphysems: das zentrilobuläre (zentroazinäre), das panlobuläre (panazinäre), das auf den Lungenmantel begrenzte Mantelemphysem, das Traktionsemphysem, das Narbenemphysem, das perifokale Emphysem, das bullöse Emphysem und noch einige mehr. Bei der Berufskrankheit Nr. 4111 geht es um das staubbedingte Emphysem. Ein solches ist nach Ansicht von Otto (zit. bei Smidt, 1998) morphologisch nicht von anders verursachten Emphysemen zu differenzieren. Zumindest kann man aber - wie bei der Silikose und der Asbestose - erwarten, daß es beidseitig besteht. Eine einzelne Emphysemblase kann man deshalb nicht als staubbedingt ansehen und, falls sie vor 1993 vorlag, auch nicht als Erkrankungsbeginn einer Berufskrankheit Nr. 4111 bezeichnen, genausowenig einen Pneumothorax mit einer pathologisch-anatomischen lokalen Diagnose eines Emphysems.

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Leidet Herr Y. an einem Lungenemphysem?

Bei Herrn Y. ist 1981 anhand einer Lungenübersichtsaufnahme im p.a.-Strahlengang ohne nähere Befundung ein Lungenemphysem genannt. Herr Y. hat von Atemnot seit Mitte der 80er Jahre berichtet. Anhand einer weiteren Lungenübersichtsaufnahme 1989 wurde kein Emphysem beschrieben, aber es wurde ein intrathorakales Gasvolumen von 124 % des Sollwertes festgestellt und 1992 ein solches von 103 %. Ein 1998 angefertigtes Thorax-CT zeigt eine Emphysemblase im ventralen Teil des rechten Lungenunterfeldes.

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Diagnostik eines Lungenemphysems

Konventionelle Röntgenaufnahmen sind zur Emphysemdiagnose nur geeignet, wenn sie in einer optimalen und auf diese Diagnose gerichteten Technik und nicht zu großen Härte angefertigt wurden und im p.a.- und im seitlichen Strahlengang vorliegen. Die klassischen Kriterien - abgeflachte, tiefstehende Zwerchfellkuppen, vor allem im seitlichen Strahlengang, vermehrte Strahlentransparenz, insbesondere des Retrosternalraumes und/oder des Retrokardialraumes auf der Seitenaufnahme - sind bekannt. Eine Vorwölbung der Lungen in die Interkostalräume, wie sie gelegentlich als Indiz auf der seitlichen Aufnahme angenommen wurde, hat sich als Diagnostikum nicht bestätigt. Es gäbe dazu auch keinen Grund, denn die Lunge steht ja nicht unter einem Blähungsdruck.

Das lungenfunktionsanalytische Kriterium eines vergrößerten Residualvolumens oder intrathorakalen Gasvolumens ist unspezifisch, weil es auch auf einer akuten Atemwegsobstruktion beruhen kann. Nur wenn letztere nicht vorliegt, sollte man an ein Emphysem denken. Die Schwankungen dieser Parameter im Längsschnitt lassen aber auch hier Vorsicht geboten erscheinen. Spezifischer erscheint die Deformierung des Mischluftanteils exspiratorischer CO2-Partialdruckkurven, quantifiziert als Zunahme des Mischluftanteils (Vm) mit zunehmendem Atemzugvolumen (Vin). Zumindest Werte von mehr als 20 ml/l scheinen bei Patienten ohne Emphysem nicht vorzukommen (Smidt, 1997). Schwalen et al. (1996) haben auch eine gute Übereinstimmung mit anderen Emphysemkriterien gefunden. Eine breitere Prüfung wird aber erst möglich sein, wenn im Laufe dieses Jahres ein entsprechendes Gerät in den Handel kommt.

Derzeit ist die hochauflösende Computertomographie die beste Methode zur Emphysemdiagnostik. Um ein so festgestelltes Emphysem als staubbedingt ansehen zu können, muß es aber beidseitig und dort vom gleichen Typ sein. Die diagnostischen Kriterien sind noch nicht voll ausgearbeitet. In Zweifelsfällen können Aufnahmen bei In- und Exspiration weiterhelfen.

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Hat Herr Y. nun ein Lungenemphysem?

Die schlichte Vokabel „Lungenemphysem” anhand einer p.a.-Röntgenaufnahme besagt gar nichts, wenn der Gutachter diese Aufnahme nicht einsehen konnte, die pauschale Angabe von Atemnot auch nichts. Ein 1989 erhöht gemessenes intrathorakales Gasvolumen kann ein Indiz sein, falls keine Obstruktion vorlag, aber da ein Emphysem definitionsgemäß irreversibel ist, spricht ein 1992 als normal gemessenes TGV dagegen. Mit dem Thorax-CT von 1998 ist ein Emphysem in Form einer einzelnen Blase im rechten Unterfeld bewiesen, aber dies ist - wegen der Einseitigkeit - kein staubbedingtes Emphysem. Eine Anerkennung einer BK Nr. 4111 wegen eines Lungenemphysems scheidet damit aus.

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Was ist, wenn vor 1993 ein Asthma bronchiale angenommen wurde?

Nicht selten gibt es Bergleute, bei denen in jungen Jahren - weit vor 1993 - ein Asthma bronchiale diagnostiziert wurde - mit oder ohne Allergietest. Sie mögen dann mehrfach arbeitsunfähig unter dieser Diagnose gewesen sein. Aber berechtigt das, eine chronische obstruktive Bronchitis anzunehmen? Sicher nicht im Sinne der staubbedingten Bronchitis, wenn zum ersten Zeitpunkt dieser Diagnose noch gar keine Exposition gegenüber 100 Feinstaubjahren gegeben war. Es kann aber in solchen Fällen sehr schwierig sein zu sagen, ab wann eine staubbedingte chronische obstruktive Bronchitis/Emphysem hinzugetreten ist. Das Asthma bronchiale kann ein Vorschaden sein, wenn es schon vor Beginn der bergmännischen Untertagetätigkeit bestanden hat. Wenn nicht, wäre es laut Schönberger et al. (1998) mit zu entschädigen, weil man die berufsbedingten und die nicht berufsbedingten Teilursachen nicht anteilig bewerten darf, sondern nach dem „Alles-oder-Nichts-Prinzip” zu verfahren hat, wenn der berufsbedingte Faktor als wesentliche Teilursache anzusehen ist, d. h. mindestens ⅓.

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Schlußfolgerungen

Eine früher festgestellte mehrjährige Bronchitis kann zwischenzeitlich abgeklungen sein. Eine chronische Bronchitis muß nicht lebenslänglich bestehen. Da die Diagnose einer Berufskrankheit „ohne vernüftigen Zweifel” festgestellt werden muß, sind die Anforderungen sehr hoch. In der Regel sollte eine einmalige Untersuchung ausreichen, zumal für die Obstruktion keine Chronizität gefordert wird. Die Diagnose eines Lungenemphysems wird man heute ohne HRCT nur in fortgeschrittenen Fällen stellen, aber auch nur dann ist mit einer dadurch bedingten Störung des respiratorischen Gasaustausches bzw. einer Verminderung der CO-Diffusionskapazität zu rechnen, die Voraussetzung zur Annahme einer dadurch herbeigeführten Minderung der Erwerbsfähigkeit ist.

Der „Eintritt des Versicherungsfalles” ist durch die Feststellung eines „regelwidrigen Körperzustandes” definiert. Für eine Silikose mit einer Streuung 1/1 ist das klar, weil dieser Befund bei einem Nicht-Quarzstaubexponierten nicht vorkommt. Bei wievielen kleinsten - asymptomatischen - Emphysembläschen beginnt aber der „regelwidrige Körperzustand”, wo man dies doch in einem beachtlichen Prozentsatz bei „gesunden” älteren Menschen (Otto et al. 1968) findet? Ab welchem Alter ist eine Glatze kein regelwidriger Körperzustand mehr?

Erlenkämper (1999) führt dazu aus: Im Sozialrecht ist nicht jede medizinische Regelwidrigkeit, jede pathologische Abnormität schon Krankheit auch im Sinne des Sozialrechts. Zwar sind die Grenzen zwischen dem „Noch-Gesunden” und dem „Schon-Kranken” häufig fließend und gelegentlich schwer bestimmbar. Krankheit bildet im Sozialrecht aber in erster Linie Grund und Rechtfertigung für soziale Leistungen. Solche sollen und dürfen aber stets nur dort einsetzen, wo eine Bedarfssituation besteht oder droht, eine Situation also, die ohne das Eintreten der Gemeinschaft zu wirtschaftlicher Not oder sozialem Rückschritt führen würde. Krankheit gewinnt im Sozialrecht daher idR erst Bedeutung, wenn sie ein bestimmtes Ausmaß, einen bestimmten Schweregrad erreicht hat.

Deswegen sind beginnende oder sonstwie geringfügige, funktionell noch bedeutungslose pathologische Veränderungen, die mit den hochentwickelten Methoden der modernen medizinisch-technischen Diagnostik zwar schon erfaßbar sein mögen, aber noch keine „krankmachende” Bedeutung besitzen, noch keine Krankheit im Sinn des Sozialrechts. Krankheit beginnt hier i.d.R. erst, wenn der regelwidrige Zustand zu auch klinisch faßbaren Beschwerden und/oder funktionellen Beeinträchtigungen geführt hat.

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