Einleitung
Die Komorbidität von Suchtproblematik und anderen
psychiatrischen Störungen stellt in der praktischen Versorgung ein
häufiges Problem dar, da nur in den wenigsten psychiatrischen Kliniken
speziell auf diese Patientengruppe abgestimmte Versorgungsstrukturen bestehen.
Die Kasuistik dieser Patientin zeigt die Gefahren reiner Schwerpunktstationen.
Exemplarisch haben wir eine Patientin ausgewählt, die den typischen
Verlauf miteinander verflochtener Krankheitsbilder zeigt und bei der es bei
langjährig bekannter affektiver Störung erstmals um die Erarbeitung
eines integrativen Behandlungskonzeptes ging.
Kasuistik
Frau B. stellte sich erstmalig auf unserer Suchtstation mit dem
Wunsch nach einer Alkohol- und Benzodiazepinentzugsbehandlung vor. Frau B.,
eine Mitte 30-jährige Frau, wirkte erschöpft, mimisch starr und
machte einen ungepflegten Eindruck. Im Aufnahmegespräch zeigte sie sich
deutlich intoxiziert, fahrig, nervös und angespannt. Neben beginnenden
vegetativen Entzugserscheinungen standen psychopathologisch vor allem ein
deutlich niedergestimmter, freudloser und ängstlicher Affekt mit
psychomotorischer Hemmung bei gleichzeitiger innerer Unruhe im Vordergrund. Die
Patientin äußerte ausgeprägte Insuffizienzgefühle,
Existenzängste und die Befürchtung, einen Suizidversuch zu begehen.
Anamnestisch bestanden seit längerer Zeit Früherwachen und ein
ausgeprägtes Morgentief.
Seit mehr als 10 Jahren bestand eine bipolar affektive Störung,
in deren Rahmen bisher mindestens zehn depressive und fünf manische Phasen
aufgetreten waren. Frau B. hatte in depressiven Phasen zwei schwere
Suizidversuche mit Tablettenintoxikationen begangen. Bei zahlreichen
Behandlungsversuchen waren verschiedene Antidepressivagruppen,
Phasenprophylaktika, zeitweise auch Neuroleptika eingesetzt worden, daneben
Schlafentzüge und während einer sehr lange andauernden schweren
depressiven Episode auch mehrfach Elektrokrampfbehandlungen. Die Patientin
machte in einer nihilistisch wirkenden Haltung deutlich, dass keine dieser
Behandlungen wirklich geholfen hätte. Später ließ sich
eruieren, dass tatsächlich viele medikamentöse Versuche über
lange Zeiträume erfolglos geblieben waren. Nach jeder zweiten depressiven
Episode kam Frau B. - trotz Phasenprophylaxe - direkt aus der
depressiven Phase in eine Manie. In dieser Situation verließ sie das
Krankenhaus unter dem subjektiven Eindruck von Gesundheit und setzte die
Medikamente ab. Zur aktuellen Aufnahme kam die Patientin mit einer Medikation
von Fluoxetin 60 mg morgens und Lorazepam 8-10 mg zur Nacht.
Seit Beginn ihrer bipolar affektiven Störung hatte sie in
depressiven Phasen Benzodiazepine, zumeist Lorazepam, in hohen Dosierungen bis
10 mg erhalten. Bei den ausgeprägten Ängsten und
schwerwiegenden suizidalen Tendenzen, die sich therapierefraktär
gegenüber antidepressiver Medikation erwiesen, gibt die lang andauernde
Fortführung der Benzodiazepinmedikation auch einen Hinweis auf die
Hilflosigkeit der Behandler. Nach der zweiten Scheidung hatte Frau B. begonnen,
vermehrt Alkohol zu trinken, den sie gegen Gefühle des Alleinseins und der
„inneren Auflösung” einsetzte. Bei den letzten beiden
Behandlungen auf allgemeinpsychiatrischen Stationen war es zu einem
Therapieabbruch gekommen, nachdem Frau B. alkoholisiert von Ausgängen
zurückgekehrt war und eine Auseinandersetzung mit dem süchtigen
Verhalten nicht möglich erschien. Die Benzodiazepinabhängigkeit war
bisher nicht problematisiert worden. Seit ca. zwei Jahren bestand
durchgängig ein täglicher Konsum von bis zu 6 Flaschen Wein und bis
zu 10 mg Lorazepam.
Aus der biografischen Entwicklung der Patientin erscheint wichtig,
dass der Vater an einer Alkoholabhängigkeit litt, die während der
Pubertät der Patientin zur Trennung der Eltern geführt hatte. Die
Mutter reagierte auf die Trennung depressiv und ebenfalls mit einem
erhöhten Alkoholkonsum. Bis einige Jahre vor dem Aufnahmezeitpunkt war
Frau B. im Management einer großen Firma tätig gewesen. Über
lange Zeiträume war sie beruflich sehr erfolgreich, auch noch in den
ersten Jahren der psychiatrischen Erkrankung. Die Patientin war zweimal
geschieden und berichtete, dass es besonders in ihren manischen Phasen durch
gesteigerte Promiskuität zu Partnerschaftsproblemen gekommen war.
Für die Patientin erschien es bei Behandlungsbeginn
unvorstellbar, während ihrer depressiven Phase auf Benzodiazepine zu
verzichten. Die Rekonstruktion bisheriger Krankheitsphasen im biografischen
Kontext stellte für sie eine langwierige Anstrengung dar. Die Bedeutung
der Suchtmittel im Krankheitsverlauf als Selbstheilungsversuch, das damit
verbundene Nichtspüren und gleichzeitige Verschlimmern der depressiven
Symptomatik wurde für sie verstehbar. Da sie in den letzten Jahren den
Überblick über die eigene Geschichte verloren hatte, führte
diese Änderung zu einem Gefühl von Selbstgewissheit und
Selbstbestimmung. Dies gelang, je mehr der Einfluss der Benzodiazepine abnahm.
Die offene Diazepamentzugsbehandlung, ausschleichend über 10 Tage mit
einem Beginn bei 40 mg und gleichzeitiger Einstellung auf Carbamazepin
retard 800 mg zur zerebralen Anfalls- und Phasenprohylaxe, gestaltete
sich ohne Komplikationen. Die Fluoxetinmedikation wurde belassen. Obwohl Frau
B. nach unserem Eindruck in der Stimmung deutlich aufklarte, erlebte sie sich
selbst bis in die vierte Woche depressiv und von der Außenwelt
„abgeschnitten”. Suizidale Gedanken traten allerdings in den
Hintergrund. Frau B. äußerte stolz, dass sie ohne Lorazepam schlafen
könne und angstfreie Phasen erlebe. Der durch das Programm des
qualifizierten Entzuges klar strukturierte Tagesablauf schaffte ihr
Erleichterung. Positiv erlebte sie, dass Mitpatienten aktiv gegen ihre
Rückzugstendenzen angingen und sie aufforderten, am Programm teilzunehmen.
Ab der fünften Woche wirkte sie antriebsgesteigert und euphorisch, so dass
die Fluoxetinmedikation auf 20 mg erniedrigt wurde. Nun zeigte sie sich
als extrovertierte Persönlichkeit, mit dem Selbstbild einer „mitten
im Leben” stehenden Frau und ehemaligen Managerin. Sie schien sich oft
zu überschätzen und es traten Gedanken an kontrolliertes Trinken auf.
In affektiv stabilisiertem Zustand wurde die Patientin nach 6 Wochen in unsere
Tagesklinik verlegt. Während der Weiterbehandlung wurde sie zunehmend
manisch und begann gleichzeitig ein partnerschaftliches Verhältnis zu
einem alkoholabhängigen Mitpatienten. Kurze Zeit später ließ
sich die Patientin entlassen. Nach ca. achtmonatiger Abstinenz kam es im
folgenden Jahr zu zwei weiteren Aufnahmen, die Frau B. in einem affektiven
Mischzustand nach kurzer Zeit wieder abbrach. Beim letzten Aufenthalt
konsumierte sie die bereits bekannte Menge Tavor und ca. eine Flasche Wodka am
Tag.
Diskussion
Die Gabe von Benzodiazepinen als Sedativa und Anxiolytika ist bei
depressiven Patienten an der Tagesordnung und eine große Hilfe. Die
dargestellte Patientin hat erst über die hinzukommende
Alkoholabhängigkeit einen Behandlungswunsch hinsichtlich ihrer
süchtigen Verhaltensweisen entwickelt. Bei den bisherigen Behandlungen
hatte die Angst bestanden, die Benzodiazepine abzusetzen, unter der
Vorstellung, die Patientin könne dann komplett dekompensieren. Das
Gegenteil war der Fall: mit Absetzen von Lorazepam ohne Veränderung der
antidepressiven Medikation kam sie aus der Depression. Bei dem subjektiven
Empfinden der Patientin, dass Antidepressiva und Phasenprophylaktika nicht
ausreichend wirken, Benzodiazepine und Alkohol die Symptome aber wenigstens
weniger spürbar machen, zeigt sich die Gefahr des sich selbst
aufrechterhaltenden Systems zwischen Depression und süchtigem Verhalten.
Oft erscheint es in einem nicht suchtspezifischen Setting unmöglich,
depressiv-suizidalen Patienten die Benzodiazepinmedikation zu nehmen. Die klare
Regelung der Suchtstation, in jedem Fall von beiden Substanzen zu entziehen und
für das gesamte Krankheitsgeschehen ein Konzept zu erarbeiten, erbrachte
eine neue Sichtweise der Konsummuster und affektiven Veränderungen. Ohne
Benzodiazepine erlebte sich Frau B. in der Depression weniger gehemmt und
konnte an der Tagesstruktur teilnehmen. Die Wirksamkeit der Antidepressiva war
differenzierter zu spüren. Der Rückfall nach vorausgegangener Manie
legt den Verdacht nahe, dass sie mit dem geregelten Alltag nicht zurecht kam
und einen in diesem Fall suchtähnlich zu verstehenden „Kick”
in der Manie gesucht hat.
Einige Leitgedanken lassen sich hieraus ableiten:
-
besonders bei komorbider Benzodiazepinabhängigkeit besteht
die Gefahr, suchttherapeutische Aspekte gegenüber der Behandlung der
Grunderkrankung zu vernachlässigen
-
am Beginn der Behandlung muss der Fokus auf der im Vordergrund
stehenden bzw. bedrohlichsten Symptomatik liegen, die „andere
Störung” darf nicht außer Acht gelassen werden
-
komorbide Patienten erfordern ein hohes Maß an
Flexibilität bei gleichzeitig notwendiger klarer Struktur (in diesem Fall
Ausweitung der Zeit für den qualifizierten Entzug und die
Motivationsbehandlung)
-
wo spezielle Strukturen für die Behandlung von
Komorbidität fehlen, sollte eine enge Kooperation zwischen den
diagnosespezifischen Einheiten möglich sein (Settingwechsel)