Suchttherapie 2000; 1(1): 41-42
DOI: 10.1055/s-2000-13127
Kasuistik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ein integratives Behandlungskonzept bei einer benzodiazepin- und alkoholabhängigen Patientin mit bipolar affektiver Störung

An Integrated Treatment Concept for a Patient with Benzodiazepine and Alcohol Addiction and Bipdar Affective DisorderPeer Briken, Rüdiger Holzbach
  • Klinik für Psychiatie und Psychotherapie der Universität Hamburg
Weitere Informationen

Dr. med. Peer Briken

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Universität Hamburg

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
31. Dezember 2000 (online)

Inhaltsübersicht #

Zusammenfassung

Es wird der Verlauf einer Patientin mit einer langjährigen bipolar affektiven Störung dargestellt, die zusätzlich eine Benzodiazepin-, später eine Alkoholabhängigkeit entwickelt hat. Die Erarbeitung eines integrativen Behandlungskonzeptes unter besonderer Berücksichtigung der Benzodiazepinabhängigkeit stellt sich mit einigen Besonderheiten dar. Aus dem Fall ableitend werden einige Leitgedanken formuliert.

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An integrated treatment concept for a patient with benzodiazepine and alcohol addiction and bipdar affective disorder

We show the course of a patient with a longlasting bipolar affective disorder, who consecutive developed a benzodiazepine and alcohol addiction. The elaboration of an integrated concept of the addictive behaviour shows individual characteristics especially for the part of benzodiazepines. Some guidelines will be formulated.

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Einleitung

Die Komorbidität von Suchtproblematik und anderen psychiatrischen Störungen stellt in der praktischen Versorgung ein häufiges Problem dar, da nur in den wenigsten psychiatrischen Kliniken speziell auf diese Patientengruppe abgestimmte Versorgungsstrukturen bestehen. Die Kasuistik dieser Patientin zeigt die Gefahren reiner Schwerpunktstationen. Exemplarisch haben wir eine Patientin ausgewählt, die den typischen Verlauf miteinander verflochtener Krankheitsbilder zeigt und bei der es bei langjährig bekannter affektiver Störung erstmals um die Erarbeitung eines integrativen Behandlungskonzeptes ging.

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Kasuistik

Frau B. stellte sich erstmalig auf unserer Suchtstation mit dem Wunsch nach einer Alkohol- und Benzodiazepinentzugsbehandlung vor. Frau B., eine Mitte 30-jährige Frau, wirkte erschöpft, mimisch starr und machte einen ungepflegten Eindruck. Im Aufnahmegespräch zeigte sie sich deutlich intoxiziert, fahrig, nervös und angespannt. Neben beginnenden vegetativen Entzugserscheinungen standen psychopathologisch vor allem ein deutlich niedergestimmter, freudloser und ängstlicher Affekt mit psychomotorischer Hemmung bei gleichzeitiger innerer Unruhe im Vordergrund. Die Patientin äußerte ausgeprägte Insuffizienzgefühle, Existenzängste und die Befürchtung, einen Suizidversuch zu begehen. Anamnestisch bestanden seit längerer Zeit Früherwachen und ein ausgeprägtes Morgentief.

Seit mehr als 10 Jahren bestand eine bipolar affektive Störung, in deren Rahmen bisher mindestens zehn depressive und fünf manische Phasen aufgetreten waren. Frau B. hatte in depressiven Phasen zwei schwere Suizidversuche mit Tablettenintoxikationen begangen. Bei zahlreichen Behandlungsversuchen waren verschiedene Antidepressivagruppen, Phasenprophylaktika, zeitweise auch Neuroleptika eingesetzt worden, daneben Schlafentzüge und während einer sehr lange andauernden schweren depressiven Episode auch mehrfach Elektrokrampfbehandlungen. Die Patientin machte in einer nihilistisch wirkenden Haltung deutlich, dass keine dieser Behandlungen wirklich geholfen hätte. Später ließ sich eruieren, dass tatsächlich viele medikamentöse Versuche über lange Zeiträume erfolglos geblieben waren. Nach jeder zweiten depressiven Episode kam Frau B. - trotz Phasenprophylaxe - direkt aus der depressiven Phase in eine Manie. In dieser Situation verließ sie das Krankenhaus unter dem subjektiven Eindruck von Gesundheit und setzte die Medikamente ab. Zur aktuellen Aufnahme kam die Patientin mit einer Medikation von Fluoxetin 60 mg morgens und Lorazepam 8-10 mg zur Nacht.

Seit Beginn ihrer bipolar affektiven Störung hatte sie in depressiven Phasen Benzodiazepine, zumeist Lorazepam, in hohen Dosierungen bis 10 mg erhalten. Bei den ausgeprägten Ängsten und schwerwiegenden suizidalen Tendenzen, die sich therapierefraktär gegenüber antidepressiver Medikation erwiesen, gibt die lang andauernde Fortführung der Benzodiazepinmedikation auch einen Hinweis auf die Hilflosigkeit der Behandler. Nach der zweiten Scheidung hatte Frau B. begonnen, vermehrt Alkohol zu trinken, den sie gegen Gefühle des Alleinseins und der „inneren Auflösung” einsetzte. Bei den letzten beiden Behandlungen auf allgemeinpsychiatrischen Stationen war es zu einem Therapieabbruch gekommen, nachdem Frau B. alkoholisiert von Ausgängen zurückgekehrt war und eine Auseinandersetzung mit dem süchtigen Verhalten nicht möglich erschien. Die Benzodiazepinabhängigkeit war bisher nicht problematisiert worden. Seit ca. zwei Jahren bestand durchgängig ein täglicher Konsum von bis zu 6 Flaschen Wein und bis zu 10 mg Lorazepam.

Aus der biografischen Entwicklung der Patientin erscheint wichtig, dass der Vater an einer Alkoholabhängigkeit litt, die während der Pubertät der Patientin zur Trennung der Eltern geführt hatte. Die Mutter reagierte auf die Trennung depressiv und ebenfalls mit einem erhöhten Alkoholkonsum. Bis einige Jahre vor dem Aufnahmezeitpunkt war Frau B. im Management einer großen Firma tätig gewesen. Über lange Zeiträume war sie beruflich sehr erfolgreich, auch noch in den ersten Jahren der psychiatrischen Erkrankung. Die Patientin war zweimal geschieden und berichtete, dass es besonders in ihren manischen Phasen durch gesteigerte Promiskuität zu Partnerschaftsproblemen gekommen war.

Für die Patientin erschien es bei Behandlungsbeginn unvorstellbar, während ihrer depressiven Phase auf Benzodiazepine zu verzichten. Die Rekonstruktion bisheriger Krankheitsphasen im biografischen Kontext stellte für sie eine langwierige Anstrengung dar. Die Bedeutung der Suchtmittel im Krankheitsverlauf als Selbstheilungsversuch, das damit verbundene Nichtspüren und gleichzeitige Verschlimmern der depressiven Symptomatik wurde für sie verstehbar. Da sie in den letzten Jahren den Überblick über die eigene Geschichte verloren hatte, führte diese Änderung zu einem Gefühl von Selbstgewissheit und Selbstbestimmung. Dies gelang, je mehr der Einfluss der Benzodiazepine abnahm. Die offene Diazepamentzugsbehandlung, ausschleichend über 10 Tage mit einem Beginn bei 40 mg und gleichzeitiger Einstellung auf Carbamazepin retard 800 mg zur zerebralen Anfalls- und Phasenprohylaxe, gestaltete sich ohne Komplikationen. Die Fluoxetinmedikation wurde belassen. Obwohl Frau B. nach unserem Eindruck in der Stimmung deutlich aufklarte, erlebte sie sich selbst bis in die vierte Woche depressiv und von der Außenwelt „abgeschnitten”. Suizidale Gedanken traten allerdings in den Hintergrund. Frau B. äußerte stolz, dass sie ohne Lorazepam schlafen könne und angstfreie Phasen erlebe. Der durch das Programm des qualifizierten Entzuges klar strukturierte Tagesablauf schaffte ihr Erleichterung. Positiv erlebte sie, dass Mitpatienten aktiv gegen ihre Rückzugstendenzen angingen und sie aufforderten, am Programm teilzunehmen. Ab der fünften Woche wirkte sie antriebsgesteigert und euphorisch, so dass die Fluoxetinmedikation auf 20 mg erniedrigt wurde. Nun zeigte sie sich als extrovertierte Persönlichkeit, mit dem Selbstbild einer „mitten im Leben” stehenden Frau und ehemaligen Managerin. Sie schien sich oft zu überschätzen und es traten Gedanken an kontrolliertes Trinken auf. In affektiv stabilisiertem Zustand wurde die Patientin nach 6 Wochen in unsere Tagesklinik verlegt. Während der Weiterbehandlung wurde sie zunehmend manisch und begann gleichzeitig ein partnerschaftliches Verhältnis zu einem alkoholabhängigen Mitpatienten. Kurze Zeit später ließ sich die Patientin entlassen. Nach ca. achtmonatiger Abstinenz kam es im folgenden Jahr zu zwei weiteren Aufnahmen, die Frau B. in einem affektiven Mischzustand nach kurzer Zeit wieder abbrach. Beim letzten Aufenthalt konsumierte sie die bereits bekannte Menge Tavor und ca. eine Flasche Wodka am Tag.

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Diskussion

Die Gabe von Benzodiazepinen als Sedativa und Anxiolytika ist bei depressiven Patienten an der Tagesordnung und eine große Hilfe. Die dargestellte Patientin hat erst über die hinzukommende Alkoholabhängigkeit einen Behandlungswunsch hinsichtlich ihrer süchtigen Verhaltensweisen entwickelt. Bei den bisherigen Behandlungen hatte die Angst bestanden, die Benzodiazepine abzusetzen, unter der Vorstellung, die Patientin könne dann komplett dekompensieren. Das Gegenteil war der Fall: mit Absetzen von Lorazepam ohne Veränderung der antidepressiven Medikation kam sie aus der Depression. Bei dem subjektiven Empfinden der Patientin, dass Antidepressiva und Phasenprophylaktika nicht ausreichend wirken, Benzodiazepine und Alkohol die Symptome aber wenigstens weniger spürbar machen, zeigt sich die Gefahr des sich selbst aufrechterhaltenden Systems zwischen Depression und süchtigem Verhalten. Oft erscheint es in einem nicht suchtspezifischen Setting unmöglich, depressiv-suizidalen Patienten die Benzodiazepinmedikation zu nehmen. Die klare Regelung der Suchtstation, in jedem Fall von beiden Substanzen zu entziehen und für das gesamte Krankheitsgeschehen ein Konzept zu erarbeiten, erbrachte eine neue Sichtweise der Konsummuster und affektiven Veränderungen. Ohne Benzodiazepine erlebte sich Frau B. in der Depression weniger gehemmt und konnte an der Tagesstruktur teilnehmen. Die Wirksamkeit der Antidepressiva war differenzierter zu spüren. Der Rückfall nach vorausgegangener Manie legt den Verdacht nahe, dass sie mit dem geregelten Alltag nicht zurecht kam und einen in diesem Fall suchtähnlich zu verstehenden „Kick” in der Manie gesucht hat.

Einige Leitgedanken lassen sich hieraus ableiten:

  • besonders bei komorbider Benzodiazepinabhängigkeit besteht die Gefahr, suchttherapeutische Aspekte gegenüber der Behandlung der Grunderkrankung zu vernachlässigen

  • am Beginn der Behandlung muss der Fokus auf der im Vordergrund stehenden bzw. bedrohlichsten Symptomatik liegen, die „andere Störung” darf nicht außer Acht gelassen werden

  • komorbide Patienten erfordern ein hohes Maß an Flexibilität bei gleichzeitig notwendiger klarer Struktur (in diesem Fall Ausweitung der Zeit für den qualifizierten Entzug und die Motivationsbehandlung)

  • wo spezielle Strukturen für die Behandlung von Komorbidität fehlen, sollte eine enge Kooperation zwischen den diagnosespezifischen Einheiten möglich sein (Settingwechsel)

Dr. med. Peer Briken

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
der Universität Hamburg

Martinistraße 52

20246 Hamburg

Dr. med. Peer Briken

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
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Martinistraße 52

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