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DOI: 10.1055/s-2000-7049
Nietzsches medizinisches Erbe
Eine Bilanz zu seinem 100. TodestagPublication History
Publication Date:
31 December 2000 (online)


Nietzsches Leben und Werk sind eine Kombination von hellen und dunklen Seiten, von Einsichten und Irrtum. Er regt zu unabhängigem Denken an, es ist aber gefährlich, an ihn zu glauben und ihn nicht kritisch zu lesen. Nietzsche war chronisch krank und hat viel gelitten. Wie ein roter Faden durchziehen seine Existenz und seine Schriften medizinische Probleme. Er selbst meinte, dass aus dem Widerstand gegen die eigene Krankheit seine Philosophie des Willens entstanden sei.
Friedrich Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen als erstes Kind des Pfarrers Karl Ludwig Nietzsche und seiner Ehefrau Franziska, geb. Oehler geboren. Bereits als Schüler in Pforta hatte er Kopfschmerzen und »rheumatische Anfälle« [8] . Nach zwei Semestern Philologie und Theologie in Bonn studierte er ab Herbst 1865 in Leipzig nur noch alte Sprachen, insbesondere griechisch. 1869, mit 24 Jahren, wurde er in Basel ohne vorausgegangene Promotion und Habilitation zum Professor der klassischen Philologie ernannt. Sein Leipziger Lehrer Ritschl, der die Begabung seines Schülers früh erkannte und förderte, schrieb bewundernd nach Basel: »Desgleichen kommt in Deutschland absolut nicht vor« [34] . Erst danach erteilte Leipzig das Doktordiplom auf Grund früher veröffentlichter Arbeiten.
Schwerer werdende migräneartige Kopfschmerzen und eine hochgradige Sehschwäche zwangen ihn 1879, sein Amt aufzugeben. In den folgenden 10 Jahren lebte er als »Wanderphilosoph« ohne festen Wohnsitz und verfasste seine Hauptwerke. Nach dem psychotischen Zusammenbruch am 3. Januar 1889 in Turin schrieb er nichts mehr. Er versank in zunehmende Demenz. Aufopfernd pflegte ihn seine Mutter in Naumburg. Nach deren Tod 1897 nahm ihn seine Schwester Elisabeth in die Weimarer »Villa Silberblick«. Dort wurde er am 25. August 1900 durch eine Pneumonie erlöst.
Bei Nietzsche fällt der Gegensatz von radikaler Philosophie und einem Leben voller Verständnis für seine Mitmenschen auf. Albert Schweitzer [35] bekannte: »In Nietzsche war etwas von dem Geist Christ; dies zu sagen ist ein Sakrileg.« Gegenüber seinem Schicksal und der Tapferkeit, mit der es ertragen wurde, kommen »Ehrfurcht und Erbarmen auf [12]. Sein Basler Kollege, der Chemiker Julius Piccard [3], schrieb: »Der rücksichtsloseste aller Philosophen war als Mensch von einer rührenden Herzensgüte und Feinfühligkeit.« Übereinstimmend wird Nietzsche als sehr höflich, sensibel und liebenswürdig im Umgang beschrieben [10] [33]. Lou Andreas-Salomé, um die er erfolglos geworben hatte, hebt seinen wohlwollenden Gleichmut hervor [1] . Trotz des »Willens zur Macht« und des »Übermenschen« hatte Nietzsche persönlich mehr Ähnlichkeiten mit einem Asketen als mit Machtmenschen wie Cesare Borgia und Macchiavelli. »Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen«, schrieb Nietzsche, »ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tag eine Freude machen könne« [15] .