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DOI: 10.1055/s-2001-11781
Klassifikatorische Diagnostik von Störungen durch psychotrope Substanzen
Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt
Universität Greifswald im Klinikum Stralsund
Rostocker Chaussee 70
18437 Stralsund
eMail: freyberg@rz.uni-greifswald.de
Publikationsverlauf
Publikationsdatum:
31. Dezember 2001 (online)
- Zusammenfassung
- The Classification of Disorders due to Psychoactive Substance Use
- Einleitung
- Missbrauch, Abhängigkeit und andere Störungskonzepte in ICD-10 und DSM-IV
- Zum Problem der Komorbidität
- Multiaxiale Systeme
- Ausblick
- Literatur
Zusammenfassung
Die klassifikatorische Diagnostik von Störungen durch psychotrope Substanzen hat durch die Veröffentlichung von ICD-10 und DSM-III, DSM-III-R und DSM-IV eine substanzielle Verbesserung erfahren. In dem Beitrag werden einige der konzeptuellen Veränderungen kritisch diskutiert und die Klassifikationskonzepte von ICD-10 und DSM-IV gegenübergestellt. Auf multiaxiale diagnostische Ansätze wird gesondert eingegangen.
#The Classification of Disorders due to Psychoactive Substance Use
The classification of disorders due to psychoactive substance use has been improved by the publication of ICD-10, DSM-III, DSM-III-R and DSM-IV. The paper provides an overview of the conceptual innovations including a crosswalk ICD-10 vs. DSM-IV and a discussion of multiaxial approaches.
#Einleitung
Klassifikatorische Suchtdiagnostik gehörte bis zur Veröffentlichung der neueren operationalisierten Klassifikationssysteme eher zu den vernachlässigten klinischen bzw. Forschungsbereichen [1] [2] [3]. Durch die Entwicklung von ICD-10 und DSM-III, DSM-III-R und DSM-IV wurden auch für den Suchtbereich wesentliche Forschungsentwicklungen angestoßen und dabei vor allem die Reliabilität und Validität der vorliegenden Klassifikationsansätze überprüft (vgl. zur ICD-10 auch [3 5]). Wesentlich stimuliert wurden die Forschungsbemühungen darüber hinaus durch breit angelegte epidemiologische Studien der 80er Jahre (z. B. [6]), durch versorgungsepidemiologische Untersuchungsansätze (z. B. [7]), die Komorbiditätsforschung (z. B. [8] [9]) sowie schließlich die Entwicklung suchtspezifischer diagnostischer Instrumente, wie etwa dem Addiction Severity Index [10].
Im Folgenden sollen einige grundlegende Ansätze der operationalisierten Diagnostik der Störungen durch psychotrope Substanzen vorgestellt und diskutiert werden.
#Missbrauch, Abhängigkeit und andere Störungskonzepte in ICD-10 und DSM-IV
Das Konzept der ICD-10 [11] [12] und des DSM-IV [13], den Missbrauch oder schädlichen Gebrauch von Abhängigkeit im Sinne distinkter diagnostischer Kategorien zu unterscheiden, geht auf das dichotome Konzept von Edwards und Gross [14] zurück. Hinsichtlich der definierten diagnostischen Merkmale sind beide Systeme fast identisch, sie unterscheiden sich vor allem durch die explizite Berücksichtigung sozialer Faktoren bzw. des sozialen Funktionsniveaus im DSM-IV bei ihren Missbrauchs- und Abhängigkeitsbegriffen (vgl. Tab. [1] und [2]). In der ICD-10 wurden soziale Faktoren wegen ihrer unterschiedlichen interkulturellen Bedeutung nicht aufgenommen und stattdessen wurde auf deren Erfassung im Rahmen des multiaxialen diagnostischen Ansatzes verwiesen [15].
ICD-10: Schädlicher Gebrauch |
A. Nachweis, dass der Substanzgebrauch verantwortlich ist für die körperlichen oder psychischen Probleme, einschließlich der eingeschränkten Urteilsfähigkeit oder des gestörten Verhaltens, das eventuell zu Behinderung oder zu negativen Konsequenzen in den zwischenmenschlichen Beziehungen geführt hat. |
B. Die Art der Schädigung sollte klar bezeichnet werden. |
C. Das Gebrauchsmuster besteht mindestens seit 1 Monat oder trat wiederholt in den letzten zwölf Monaten auf. |
D. Auf die Störung treffen die Kriterien einer anderen psychischen oder Verhaltensstörung bedingt durch dieselbe Substanz zum gleichen Zeitpunkt nicht zu (außer akute Intoxikation F1x.0). |
DSM-IV: Substanzmissbrauch |
A. Ein unangepasstes Muster von Substanzgebrauch führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Beeinträchtigungen oder Leiden, wobei sich mindestens eines der folgenden Kriterien innerhalb desselben 12-Monats-Zeitraumes manifestiert. |
1. Wiederholter Substanzgebrauch, der häufig zu einem Versagen bei der Arbeit, in der Schule oder zu Hause führt. |
2. Wiederholter Substanzgebrauch in Situationen, in denen es aufgrund des Konsums zu einer körperlichen Gefährdung kommen kann. |
3. Wiederkehrende Probleme mit dem Gesetz im Zusammenhang mit dem Substanzgebrauch. |
4. Fortgesetzter Substanzgebrauch trotz ständiger oder wiederholter sozialer oder zwischenmenschlicher Probleme, die durch die Auswirkungen der psychotropen Substanz verursacht oder verstärkt werden. |
B. Die Symptome haben niemals die Kriterien für Substanzabhängigkeit der jeweiligen Substanzklasse erfüllt. |
ICD-10: Abhängigkeitssyndrom |
A. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren. |
B. Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums. |
C. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch die substanzspezifischen Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder einer nahe verwandten Substanz, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden. |
D. Toleranzentwicklung gegenüber den Substanzeffekten. Es sind größere Mengen notwendig, um den gewünschten Effekt zu erreichen. |
E. Einengung auf den Substanzgebrauch (Aufgabe oder Vernachlässigung anderer wichtiger Vergnügen oder Interessensbereiche wegen des Substanzgebrauchs). |
F. Anhaltender Substanzgebrauch trotz eindeutig schädlicher Folgen. |
Bei der Definition des Abhängigkeitssyndroms kommt in beiden Systemen bei der psychischen Abhängigkeit als entscheidendes Kriterium das typische Beschaffungs- bzw. Einnahmeverhalten zur Anwendung, während die körperliche Abhängigkeit im Wesentlichen über das Entzugssyndrom definiert wird. In beiden Systemen kann die Diagnose eines Missbrauchs, einer Abhängigkeit oder einer anderen substanzinduzierten Störung auf jede dort definierte Substanzklasse angewendet werden.
Mit dieser operationalen Differenzierung von Missbrauch und Abhängigkeit ist auch die Bestimmung ihrer qualitativen Ausprägung über Screeninginstrumente möglich (z. B. Fagerström-Test für Nikotinabhängigkeit [16]; Lübecker Alkoholismus-Test [17]). In den Klassifikationssystemen selbst wird jedoch eine operationalisierte Schweregraddefinition nicht verankert.
Auch die weiteren unmittelbar suchtassoziierten Störungen werden in der ICD-10 und dem DSM-IV abgesehen von wenigen Ausnahmen weitgehend analog definiert (vgl. Tab. [3]). So geben etwa ICD-10 (auf der Ebene der Forschungskriterien) und DSM-IV detaillierte substanzspezifische Symptome für Intoxikation und Entzug an, die sich weitestgehend entsprechen. Eine Ausnahme bildet in der ICD-10 lediglich die Verschlüsselung von Phencyclidin, das unter der „Restkategorie” F19 klassifiziert wird.
ICD-10 | DSM-IV |
F10.xx Störungen durch Akohol | ... Alkohol |
F11.xx Störungen durch Opioide | ... Opiate |
F12.xx Störungen durch Cannabinoide | ... Cannabis |
F13.xx Störungen durch Sedativa/Hypnotika | ... Sedativa, Hypnotika oder anxiolytikaähnliche Substanzen |
F14.xx Störungen durch Kokain | ... Kokain |
F15.xx Störungen durch sonstige Stimulantien einschließlich Koffein | ... Amphetamine (amphetaminähnliche Substanzen und Koffein) |
F16.xx Störungen durch Halluzinogene | ... Halluzinoge |
F17.xx Störungen durch Tabak | ... Nikotin |
F18.xx Störungen durch flüchtige Lösungsmittel | ... Inhalanzien |
F19.xx Störungen durch multiplen Substanzgebrauch und Konsum sonstiger psychotroper Substanzen | ... Phencyclidin (phencyclidinähnliche Substanzen), multiple Substanzen, andere (unbekannte) Substanzen |
Mit der 4. und 5. Stelle können die klinischen Zustandsbilder näher bezeichnet werden: | |
.0 akute Intoxikation | 303.00 Alkoholintoxikation |
305.90 Koffeinintoxikation | |
292.89 Amphetamin-, Cannabis-, Kokain-, Halluzinogen-, Inhalanzien-, Opiat-, Phencyclidin-, Sedativa-, Hypnotika-, oder Anxiolytika-, andere (oder unbekannte) Substanzintoxikation | |
.00 ohne Komplikation | keine Entsprechung |
.01 mit Verletzungen oder anderer körperlicher Schädigung | keine Entsprechung |
.02 mit anderen medizinischen Komplikationen | 291.00 Alkoholintoxikationsdelir |
.03 mit Delir | 282.81 Amphetamin-, Cannabis-, Kokain-, Halluzinogen-, Inhalanzien-, Opiat-, Phencyclidin-, Sedativa-, Hypnotika-, oder Anxiolytika-, anderes (oder unbekanntes) Substanzintoxikationsdelir |
.04 mit Wahrnehmungsstörungen | 292.89 Amphetamin-, Cannabis-, Kokain-, Opiat-, Phencyclidin-, andere (oder unbekannte) Substanzintoxikation mit Wahrnehmungsstörungen |
.05 mit Koma | keine Entsprechung |
.06 mit Krampfanfällen | keine Entsprechung |
.07 pathologischer Rausch | keine Entsprechung |
.1 schädlicher Gebrauch | 305.00 Alkoholmissbrauch |
305.70 Amphetaminmissbrauch | |
305.20 Cannabismissbrauch | |
305.60 Kokainmissbrauch | |
305.30 Halluzinogenmissbrauch | |
305.50 Opiatmissbrauch | |
305.40 Sedativa-, Hypnotika- oder Anxiolytikamissbrauch | |
305.90 Missbrauch durch Inhalanzien, Phencyclidin und andere (oder) unbekannte Substanzen | |
.2 Abhängigkeitssyndrom | Abhängigkeit von: |
303.90 Alkohol | |
.20 gegenwärtig abstinent | 305.10 Nikotin |
.21 gegenwärtig abstinent, aber in beschützender Umgebung | 304.40 Amphetaminen |
304.30 Cannabis | |
.22 gegenwärtige Teilnahme an einem ärztlich | 304.20 Kokain |
überwachten Ersatzdrogenprogramm | 304.60 Inhalanzien |
(kontrollierte Abhängigkeit) | 304.20 Opiaten |
.23 gegenwärtig abstinent, aber in Behandlung | 304.50 Halluzinogenen |
mit aversiven oder hemmenden Medikamenten | 304.90 Phencyclidin |
.24 gegenwärtiger Substanzgebrauch (aktive Abhängigkeit) | 304.10 Sedativa, Hypnotika oder Anxiolytika |
.25 ständiger Substanzgebrauch | 304.80 Polytoxikomanie |
.26 episodischer Substanzgebrauch (z. B. Dipsomanie) | 304.90 von anderen (oder unbekannten) Substanzen |
Spezifikation: | |
- mit körperlicher Abhängigkeit | |
- ohne körperliche Abhängigkeit | |
- früh vollremittiert | |
- früh teilremittiert | |
- anhaltend vollremittiert | |
- anhaltend teilremittiert | |
- bei agonistischer Therapie | |
- in geschützter Umgebung | |
.3 Entzugssyndrom | 291.8 Alkoholentzug |
292.0 Kokain-, Amphetamin-, Nikotin- Opiat-, Sedativa-, Hypnotika- oder Anxiolytika-, anderer (oder unbekannter) Substanzentzug | |
.30 unkompliziert | keine Entsprechung |
.31 mit Krampfanfällen | keine Entsprechung |
.4 Entzugsyndrom mit Delir | 291.0 Alkoholintoxikationsdelir |
292.81 Sedativa-, Hypnotika-, oder Anxiolytikaintoxikationsdelir | |
.40 ohne Krampfanfälle | keine Entsprechung |
.41 mit Krampfanfällen | keine Entsprechung |
.5 psychotische Störung | 291.x Alkoholinduzierte psychotische Störung |
.50 schizophreniform | .5 mit Wahn |
.51 vorwiegend wahnhaft | .3 mit Halluzinationen |
.52 vorwiegend halluzinatorisch (einschließlich Alkoholhalluzinose) | 292.xx Psychotische Störung induziert durch Amphetamine, Cannabis |
.53 vorwiegend polymorph | Kokain, Halluzinogene, Inhalanzien, Opiate, Phencyclidin, Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (unbekannte) Substanze.11 mit Wahn.12 mit Halluzinationen |
.54 vorwiegend depressive Symptome | 291.8 Alkoholinduzierte affektive Störung |
.55 vorwiegend manische Symptome | 292.84 Affektive Störung durch Amphetamine, |
.56 gemischt | Cannabis, Kokain, Halluzinogene, Inhalanzien, Opiate, Phencyclidin, sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (unbekannte) Substanzen - mit depressiven Merkmalen - mit manischen Merkmalen - mit gemischten Merkmalen |
.6 amnestisches Syndrom | 291.1 Persistierende alkoholinduzierte amnestische Störung |
292.82 Persistierende amnestische Störung durch Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (unbekannte) Substanzen | |
.7 Restzustand und verzögert auftretende psychotische Störung | |
.70 Nachhallzustände (Flashbacks) | 292.89 Persistierende Wahrnehmungsstörung im Zusammenhang mit Halluzinogenen (Flashbacks) |
.71 Persönlichkeits- oder Verhaltensstörung | keine Entsprechung |
.72 residualaffektives Zustandsbild | 292.84 Affektive Störung durch Amphetamine, Cannabis, Kokain, Halluzinogene, Inhalanzien, Opiate, Phencyclidin, sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (unbekannte) Substanzen |
- mit depressiven Merkmalen | |
- mit manischen Merkmalen | |
- mit gemischten Merkmalen | |
.73 Demenz | 291.2 Persistierende alkoholinduzierte Demenz |
292.83 Persistierende amnestische Störung durch Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (unbekannte) Substanzen | |
.74 andere anhaltende kognitive Beeinträchtigungen | keine Entsprechung |
.75 verzögert auftretende psychotische Störung | keine Entsprechung |
.8 sonstige psychische oder Verhaltensstörungen | 291.8 Alkoholinduzierte Angststörung, Schlafstörung, sexuelle Funktions-Störung |
292.89 Angststörung induziert durch Amphetamine, Koffeine, Cannabis, Kokain, Halluzinogen, Inhalanzien, Phencyclidin, Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (oder) unbekannte Substanzen | |
292.89 Sexuelle Funktionsstörungen induziert durch Amphetamine, Kokain, Opiate, Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (oder) unbekannte Substanzen | |
292.89 Schlafstörungen induziert durch Amphetamin, Koffein, Kokain, Opiate, Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (oder) unbekannte Substanzen | |
.9 nicht näher bezeichnete psychische oder Verhaltensstörung | 291.9 Nicht näher bezeichnete Störung im Zusammenhang mit Alkohol |
292.9 Nicht näher bezeichnete Störungen induziert durch Amphetamine, Koffein, Cannabis, Kokain, Halluzinogene, Inhalanzien, Phencyclidin, Sedativa, Hypnotika, Anxiolytika, andere (oder) unbekannte Substanzen |
Die in der ICD-10 abgebildeten substanzinduzierten psychotischen Störungen (F1x.5 und F1x.7) sind im DSM-IV anders verteilt. Die in der ICD-10 definierten psychotischen Störungen bei Substanzgebrauch (F1x.5) sind als psychotische Störungen mit Wahn oder Halluzinationen zu verstehen, nichtpsychotische affektive Störungen durch Substanzgebrauch sind als residualaffektive Zustandsbilder (F1x.72) zu klassifizieren.
#Zum Problem der Komorbidität
In der ICD-10 wurde das Prinzip der Komorbidität verwirklicht, was zu einer substanziellen Zunahme nicht nur suchtbezogener Diagnosen, sondern auch weiterer psychischer Störungen geführt hat. Bereits Anfang der 90er Jahre konnte in der „Epidemiological Catchment Area Study” [6] und dem „National Comorbidity Survey” [18] gezeigt werden, dass in klinischen und epidemiologischen Stichproben das Ausmaß der Komorbidität zwischen Suchterkrankungen und anderen psychischen Störungen als ausgesprochen hoch einzuschätzen ist. Für bestimmte diagnostische Gruppen ergeben sich dabei spezifische und z. T. differenzialindikative Interventionen bei der Behandlungsbedürftigkeit (z. B. [9] [19] [20]). Auch für die Bundesrepublik sind die frühen Entwicklungsstufen für die Entstehung und den Verlauf bei jugendlichen Konsumenten gut belegt [21].
Am besten belegt sind komorbide Zusammenhänge mit Angststörungen, affektiven Störungen, psychotischen Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen, wobei aus methodischen Gründen erhebliche Streubreiten auftreten [8]. So ergab sich z. B. in der ICD-10-Merkmalslistenstudie neben hoher interner Komorbidität von Störungen durch psychotrope Substanzen weiterhin ein häufiges Auftreten dieser Störungen als Zweit- und Drittdiagnose [22] [23].
Für differenzialindikative Prozesse sind die Wechselwirkungseffekte individuell zu spezifizieren, wobei u. a. Schuckit [24] am Beispiel der Komorbidität zwischen Alkoholabhängigkeit und affektiven Störungen fünf Möglichkeiten des Zusammenspiels aufgezeigt hat:
-
Alkohol kann depressive Symptome verursachen.
-
Vorübergehende depressive Symptome können längeren Trinkepisoden folgen.
-
Der Alkoholkonsum kann aufgrund primär affektiver Episoden ansteigen (z. B. bei Manie).
-
Depressive Symptome und Alkoholismus können bei anderen psychiatrischen Störungen zusammen auftreten.
-
Ein kleiner Teil der Patienten weist Alkoholabhängigkeit und affektive Störungen voneinander getrennt auf.
Weder in der ICD-10 noch im DSM-IV wird die Abbildung komorbider Störungen nach inhaltlichen Prinzipien verankert, d. h., es wird auf zeitbezogene (primäre vs. in ihrem zeitlichen Auftreten sekundäre Störung) oder ätiopathogenetische Ordnungsgesichtspunkte zugunsten einer rein deskriptiven Beschreibung verzichtet.
#Multiaxiale Systeme
Empirische Studien haben sich bisher nur sehr eingeschränkt der vorliegenden multiaxialen Systeme bedient und in erster Linie Achse-I- und Achse-II-Störungen untersucht. Während die Global Assessment Functioning Scale des DSM-III und DSM-III-R noch vergleichsweise häufig eingesetzt wurde, wurde das multiaxiale System der ICD-10 (vgl. Tab. [4]) bzw. noch komplexere Konstrukte kaum untersucht, obgleich ihre Bedeutung für Fragen der Dokumentation und Qualitätssicherung erheblich sein dürften. So werden in dem multiaxialen System der ICD-10 wie im DSM-IV allerdings mit unterschiedlichen Skalenbildungen neben der Komorbidität das psychosoziale Funktionsniveau sowie störungsauslösende und -aufrechterhaltende Faktoren auf separaten Achsen verankert. Im Hinblick auf die ICD-10 ergibt sich z. B. die Möglichkeit, auf der Achse III „Psychosoziale Belastungsfaktoren” entsprechende Kodierungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen vorzunehmen (z. B. Z72 Probleme bei der Lebensführung: Z72.0 „Rauchen”, Z72.1 „Alkoholmissbrauch”). Darüber hinaus bestehen weitere Möglichkeiten, Z-Kodierungen in diesem Kontext zu nutzen (vgl. [11]): Z49.1 „Rehabilitation nach Alkoholabhängigkeit” oder Z81 „Familienanamnese mit Hinweisen auf psychische und Verhaltensstörungen (Z81.2 „Familienanamnese mit Hinweisen auf Alkoholmissbrauch”).
Vereinzelt liegen Arbeiten zur psychischen Abwehr Alkoholabhängiger vor (John, 1990). Mit dem seit 1996 vorliegenden multiaxialen System zur Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (vgl. Tab. [5]) wurden demgegenüber zwischenzeitlich einige Untersuchungen publiziert [26 28], eine entsprechende multizentrische Arbeitsgruppe hat sich mittlerweile etabliert. Das multiaxiale System der OPD erfasst dabei auf unterschiedlichen Achsen Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen, Beziehungs-, Konflikt- und Strukturdiagnostik sowie als Achse V ICD-10-Diagnostik [29 31].
Damit gilt auch für den Suchtbereich, dass eine multiaxiale, d. h. verschiedene Betrachtungsebenen integrierende klassifikatorische Diagnostik kaum ausreichend integriert wurde [32].
Achse I | Psychische Störungen und körperliche Erkrankungen | |
Ia | psychische Störungen | |
Ib | Persönlichkeitsstörungen | |
Ic | Störungen durch psychotrope Substanzen | |
Id | körperliche Störungen | |
Achse II | Beurteilung der sozialen Funktionseinschränkung (WHO Disablement Scale) | |
IIa | Selbstfürsorge (Körperhygiene, Kleidung, Ernährung usw.) | |
IIb | Beruf (bezahlte Arbeit, Studium, Hausarbeit usw.) | |
IIc | Familie und Haushalt (Interaktion mit dem (Ehe-)Partner, Eltern, Kindern, und anderen Verwandten) | |
IId | Funktionsfähigkeit im Weiteren sozialen Kontext (Beziehung zu Gemeindemitgliedern, Teilnahme an Freizeit- und sozialen Aktivitäten) | |
IIe | Globaleinschätzung (Gesamtbeeinträchtigung) | |
Achse III | Psychosoziale Belastungsfaktoren | |
Ereignisse und Merkmale aus folgenden Bereichen: | ||
1. | negative Erlebnisse in der Kindheit | |
2. | Erziehung und Bildung | |
3. | primäre Bezugsgruppe einschließlich Familie | |
4. | soziale Umgebung | |
5. | Wohnungsbedingungen und finanzielle Verhältnisse | |
6. | Berufstätigkeit und Arbeitslosigkeit | |
7. | Umweltbelastungen | |
8. | psychosoziale oder juristische Probleme | |
9. | Krankheiten oder Behinderungen in der Familie | |
10. | Lebensführung/Lebensbewältigung |
Achse I | Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen (4-stufige Fremdeinschätzung) von 1 (= niedriger) bis 4 (= hoher Ausprägungsgrad) |
1. Beurteilung des Schweregrades der somatischen Erkrankung | |
2. Beurteilung des Schweregrades der psychischen Erkrankung | |
3. Leidensdruck | |
4. Beeinträchtigung des Selbsterlebens | |
5. Ausmaß der körperlichen Behinderung | |
6. sekundärer Krankheitsgewinn | |
7. Einsichtsfähigkeit in psychodynamische Zusammenhänge | |
8. Einsichtsfähigkeit für somatopsychische Zusammenhänge | |
9. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (Psychotherapie) | |
10. Einschätzung der geeigneten Behandlungsform (körperliche Behandlung) | |
11. Motivation zur Psychotherapie | |
12. Motivation zur körperlichen Behandlung | |
13. Compliance | |
14. Symptomdarbietung: somatische Symptomatik steht im Vordergrund | |
15. Symptomdarbietung: psychische Symptomatik steht im Vordergrund | |
16. psychosoziale Integration | |
17. persönliche Ressourcen | |
18. soziale Unterstützung | |
19. Angemessenheit der subjektiven Beeinträchtigung zum Ausmaß der Erkrankung | |
Achse II | Beziehung (dysfunktionelles habituelles Beziehungsverhalten; Fremdeinschätzung von jeweils 2 im Sinne interpersoneller Kreismodelle definierten, nach Relevanz gewichteten Merkmalen je Perspektive und Dimension) |
1. Perspektive A: Das Erleben des Patienten mit den Dimensionen „Der Patient erlebt sich immer wieder so, dass er ...” und „Der Patient erlebt andere immer wieder so, dass er ...” | |
2. Perspektive B: Das Erleben des Interviewers mit den Dimensionen „Der Untersucher erlebt den Patienten immer wieder so, dass er ...” und „Der Untersucher erlebt sich gegenüber dem Patienten immer wieder so, dass er ...” | |
3. Psychodynamische Formulierung des dysfunktionalen Beziehungsverhaltens (Option) | |
Achse III | Konflikt (Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 0 (= nicht vorhanden) bis 3 (= hoch) für jeden definierten Konflikt) |
1. Abhängigkeit vs. Autonomie | |
2. Kontrolle vs. Unterwerfung | |
3. Versorgung vs. Autarkie | |
4. Selbstwertkonflikte (narzisstische Konflikte, Selbst- vs. Objektwert) | |
5. Über-Ich- und Schuldkonflikte (egoistische vs. prosoziale Tendenzen) | |
6. Ödipale und sexuelle Konflikte | |
7. Identitätskonflikte (Identität vs. Dissonanz) | |
8. fehlende Konflikt- und Gefühlswahrnehmung | |
9. Aktualkonflikte | |
Achse IV | Struktur (Fremdeinschätzung mit 4-stufigem Rating von 1 (= gut integriert) bis 4 (desintegriert)) |
1. Selbstwahrnehmung | |
2. Selbststeuerung | |
3. Abwehr | |
4. Objektwahrnehmung | |
5. Kommunikation | |
6. Bindung | |
7. Gesamtniveau | |
Achse V | Psychische und psychosomatische Störungen nach dem Kapitel V (F) der ICD-10 |
Achse Va | Psychische Störungen |
Achse Vb | Persönlichkeitsstörungen (Kategorien F60 und F61 der ICD-10) |
Achse Vc | Somatische Erkrankungen (andere Kapitel der ICD-10) |
Ausblick
Mit der Veröffentlichung der operationalisierten Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-IV hat die kategoriale Klassifikation von Suchterkrankungen zweifelsohne einen bedeutsamen Fortschritt gemacht. Die klinisch relevanteste interne Schwäche dieser Systeme dürfte allerdings darin bestehen, dass sie keine explizit operationalisierten Schweregradbestimmungen erlauben und Komorbiditätsmuster rein deskriptiv ohne spezifizierte hierarchische oder ätiopathogenetische Reihung erfassen. Damit sind sie allein betrachtet für die Therapieplanung und die Indikation für bestimmte Interventionsformen nur unzureichend brauchbar. Für die Schweregradunterteilung werden in Zukunft, wie in anderen diagnostischen Feldern auch, kategoriale und dimensionale Verfahren kombiniert werden müssen, um zu reliablen und validen Ansätzen zu gelangen [32]. Eine angemessenere Abbildung der Komorbidität setzt darüber hinaus wahrscheinlich die Reintegration ätiologischer Vorannahmen in die deskriptive Diagnostik voraus, wie sie etwa mit der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik verwirklicht wurden. Von einer indikativen Kopplung bestimmter Diagnosen mit spezifischen therapeutischen Interventionen sind wir in diesem Bereich, wie auch bei den meisten anderen psychischen Störungen, weit entfernt. Diese werden sich nur in Kombination mit dimensionalen und multiaxialen diagnostischen Ansätzen, die andere Merkmalsbereiche erfassen, entwickeln lassen. Dies war aber auch nicht der Anspruch, unter dem die operationalisierte Diagnostik nach ICD-10 und DSM-IV angetreten ist, denn erreicht werden sollten in einem ersten Schritt die methodischen Voraussetzungen, unter denen überhaupt sinnvolle klinische und wissenschaftliche Arbeit möglich wird: Kommunizierbarkeit und Reliabilität.
#Literatur
- 1 Freyberger H J, Schulte-Markwort E, Siebel U. Das Konzept der Störungen durch psychotrope Substanzen (F1). Dilling H, Schulte-Markwort E, Freyberger HJ Von der ICD-9 zur ICD-10. Neue Ansätze in der Diagnostik psychischer Störungen in der Psychiatrie, Psychosomatik und Kinder- und Jugendpsychiatrie Bern; Hans Huber 1994: 95-102
- 2 Krausz M. Überlegungen zum Diskurs über Diagnostik bei Patienten mit schädlichem Konsum psychotroper Substanzen. Bundesverband für stationäre Suchtkrankenhilfe, Martin Beutel Diagnose Sucht. Schriftenreihe Band IV Geesthacht; Buss-Neuland-Verlagsgesellschaft 2000
- 3 Dilling H, Dittmann V, Freyberger H J. ICD-10 field trial in German-speaking countries. Pharmacopsychiatry. 1990; 23 (suppl.) 135-216
- 4 Dittmann V, Dilling H, Freyberger H J. Psychiatrische Diagnostik nach ICD-10 - klinische Erfahrungen bei der Anwendung. Bern; Hans Huber 1992
- 5 Freyberger H J, Dilling H, Stieglitz R D. ICD-10 field trial of the Diagnostic Criteria for Research in German-speaking countries. Psychopathlogy. 1996; 29 257-314
- 6 Regier DA, Farmer ME, Rae DS, Locke BZ, Kesth SJ, Judd LL, Goodwin FK. Comorbidity of mental disorders with alcohol and other drug abuse. Results from the Epidemiological Catchment Area (ECA) study. Journal of the American Medical Association. 1990; 264 2511-2518
- 7 Hapke U, Rumpf H J, John U. Alkoholabhängigkeit und -mißbrauch im Allgemeinkrankenhaus. Förderung der Inanspruchnahme suchtspezifischer Versorgungsangebote. John U & Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren Regionale Suchtkrankenversorgung. Konzepte und Kooperationen Freiburg; Lambertus 1997: 101-108
- 8 Maier W, Linz M, Freyberger H J. Komorbidität von Substanzabhängigkeitsstörungen und anderen psychischen Störungen. Soyka M, Möller HJ Alkoholismus als psychische Störung Berlin, Heidelberg; Springer 1997: 75-93
- 9 Krausz M, Müller-Thomsen T. Therapie von psychischen Störungen und Sucht-Konzepte für Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation. Freiburg; Lambertus 1994
- 10 McLellan A T, Kushner H, Peters R, Smith I, Grissom G, Pettinata H, Argeriou M. The fifth edition of the Addiction Severity Index: Historical critique and normative data. Journal of Substance Abuse Treatment. 1992; 9 199-213
- 11 Dilling H, Mombour W, Schmidt M H. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10, Kapitel V (F), Klinischdiagnostische Leitlinien Bern; Huber 1993 2. Auflage
- 12 Dilling H, Freyberger H J. Taschenführer zur Klassifikation psychischer Störungen. Mit Glossar und diagnostischen Kriterien. ICD-10: DCR 10 Bern; Hans Huber 2000
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Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt
Universität Greifswald im Klinikum Stralsund
Rostocker Chaussee 70
18437 Stralsund
eMail: freyberg@rz.uni-greifswald.de
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Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger
Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ernst-Moritz-Arndt
Universität Greifswald im Klinikum Stralsund
Rostocker Chaussee 70
18437 Stralsund
eMail: freyberg@rz.uni-greifswald.de