Pneumologie 2001; 55(4): 190-194
DOI: 10.1055/s-2001-12992
ÜBERSICHT
Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ethische Probleme der elektronischen Compliance-Messung bei Asthmapatienten

Ethical Problems of Electronic Compliance Assessment in Asthmatic PatientsK-Ch Bergmann1 , S. Mühlig2 [*] , F. Petermann2
  • 1Allergie- und Asthma-Klinik, Bad Lippspringe
  • 2Zentrum für Rehabilitationsforschung der Universität Bremen
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Dr S Mühlig

ZRF
Universität Bremen

Grazer Straße 6
28359 Bremen

Email: E-mail: muehlig@uni-bremen.de

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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Table of Contents #

Einleitung

Das mangelhafte Befolgen rational begründeter und praktikabler ärztlicher Empfehlungen zur medikamentösen Therapie durch Patienten ist in der Literatur gut dokumentiert. Eine ungenügende Compliance bei der Nutzung von Asthmamedikamenten wurde bei durchschnittlich 30 bis 70 % der untersuchten Kinder und Erwachsenen wiederholt beschrieben (vgl. Mühlig, Petermann & Bergmann[1], in diesem Heft). Compliance-Probleme entstehen insbesondere bei längerer Zeitdauer einer Medikation und der Einnahme mehrerer Medikamente. Unter bestimmten Umständen scheinen sich mehr Patienten non-compliant zu verhalten als verordnungskonform. Je genauer die Analysemethode, desto geringer fällt dabei in der Regel die Compliance-Rate aus. So sind die Selbstangaben der Patienten zur Compliance selbst in kontrollierten Studien weit entfernt von dem, was die elektronischen Überwachungsgeräte zeigen.

Die Folgen der Non-Compliance schließen nicht nur Behandlungsmisserfolge, akute Exazerbationen, kostspielige diagnostische Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte für den individuellen Patienten, sondern auch enorme volkswirtschaftliche Belastungen und Fehlsteuerungen im Gesundheitswesen ein. Auch die Ergebnisse klinischer Studien können durch die Non-Compliance irreführend beeinflusst werden, da auch die Studienprobanden nur in etwa 50 % bis 70 % die empfohlene (vereinbarte) Medikamentendosis einnehmen. Unterstellt wird aber bei der Auswertung und Interpretation der Studien meist eine 100 %ige Compliance. Im Ergebnis können mindestens zwei falsche Schlussfolgerungen aus den Studienergebnissen gezogen werden: Erstens, dass die Substanz nicht wirksam ist und damit ihr Einsatz abgewiesen wird, oder zweitens, dass die Substanz aufgrund non-complianter Studienteilnehmer in ihrer Wirksamkeit unterschätzt und deshalb in einer zu hohen Dosierung empfohlen wird, so dass paradoxerweise Patienten mit einer guten Compliance in der Anwendungspraxis überdosiert werden.

Eine gute Compliance ist also aus mehreren Blickwinkeln wünschenswert. Dabei stellen die neuen Möglichkeiten der elektronischen Überwachung bzw. Messung des Compliance-Grades mit dem Chronolog [1] [2] oder Doser ([3]; vgl. Mühlig, Bergmann, Twesten & Petermann, in diesem Heft) für die Compliance-Forschung und klinische Praxis einen großen Fortschritt dar. Aufgrund der gravierenden Mängel und unzureichenden Validität anderer indirekter Erhebungsmethoden (wie Patientenbefragung, Arzteinschätzung oder AM-Schwundmessung), aber auch der begrenzten Einsatzmöglichkeiten direkter Messverfahren (Spiegelmessung, Markerkontrolle) gelten Medication Event Monitoring System - MEMS heute als „¿Goldstandard” der Compliance-Messung ([4]; vgl. Beitrag Mühlig, Petermann & Bergmann, in diesem Heft). Bei der Verwendung von elektronischen Monitoring-Systemen stellt sich aber die Frage, um welchen Preis die Anwendung solcher Instrumente dem Patienten zugemutet werden kann. Dabei stellt nicht die Kenntnis der Compliance-Daten an sich, sondern der Prozess der Datengewinnung durch die angewandte Methodik das Problem dar.

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Compliance-Messungen offen oder verdeckt?

Die Verwendung elektronischer Methoden zur Compliance-Messung bei Asthmapatienten kann prinzipiell entweder offen erfolgen, indem der Patient vor Untersuchungsbeginn vom Arzt über die Kontrollmöglichkeit voll informiert wird, oder verdeckt, d. h. der Patient wird über die Compliance-Messung nicht aufgeklärt, sondern erhält das entsprechende Gerät unter einem Vorwand. Die offenen Compliance-Messungen führen zu einem offensichtlichen methodologischen Problem, da das Bewusstsein einer Einnahmekontrolle die Compliance des Patienten signifikant verändern kann. So stellten Tashkin et al. (1991) [5] fest, dass unter den über die Compliance-Messung nicht informierten Patienten (n = 85) 87 % eine verschreibungskonforme Einnahme angaben, die tatsächlich mit dem Chronolog gemessene Compliance aber nur 52 % betrug. Die „eingeweihten” Patienten, die das Chronolog als Feedback benutzen konnten (n = 112) gaben zu 89 % eine gute Compliance an, die sie tatsächlich zu 78 % auch erreichten. Die höhere Compliance der informierten gegenüber den nichtaufgeklärten Patienten war damit statistisch signifikant (p < .0001).

Dieses Ergebnis wurde in einer ähnlich angelegten Studie mit n = 205 Patienten bestätigt, in der die informierten Patienten eine Compliance-Rate von 80 %, die nichtinformierten Patienten aber von nur 60 % erreichten. Wurden die bisher nicht informierten Patienten über die Natur der Chronologdaten informiert, so stieg die Compliance deutlich an. Unter den informierten Untersuchungsbedingungen trat zudem kein drug dumping auf [6].

Detailliertere Daten in einer Studie von Yeung u. Mitarb. (1994) [7] belegen, dass bei einer offenen Compliance-Messung die aufgeklärten Patienten zu rund 60 % über einen Untersuchungszeitraum von zwei bis drei Wochen voll compliant waren, 20 % ausreichend compliant (≥ 70 % der Verschreibungsdosis) und nur 20 % non-compliant. Demgegenüber zeigten 45 % der Patienten mit einer verdeckten Compliance-Messung eine unzureichende Einhaltung der Dosis (≤ 51 % der Dosis).

In Studien, in denen den Patienten die genaue Funktionsweise einer elektronischen Compliance-Messung erklärt wird, sind offenbar auch die Ergebnisse anderer Compliance-Parameter wie Selbstangaben oder Arzneimittel-Schwundmessung weniger verfälscht als bei verdeckten Untersuchungsbedingungen [8] [9].

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Ethische Probleme der verdeckten Messung

Die bisherigen Ergebnisse der elektronischen Compliance-Messung belegen, dass offene Messungen das Compliance-Ergebnis massiv beeinflussen können, so dass das Monitoring aus methodologischer Perspektive verdeckt durchgeführt werden sollte. Die methodologisch zu favorisierende Wahl einer verdeckten Compliance-Kontrolle führt allerdings zu ethischen Problemen, die u. a. in der möglichen Verletzung von Patientenrechten liegen.

Es muss berücksichtigt werden, dass es in der Regel bei der Behandlung eines (Asthma-)Patienten zu einem impliziten Vertrag zwischen Patient und Arzt kommt, in dem der Arzt sich verpflichtet, die bestmögliche Behandlung für den Patienten anzubieten und der Patient umgekehrt die Verpflichtung eingeht, alles in seinen Möglichkeiten liegende zu tun, um die Krankheit zu beherrschen und die Therapie zu unterstützen.

Da die Erhebung und der Gebrauch von Daten eines nicht-informierten Patienten u. U. eine Verletzung seines Selbstbestimmungsrechtes und seiner Privatssphäre darstellt, stellt sich die Frage, ob bzw. unter welchen Bedingungen dies ethisch zu legitimieren ist. In der Diskussion werden vor allem drei kontroverse Positionen vertreten [10].

Auf der einen Seite wird argumentiert, dass es durch die wichtige Zielstellung der Compliance-Forschung gerechtfertigt sei, das Verhalten der Patienten auch ohne deren Einverständnis zu überwachen. Der besondere Vorzug der MEMS-Methode zur Erkennung der Non-Compliance sei unmittelbar davon abhängig, dass sie getarnt durchgeführt werde, da die Compliance-Ergebnisse durch das Wissen um den Einsatz des Messinstrumentes selbst verfälscht würden (Heisenberg-Prinzip). Sobald der Patient wisse oder ahne, dass sein Einnahmeverhalten kontrolliert werde, würde er entweder seine tatsächliche Compliance erhöhen oder Täuschungsstrategien entwickeln, um eine hohe Compliance zu fingieren (Drug dumping, White-coat-adherence). Patienten neigten dazu, ihr Therapieverhalten nach den tatsächlichen oder vermeintlichen Erwartungen des Arztes auszurichten (soziale Erwünschtheit), um als „gute Patienten” betrachtet zu werden. Auch wenn Probanden über die Einzelheiten und Ziele einer Studie nicht informiert seien, könne allein das Bewusstsein einer Studiendurchführung ihr Verhalten substanziell verändern (Hawthorne-Effekt).

Konträr zu dieser Position wird der Standpunkt vertreten, dass jegliche Unterlassung einer vollständigen Aufklärung von Studienteilnehmern (informed consent) eine ethisch nicht zu akzeptierende Verletzung der Patientenrechte bedeute und unterbleiben müsse - auch wenn dadurch der Wert einer Studie erheblich beeinträchtigt oder gar infrage gestellt werden sollte. Die ethische Maxime einer rückhaltlosen Patientenaufklärung als Voraussetzung für eine freiwillige Teilnahme an wissenschaftlichen Studien erfordere eine genaue Beschreibung der geplanten Vorgehensweisen und stehe prinzipiell im Widerspruch zur Vorenthaltung irgendwelcher Informationen über die Studiendurchführung. Die Arzt-Patienten-Beziehung sei zudem im Falle vorenthaltener Information massiv gefährdet, da die Patienten ohne ihr Wissen vom Arzt überwacht würden und der Patient sich zu Recht „ausspioniert” fühlte.

Die Kompromissposition besteht darin, dass der Patient vor Beginn der Studie nicht über alle Details informiert werden müsse, aber nachträglich aufgeklärt werden sollte. Eine Teilinformierung sei in dem Sinne denkbar, dass der Patient vorab über die Tatsache einer Registrierung aufgeklärt wird, z. B. darüber, dass das Ausmaß der Arzneimitteleinnahme untersucht werden solle, ohne aber detaillierte Informationen über die Compliance-Überwachung (z. B. Feststellung des zeitlichen Einnahmemusters) zu erhalten [11]. Eine weitere Möglichkeit wird darin gesehen, den Patienten zu Beginn der Studie anzukündigen, dass sie aus wichtigen methodischen Gründen anfangs noch nicht über alle Aspekte der Studie informiert werden könnten, aber nach Beendigung der Datenerhebung alle fehlenden Informationen erhalten würden [12].

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Ethische Minimalstandards für eine verdeckte Compliance-Messung

Unter bestimmten, eng definierten Umständen wird es als vertretbar angesehen, die Maßgabe des informed consent in Teilen aufzuheben oder einzuschränken. Es lassen sich aus der Diskussion sechs Kriterien als ethische Minimalstandards für eine verdeckte Compliance-Messung extrahieren, die erfüllt sein müssen, um einen solchen Verzicht oder eine Einschränkung der Patientenaufklärung zu rechtfertigen [13] [14] [15].

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass bei einer Konfrontation mit dem eigenen non-complianten Verhalten für den Patienten emotional sehr unangenehme und peinliche Situationen auftreten können, wenn er z. B. von seinem behandelnden Arzt als unkooperativ oder sogar als Täuscher „entlarvt” wird. Rand (1994) [18] schlug deshalb vor, Chronologergebnisse nur anonymisiert zu verwenden. Dabei sollten die den Patienten direkt betreuenden Ärzte und Schwestern möglichst gar nicht über die Compliance-Daten des Patienten informiert werden (Trennung von Studienleiter und Behandlern), um peinliche Konfrontationen zu vermeiden und die Arzt-Patienten-Beziehung nicht zu gefährden.

Kasten 1:Ethische Minimalstandards für eine verdeckte Compliance-Messung.
1. Das Risiko für den Patienten muss auf ein äußerstes Minimum beschränkt sein, d. h. der Studienteilnehmer darf durch die Zurückhaltung von Informationen über die Studiendurchführung keinerlei vorhersehbaren Gefährdungen (inkl. körperlicher oder psychischer Schäden) ausgesetzt werden.
2. Die Vorenthaltung von Informationen darf weder die freie Willensentscheidung zur Teilnahme, noch die übrigen Rechte bzw. das Wohlergehen des Patienten beeinträchtigen, d. h. es dürfen keinerlei ernsthafte negative Auswirkungen entstehen, die über die unmittelbaren Folgen der Nichtinformierung hinausgehen. Dabei disqualifiziert die Einschränkung des Rechtes auf volle Informiertheit eine Studie dann nicht, wenn alle anderen Kriterien für eine begründete Ausnahmeregelung erfüllt sind.
3. Das Vorhaben muss einen außerordentlich hohen wissenschaftlichen Erkenntniswert besitzen, der unter gründlicher Güterabwägung einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Patienten rechtfertigen kann.
4. Die Studie kann nicht auf eine alternative Weise durchgeführt werden, ohne den Studienzweck und die Untersuchungsziele ernsthaft zu gefährden. Das heißt, dass eine volle Informierung des Patienten die Studiendurchführung praktisch verhindern würde.
5. Der Patient ist zum frühestmöglichen Zeitpunkt nachträglich über alle Aspekte der Studiendurchführung zu informieren.
6. Das Vorhaben muss durch eine Ethikkommission geprüft und gebilligt sein.
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Nachträgliche Patientenaufklärung als mögliche Lösung?

Die nachträgliche Patientenaufklärung (debriefing) verfolgt prinzipiell den gleichen Zweck wie die Information zum Zeitpunkt der Einverständniserklärung. Zwar hat der Patient in diesem Fall nicht die Möglichkeit, seine Studienteilnahme nachträglich „rückgängig” und die damit verbundenen Erfahrungen „ungeschehen” zu machen. Es eröffnet den Teilnehmern aber die Option, ihre Einverständniserklärung rückwirkend aufzukündigen und damit zumindest ihre Studiendaten zurückzuziehen, die dann vom Studienleiter nicht weiter verwendet werden dürfen und umgehend zu vernichten sind. Sinnvoller erscheint es allerdings, vorab das Einverständnis des Patienten zu einer unvollständigen Aufklärung über die Studiendurchführung einzuholen und ihnen eine nachträgliche volle Patientenaufklärung zum Studienende verbindlich zuzusagen. Damit wird den Patienten vor der Studiendurchführung die Chance zur freien Entscheidung darüber gegeben, eine Teilnahme abzulehnen, falls ihnen die Option der eingeschränkten Aufklärung suspekt erscheint.

Eine nachträgliche Patientenaufklärung kann auf verschiedene Weise erfolgen. Entscheidet man sich für die rückhaltlose Informierung, werden die Teilnehmer mit der vollen Wahrheit konfrontiert, auch wenn dies unangenehme oder peinliche Einsichten in das eigene Fehlverhalten einschließt, mit denen sie bei der Einverständniserklärung nicht gerechnet haben. Diese Art der Rückmeldung ist sicher nur im Einzelkontakt zu empfehlen. In schwierigeren Fällen kann eine unvollständige oder„beschwichtigende” Aufklärung (deceptive debriefing) ins Auge gefasst werden, wenn durch eine volle Information z. B. eine Beschädigung des Selbstwertgefühls befürchtet werden muss. Eine solche unvollständige Aufklärung wird aber meistens nicht notwendig sein. Im Regelfall können Studienteilnehmer über die Ergebnisse der Studie insgesamt informiert werden, ohne auf ihre individuellen Ergebnisse zu sprechen zu kommen. Im Einzelgespräch können ihnen dann - auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin - ihre individuellen Resultate zur Compliance mitgeteilt werden. Eine unaufgeforderte (oder sogar gegen den Patientenwillen vorgenommene) Konfrontation mit ihren persönlichen Compliance-Daten „aus pädagogischen Gründen” sollte aber generell unterbleiben bzw. - falls in besonderen Problemfällen erforderlich - nur mit größter Behutsamkeit erfolgen.

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Wer hat Anspruch bzw. Zugriff auf Compliance-Daten?

Die Privatsphäre oder das Recht des Patienten auf informationelle Selbstbestimmung wird möglicherweise bei verschiedenen Gelegenheiten im medizinischen Alltag tangiert, ohne dass ihm dadurch reale Nachteile entstehen. So kann es z. B. gelegentlich vorkommen, dass Informationen über persönliche Verhältnisse von Patienten von einem zum anderen Arzt weiter gegeben werden, ohne den Patienten um die Genehmigung dazu zu bitten, und ohne die Weitergabe der Information aktenkundig zu machen. Elektronisch gespeicherte Compliance-Daten sind aber besonders sensibel. Bereits vor einer Studie bzw. Anwendung der Geräte muss dem Patienten gegenüber klargestellt werden, wer nach den Datenschutzbestimmungen über die Daten verfügt, in welcher Art und in welchem Umfang sie gespeichert, aufbewahrt oder verbreitet werden dürfen bzw. wann und unter welchen Umständen sie vernichtet werden.

Selbstverständlich hat zunächst der untersuchte Patient selbst - bei artikuliertem Interesse - ein Recht auf Kenntnis seiner dokumentierten Therapietreue, damit er ggfs. Konsequenzen für sein eigenes Verhalten daraus ziehen kann. Mit welcher Deutlichkeit ihm die Compliance-Daten und die möglichen Konsequenzen auf die weitere Therapieplanung zu benennen sind, muss der Untersucher sicher auch unter Berücksichtigung der psychischen Stabilität und sozialen Kompetenz des Patienten entscheiden.

Versicherungsrechtliche Aspekte bzw. finanzielle Konsequenzen des Patientenverhaltens sollten bei der Entscheidung über eine elektronische Compliance-Messung aber keine Rolle spielen, das heißt z. B. Krankenkassen sollten ohne Zustimmung der Patienten prinzipiell keinen Einblick in die individuellen Daten erhalten. In diesem Zusammenhang wird neuerdings die Frage thematisiert, ob es auf Patientenseite ein moralisches Recht auf Non-Compliance vs. eine moralische Pflicht zur Compliance gibt [19]. Der Patient hat zwar (Urteils- und Entscheidungsfähigkeit sowie ausreichende Informiertheit vorausgesetzt) nach unbestrittenen medizinethischen Maximen ein uneingeschränktes Recht auf Ablehnung von medizinischen Behandlungsmaßnahmen, falls er an der Richtigkeit eines ärztlichen Urteils oder einer bestimmten Verschreibung zweifelt. Aus diesem grundsätzlichen Selbstbestimmungsrecht des Patienten lässt sich aber ethisch kein „Recht auf Krankheit” oder Non-Compliance ableiten. Vielmehr steht dem grundsätzlichen Patientenrecht auf Selbstbestimmung und autonomer Entscheidungsfreiheit die auch sozialversicherungsrechtlich fixierte „Mitwirkungspflicht des Patienten” gegenüber. Es dürfte klar sein, dass jemand, der von der Gemeinschaft Mittel für die Erhaltung oder Wiederherstellung seiner Gesundheit in Anspruch nimmt, gegenüber dieser auch Verpflichtungen eingehen muss, die er einzuhalten hat. Dabei ist zu berücksichtigen, dass durch ein verantwortungsloses Therapieverhalten non-complianter Patienten und dessen Konsequenzen u. U. die Rechte anderer Versicherter auf die Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden, da die entgangenen finanziellen Mittel an anderer Stelle der Gesundheitsversorgung fehlen. Es scheint daher auch grundsätzlich diskutabel, ob ein non-complianter Patient unter bestimmten Umständen (z. B. bei fahrlässiger, leichtsinniger oder verantwortungsloser Haltung gegenüber der eigenen Gesundheit) zu Risikozuschlägen verpflichtet werden könnte (wie z. B. auch bei Ausübung von Risikosportarten üblich). Allerdings müsste dabei zum einen klar unterschieden werden, ob die Non-Compliance non-intentional (z. B. durch die Krankheit selbst, Einschränkungen der Urteils- und Entscheidungsfähigkeit) oder durch die vorsätzliche Therapieverweigerung bzw. Fahrlässigkeit des Patienten verursacht wurde. Zum anderen wäre eine verdeckte elektronische Compliance-Überwachung ohne Zustimmung des Patienten für diesen Zweck sicherlich als äußerst problematisch anzusehen.

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Schlussfolgerungen

Wissenschaftliche Compliance-Studien mit elektronischer Datenerfassung dienen nicht dazu, Personen mit unzureichender Compliance zu diffamieren, sondern mögliche Gründe für die Non-Compliance offen zu legen und den Therapieplan besser an die Voraussetzungen und Bedürfnisse der Patienten anzupassen. Dabei muss letztlich akzeptiert werden, dass das beschriebene Dilemma zwischen methodischer Stringenz und ethischer Legitimität sich nicht vollständig auflösen lässt.

Bilanzierend ist der verdeckten Compliance-Messung aus methodologischen Gründen der Vorzug zu geben, wenn die genannten ethischen Minimalstandards beachtet werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich nicht nur die Durchführung, sondern auch das Aufwand-Nutzen-Verhältnis empirischer Studien an ethischen Kriterien messen lassen muss. Eine methodisch unzureichende wissenschaftliche Compliance-Untersuchung wäre in Anbetracht des Zeit- und Kostenaufwandes, der zusätzlichen Belastungen für die Patienten, der mangelhaft fundierten Resultate und der möglicherweise daraus gezogenen Fehlschlüsse u. E. letztlich ethisch weniger legitim als eine zeitlich und inhaltlich begrenzte Einschränkung der Informationspflicht gegenüber dem Patienten [20]. Aus diesem Blickwinkel heraus weisen Dinges et al. (1994) [21] darauf hin, dass valide und reliable Compliance-Daten zudem eine wesentliche Basis für Kosten-Nutzwert-Analysen, für Allokationsentscheidungen im Gesundheitswesen, die Identifizierung von Anpassungsbedarf bei der Gesundheitsversorgung oder auch sicherheitsrelevante Fragen (z. B. Sicherheit im Straßenverkehr) darstellen. Eine methodisch stringentere Vorgehensweise ist daher auch hinsichtlich der aus den Resultaten zu ziehenden Konsequenzen unter (anderen) ethischen Gesichtspunkten vorzuziehen.

Empfehlungen zur Asthmatherapie sollten unter der Berücksichtigung von Non-Compliance und ihren Ursachen so einfach wie möglich gestaltet werden. Auch Schulungsprogramme für Patienten und Ärzte müssen den Aspekt der Compliance zukünftig stärker beachten. Das differenzierte Asthmamanagement stellt höhere Ansprüche an das Verständnis der Betroffenen, wobei in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient Lebensstilfragen und Alltagseinflüsse auf die Therapiemitarbeit und die Krankheitsbewältigung des Patienten stärker berücksichtigt werden müssen [22]. Daraus folgt ein verstärkter Bedarf an zusätzlichem Lehrmaterial und verbesserten kommunikativen Kompetenzen der Ärzte sowie die Notwendigkeit einer Einbeziehung von Patientenorganisationen bei der Entwicklung von sprachlich optimiertem Informations- und Schulungsmaterial zur Compliance-Verbesserung.

Mit den zunehmenden technischen Möglichkeiten zur präzisen Überwachung des natürlichen Einnahmeverhaltens (z. B. Telemedizin) werden die hier angesprochenen Fragen sicher noch dringlicher und erfordern klare und verbindliche Richtlinien über die Bedingungen, Kriterien und Grenzen für einen ethisch legitimierbaren Einsatz der elektronischen Compliance-Messung.

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Literatur

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  • 15 Cochrane G M. Compliance and outcomes in patients with asthma.  Drugs. 1996;  52 12-19
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  • 17 Cochrane G M. Compliance and outcomes in patients with asthma.  Drugs. 1996;  52 12-19
  • 18 Rand C S. Objective measurement of metered-dose inhaler use. Ethical considerations.  Am J Respir Crit Care Med. 1994;  149 289-290
  • 19 Fischer J. Compliance und Ethik - Gibt es ein Recht auf Non-Compliance?.  Man Care. 2000;  14-17
  • 20 Hasford J. Klinische Studien - Wo sind die Fehlerquellen? Vortrag auf dem 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie 1.-3. 3. 2000 in Hamburg. 
  • 21 Dinges D F, Kribbs N B, Schwartz A R, Smith P L, Pack A I. Objective measurement of nasal continuous positive airway pressure use. Ethical considerations.  Am J Respir Crit Care Med. 1994;  149 291-292
  • 22 Worstell M. Asthma: individual patient perspective and current unmet needs.  Clin Exp Allergy. 2000;  30 (suppl) 11-15

1 „Verbreitung der Non-Compliance bei Asthma-Patienten: Aktueller Forschungsstand und methodologische Probleme”

3 Der Beitrag enthält Auszüge aus der Habilitationsschrift des Zweitautors

Dr S Mühlig

ZRF
Universität Bremen

Grazer Straße 6
28359 Bremen

Email: E-mail: muehlig@uni-bremen.de

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Literatur

  • 1 Nides M A, Tashkin D P, Simmons M S, Wise R A, Li V C, Rand C S. Improving inhaler adherence in a clinical trial through the use of nebulizer chronolog.  Chest. 1993;  104 501-507
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  • 20 Hasford J. Klinische Studien - Wo sind die Fehlerquellen? Vortrag auf dem 41. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie 1.-3. 3. 2000 in Hamburg. 
  • 21 Dinges D F, Kribbs N B, Schwartz A R, Smith P L, Pack A I. Objective measurement of nasal continuous positive airway pressure use. Ethical considerations.  Am J Respir Crit Care Med. 1994;  149 291-292
  • 22 Worstell M. Asthma: individual patient perspective and current unmet needs.  Clin Exp Allergy. 2000;  30 (suppl) 11-15

1 „Verbreitung der Non-Compliance bei Asthma-Patienten: Aktueller Forschungsstand und methodologische Probleme”

3 Der Beitrag enthält Auszüge aus der Habilitationsschrift des Zweitautors

Dr S Mühlig

ZRF
Universität Bremen

Grazer Straße 6
28359 Bremen

Email: E-mail: muehlig@uni-bremen.de