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DOI: 10.1055/s-2001-13065
Therapiebegrenzung und Therapieabbruch in der Intensivmedizin[]*
Ist die ethische Frage richtig gestellt?Publication History
Publication Date:
31 December 2001 (online)
„Humanmedizin braucht ein anthropologisches Konzept - einfacher ausgedrückt: ein Menschenbild. Es zeigt sich, dass man das Problem einer Ethik in der Medizin nicht adäquat diskutieren kann, solange man die Verantwortung der Ärzte für die Theorien, Konzepte und Modelle der Medizin ignoriert.
Die traditionelle Auffassung, nach der die Entwicklung von Theorien in der Medizin Aufgabe von Grundlagenwissenschaften sei, die sich nur von einer ethisch neutralen wissenschaftlichen Wahrheit verantworten müssten, ist bereits das Produkt einer Theorie, die den Menschen aus der Realität eliminiert hat; sie mutet dem Arzt die unmögliche Aufgabe zu, aufgrund un-menschlicher Theorien menschlich verantwortende Entscheidungen zu treffen”, so schreiben Th. von Uexküll und W. Wesiack [1].
Karl Jaspers formulierte schon 1958 Folgendes: „Wenn ich durch Forschung, statt es methodisch zu durchschauen, verstrickt werde, als ob es alles Denken wäre, dann habe ich mich selbst und mir die Wirklichkeit verschlossen. Ich habe mich eingeschlossen in die Denkformen der empirischen Realität und der gegenständlichen Kategorien überhaupt. Erst eine universale Kategorienlehre ... macht mich zum Herren der Denkformen und befreit mich aus dem Gefängnis ... Wissenschaft ohne Philosophie wird trotz richtiger einzelner Erkenntnisse im Ganzen unkritisch und in der inneren Verfassung ihrer Träger zu dunkler Verschlossenheit” [2].
Die Praxis des Arztes ist so gesehen „konkrete Philosophie ... der souveräne Arzt will universal die möglichen Gesichtspunkte zur Verfügung haben und als Mensch in der menschlichen, in der geistigen Welt zu Hause sein ... Man sieht Ärzte, die Philosophie verwerfen ... aber ohne Philosophie kann man an der Grenze naturwissenschaftlicher Medizin des Unfugs nicht Herr werden” [2].
Nun, die Medizin heute versucht mehr denn je alleine auf dem Boden einer selbst definierten strengen Naturwissenschaft zu stehen. Seit Descartes, Bacon und Galilei hat die Naturwissenschaft mit den Methoden der Physik, der Chemie sowie der Mathematik ein einseitiges „Abbild” der Wirklichkeit geschaffen. Der gewollte Reduktionismus, das Primat der Materie, der Blick alleine auf das Diesseitige, Zählen, Messen und Wiegen haben dazu geführt, dass die Naturwissenschaft von sich sagen kann, sie sei wertfrei, objektiv, ja intersubjektiv. Methodisch bedeutet dies ein Schritt-fort-vom-Menschen [3], ein Absehen vom Subjekt Mensch; alles Metaphysische wurde als nicht existent postuliert (weil nicht messbar) und so aus der Betrachtungsweise eliminiert.
SchritteR. DESCARTES (1596-1650)-Cogito ergo sum, sive existo-Körper als Gliedermaschine, als Maschine, als verwendbares Instrument-Gesetze der Mechanik identisch mit denen der Natur-mathematische Beweisbarkeit-Reduktionismus (2. Regel)-die Geister aus der Natur austreiben „so halte ich andere Prinzipien der Naturwissen-schaften weder für zulässig noch für wünschenswert”
F. BACON (1561-1626)-deutungsfreie Beobachtung der Natur-Die Wahrheit der Erkenntnis bemisst sich an der Herrschaft, die sie über die Natur ermöglicht.-Natur ist das objektiv Machbare.G. GALILEI (1564-1642)-Verzicht auf Erfahrung einfaches Modell der Welt-Übereinstimmung mit dem Experiment-„Alles, was messbar ist, messen, und was nicht messbar ist, messbar machen”
Diese methodische Selbstbeschränkung hat zu den Fortschritten und zu dem Können geführt, die wir in der Intensivmedizin heute anwenden. Aber: „Die Schärfe seiner Aussagen (des Naturwissenschaftlers) beruht wesentlich auf ... Selbstbeschneidung ... Die Naturwissenschaft handelt nicht von der eigentlichen Wirklichkeit, sondern nur von einer bestimmten Projektion dieser Wirklichkeit, nämlich von dem Aspekt, den man nach Maßgabe detaillierter Anleitungen ... durch so genannte gute Beobachtung herausfiltern kann ...
Wir machen aber in unserem Alltag immer von einem umfassenden, weniger scharf fassbarem Wissen Gebrauch, da die Vorbedingungen, unter denen die exakten Aussagen zutreffen, praktisch nie gegeben sind” [4].
In diesem Licht sind beispielsweise folgende Phänomene zu sehen: die sog. „Todescomputer” in der Intensivmedizin sowie die Anwendung von „Scores”; die EBM-Medizin, die nach selbst aufgestellten Regeln etwa 50-70 % der von ihr selbst praktizierten Methoden und somit sich selbst infrage stellt; nach dieser Methode sind Liebe und Zuwendung nicht existent, da nicht messbar - aber vom Patienten als entscheidend erlebt! Wir erleben eine Vereinheitlichung, eine Entpersonalisierung, eine Flut von Regeln und Richtlinien in der Medizin, die uns von den Bedürfnissen des einzelnen Patienten entfernen und - last but not least - uns Handelnde von einer persönlichen Verantwortung befreien sollen.
In der Naturwissenschaft, bedingt durch ihre Entwicklung, ist das historische und philosophische Bewusstsein nicht stark ausgeprägt; eine selbstkritische Haltung im Hinblick auf Methoden und ihre Folgen ist unzureichend ausgebildet.
Der Philosoph Gadamer formuliert es so: „Nur das ist Gegenstand einer Wissenschaft, was die Bedingungen methodischer Erforschbarkeit erfüllt” [5].
Die Methoden, die uns zum heutigen Können geführt haben, geben uns keine Hilfe, keine Gesichtspunkte zur Bewertung unseres Handelns - eine vermeintlich wertfreie Wissenschaft kann keine Werte liefern und somit auch keine Grundlage für ethische Betrachtungen. Die Realität des Lebens - ganz besonders auf einer Intensivstation - ist vielseitiger, komplexer und weicher als Zustände unter definierten Bedingungen. Zur Lösung anstehender Probleme benötigen wir philosophische, ethisch-weltanschauliche und humanistische Kompetenz [6] [7].
Haben Krankheit und Leiden einen Sinn, eine Bedeutung in der Biografie eines Menschen? Ist alles am Menschen berechenbar und voraussagbar [8]? Was geschieht nach dem Tod? Wo sind Grenzen des Handelns? „Lohnt es sich” oder sind es gar politische, finanzielle, statistische Aspekte? Welcher erkenntnistheoretischen Methoden bedienen wir uns?
Es ist bequemer, mit dem Strom zu schwimmen [9] und keine Fragen zu stellen - man begibt sich aber in die von Kant formulierte „selbst verschuldete Unmündigkeit” [10].
Therapiebegrenzung und Therapieabbruch werden in der Literatur unter „passive Sterbehilfe” zusammengefasst [11] [12]: Es ist aber falsch! Denn: Hilfe hat aktiv begleitenden Charakter, beinhaltet Beziehung sowie Zuwendung. Die Tragfähigkeit der Gleichsetzung von Tun, Unterlassen oder Abbruch wird in ethischer Hinsicht immer stärker hinterfragt; das Unterlassen sowie das Abbrechen sind als aktive Entscheidung mit persönlicher Verantwortung verbunden. Kritisch hierzu äußert sich auch von Lutterotti [13].
Zutreffender erscheint die 4-stufige Differenzierung, die Herr Schuster vorgenommen hat: primärer Therapieverzicht (Verzicht auf Intensivtherapie beispielsweise bei fortgeschrittenem Tumorleiden); Therapiebegrenzung, Therapiereduktion und schließlich Therapieabbruch [14]. In den meisten Fällen wird ein sog. „weiches” Vorgehen vorgezogen, da beispielsweise das Abschalten des Respirators als aktives Beendigen des Lebens als „harte” Maßnahme empfunden wird. Eine weitere Unterscheidung ist angebracht: Wir haben Patienten, mit denen wir sprechen können; hier ist die Figur der Autonomie - trotz prinzipieller Asymmetrie der Beziehung und des Befroffen-Seins - scheinbar respektiert. Wir haben auch Patienten, mit denen wir aus Krankheitsgründen nicht sprechen können, nicht rational kommunizieren können - und um diese geht es im Wesentlichen hier -, die also nicht autonom sind: Wie können wir mit der Aporie umgehen, mit der Autonomie des Nicht-Autonomen?
Intensivstationen sind Mitte des letzten Jahrhunderts gegründet worden, um schwerstkranken Menschen, auch in postoperativen Zuständen, zu helfen: Intensivmedizin ist also ein Ort primär zur Lebens-Hilfe! Gleichwohl ist Begleitung im Sterben Teil der Behandlungspflicht für Pflegende und Ärzte.
„Intensivmedizin bedeutet Anwendung aller therapeutischer Möglichkeiten zum temporären Ersatz gestörter oder ausgefallener vitaler Organfunktionen bei gleichzeitiger Behandlung des diese Störungen verursachenden Grundleidens. Ziel der Intensivbehandlung ist es, die Funktionen eines gestörten lebenswichtigen Organsystems wiederherzustellen oder in physiologische Bereiche zurückzuführen, um Zeit zur causalen Behandlung des Grundleidens zu gewinnen ...” [15]. So die Charakterisierung der Aufgaben aus dem Munde eines Menschen, der die Intensivmedizin maßgeblich geprägt hat: P. Lawin.
Unsere Aufgabe ist also definiert als menschlich professionelle Hilfe zum Leben - nur so kann der Patient die Gewissheit und das Vertrauen haben, dass ihm geholfen wird. Wir sollten außerdem ein relativ seltenes Problem (Therapiebegrenzung und Therapiereduzierung) nicht künstlich zum Hauptproblem des intensivmedizinischen Alltags stilisieren.
Lassen Sie mich einige Gesichtspunkte diskutieren, die bei Therapieentscheidungen zu berücksichtigen sind:
Erstens: Medizinische Gesichtspunkte stehen im Vordergrund: Die Biografie des Patienten, seine Vorgeschichte; selbstverständlich Zustand, Befunde und so weit wie möglich die Prognose. Daraus kann sich eine Indikation ergeben, die jedes Mal kritisch zu hinterfragen ist.
Wir müssen im Bewusstsein haben, dass wir immer ex ante beurteilen und handeln; Patienten, Angehörige und Bevölkerung beurteilen meist aus dem Ex-Post: So entstehen Ängste. Diese zwei Gesichtspunkte lassen sich nicht vereinbaren. Der Arzt ist nicht „Allmächtiger in Weiß” - er kann den Erfolg einer Behandlung intendieren, anbieten, ihn jedoch nie garantieren.
Alle Prognosefaktoren sind in ihrer Aussagekraft begrenzt; sie sind zudem statistische Wahrscheinlichkeiten, mathematische Korrelationen, die für den Einzelfall nicht anwendbar sind [14] [16] [17] [18].
Zweitens: Die Mitarbeiter der Pflege sind immer mit einzubeziehen: Sie verfügen über ein enormes Wissen über den Patienten [12] [19], das die ärztlichen Gesichtspunkte ergänzt und erst zu einer Ganzheit macht.
Bei uns in der Filderklinik auf der Intensivstation werden Visiten und eventuelle anstehende Entscheidungen zur Reduktion oder Abbruch seit über 20 Jahren selbstverständlich mit den Pflegenden diskutiert; es werden Gesichtspunkte ausgetauscht und mitgetragen. Die Erfahrung vor 10 Jahren mit einer Patientin im Hirn-Versagen, die wir zwei Monate lang behandelt haben, bis zur Geburt ihres gesunden Kindes, hat unsere „Mannschaft” in ethischer Hinsicht sensibilisiert und geprägt [20]. Es ist bei uns praktizierte Selbstverständlichkeit, dass die Betreuung nicht mit Therapieabbruch oder Reduktion endet [12], sondern lediglich eine Qualitätsänderung erfährt - für Pflegende, aber ganz besonders für Ärzte!
Drittens: „Im Allgemeinen sind Ärzte imprägniert durch Todesabwehr und Todesverdrängung. Von Berufs wegen ist der Tod ihr Feind, um nicht zu sagen - ihr Todfeind. Vor allem in modernen Krankenhäusern besteht die Tendenz, das Scandalon „Tod” auf ein biologisch-technisches Problem zu reduzieren” und zu verdrängen (so F. Nager, 1998 [21])!
Wollen wir die Haltung von Epikur überwinden?
So hat der Arzt fünf Aufgaben nach Herrn Nager wahrzunehmen:
Aufgaben des Arztes
Erstens:
-Er muss mit seinem Fachwissen
die salutogenetischen Kräfte seiner Patienten fördern.
Zweitens:
-Er muss Krankheiten heilen,
also kurativ und reparativ eingreifen - durch die ihm zur Verfügung
stehenden Mitteln.
Drittens:
-Er muss dem Patienten helfen,
Kräfte und Fähigkeiten zu entwickeln, damit dieser mit seinem Zustand
besser im Leben zurechtkommen kann.
Viertens:
-Er muss
„palliativ” handeln, d. h. sich auf das Lindern der
Beschwerden beschränken.
-Mitleid und Pietät
dürfen nicht zu Projektionen werden.
Fünftens:
-Sterbende
müssen begleitet und betreut werden.
-Die Begleitung
Sterbender gehört zu den Aufgaben und Pflichten des Arztes.
und in seiner Ausbildung drei Fähigkeiten auszubilden:
Ärzte-Ausbildung
Geschultes Wissen
Fachwissen - Menschliche
Fähigkeiten
Geschultes
Können
Handwerkliche
Fähigkeiten
Wertungen
Geschultes
Gewissen
Verantwortung
Erfahrung von
Schuld
Philosophisch-moralische Kompetenz
nach Prof. H. Grewel
Wir benötigen eine humanistische Haltung, die den Tod nicht des Anderen meint, sondern die sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinander setzt. Ich meine eine Kultur des Sterbens: Beobachten Sie den Umgang mit Sterben und Tod, die Aufbahrungsräume unserer Krankenhäuser, dann verstehen Sie ohne Worte, was hier gemeint ist.
Viertens: Wir müssen uns fragen, warum (oder wozu?) der Eid des Hippokrates nach über 2000 Jahren seine Gültigkeit für viele verloren hat - hat der Fortschritt alleine die Grundlage verändert? Liegt es daran, dass der heutigen Medizin immer noch die positivistische Haltung des 19. Jh. zugrunde liegt? [1]. Heute stehen Autonomie und Selbstbestimmung im Vordergrund. Gelten sie in Notfallsituationen, bei bewusstseinsgestörten Patienten, bei Schmerzen, bei Luftnot? Die frühere Vorstellung des Patienten ist immer eine radikal andere als die des Betroffenseins! In der Not benötigen wir Hilfe, Zuwendung, Beziehung; als Patient bin ich Betroffener, nicht frei, nicht distanziert, nicht rechtlich entscheidungsfähig! Angehörige sind ebenfalls Betroffene!
Eine Patientenverfügung bürdet dem Patienten eine enorme Verantwortung und Pflicht auf: Autonomie bedeutet Pflicht zur Sachkunde!
Die Figur des mutmaßlichen Willens öffnet das Feld für gefährliche Spekulationen.
Das Argument der zu erwartenden schlechten oder nicht zumutbaren Lebensqualität wird oft in diesem Zusammenhang erwähnt (z. B. [14]). Es handelt sich um in die Zukunft projizierte, fremd beurteilende Werturteile; Berichte von Patienten belehren uns aber des Gegenteils! [22].
Das Bild des mündigen Patienten erscheint angesichts der grundsätzlich asymmetrischen Beziehung zwischen Arzt und Patienten deutlich idealisiert, es verfehlt zudem die Realität der Intensivmedizin: „Die Problematik der ethischen Frage der Intensivmedizin liegt ja gerade im Versagen des Selbstbestimmungsprinzips für diese Patienten” [23].
Einige Autoren sprechen bereits von Rhetorik der Autonomie [12], von der Dominanz des Autonomieprinzips, vom Mythos der Selbstbestimmung, von neopaternalistischer Medizin [24].
Vielmehr kann der Gesundungsprozess als Weg zur Wiedererlangung der Autonomie gesehen werden. Die Ideologisierung des Autonomieprinzips (als Kardinal-Direktive [14]) führt zur absurden Umkehrung der ärztlichen Aufgabe: Behandlung und Weiterbehandlung bedürfen der Legitimation durch den Patienten, der Behandlungsabbruch dagegen nicht! [25].
Pflegende und Ärzte sind ebenfalls autonome Wesen, die der Stimme ihres Gewissens gehorchen dürfen und müssen (Artikel 4, Grundgesetz) - kritische Professionalität vorausgesetzt!
Fünftens: Wir müssen lernen, Fragen richtig und kritisch zu stellen. Sind Therapiereduzierung und Therapieabbruch richtig gewählte Begriffe? Wird unsere angebotene medizinische Hilfe nicht zur Genesung angenommen, so metamorphosiert sich unsere Aufgabe in Begleitung und Hilfe im Sterben - in voller Anerkennung unserer Endlichkeit als das „Grundphänomen der Menschwerdung”, wie es H. G. Gadamer schon 1974 formuliert hat [26]. „Sterbende sind keine Belastung, sondern selbstverständlicher Bestandteil einer Gesellschaft und deren Humanität muss sich gerade daran erweisen, wie sie mit dem Grundphänomen menschlicher Existenz, unserer Begrenztheit, umzugehen vermag” [27].
Die viel zitierte Würde des Sterbens wird nicht durch medizinische oder technische Maßnahmen tangiert - sie wird vielmehr verletzt durch unser Verhalten, durch die Art oder Unart der Begleitung, durch das Abbrechen einer helfenden Beziehung (vielleicht versinnbildlicht am Abstellen eines Respirators).
Was bedeuten „lebensverlängernde Maßnahmen”? Wenn wir von medizinischer Ethik sprechen, sind wir bei der am Anfang angesprochenen Entpersonalisierung, Objektivierung - es handelt sich vielmehr um eine Ethik des Arztes, der Schwester - ganz konkret, subjektbezogen, personalisiert, in der Ich-du-Beziehung!
Aussagen wie die folgende: „Dennoch wird heute kaum jemand schneller gesund, nur weil wir ihn beatmen können”, [22] sind nicht korrekt: Es ist Aufgabe der Intensivmedizin durch notwendig gewordene Beatmung Menschen am Leben zu erhalten, die sonst versterben - Intensivmedizin ist nicht angetreten, um Menschen schneller zur Genesung zu führen!
Sechstens: „Es gibt keinen neutralen Ort jenseits der eigenen Verstrickung in die Geschichte, kein Ort von dem aus sich mit dem Blick eines absoluten Wissens alles objektiv überschauen ließe.” - Daher spricht Gadamer vom Zirkel oder vom Horizont des Verstehens [28].
Arzt und Patient, Pflegende und Patient sind Subjekte, daher kann ihre Beziehung, ihre Ich-du-Begegnung nur eine subjektive sein.
In diesem Sinne machen wir uns immer „schuldig” - beim Handeln sowie beim Unterlassen! Wir stehen immer in Beziehung, in kausaler persönlicher, nicht delegierbarer Verantwortung.
Siebtens: Wir kommen zu der wichtigsten Frage: Welches Menschenbild, welche ethischen Werte legen wir unserem Handeln zugrunde? Obwohl wir in einer sog. pluralistischen Gesellschaft leben, herrscht seit Descartes Dualismus vor, die These des Vorrangs des Bewusstseins vor dem Sein.
Das zerebrozentrische Weltbild (das Vorhandensein von intellektiven und rationalen Leistungen bestimmt das Sein; diese werden als gehirngebundene Leistungen angesehen) bestimmt unser gesamtes medizinisches Denken.
Es hat als Nützlichkeitsdenken (in seinen verschiedenen utilitaristischen Ausformungen) die moralisch schwerwiegende Festsetzung des sog. „Hirntodes” als Tod des Menschen bewirkt.
Dieses Denkmuster zeigt aber Folgen.
Ohne Philosophie werden wir des Unfugs eben nicht Herr! ...
„Erst die Theorie entscheidet darüber, was beobachtet
werden kann.”
Albert Einstein
Eng damit verbunden ist ein mechanistisches Menschenbild, nach dem wir die Summe unserer Teile seien.
Wenn der Patient zum Arzt geht und sich „durch-checken” lassen will, so liegt, freilich unbewusst, dieses Menschenbild zugrunde.
Steht der philosophische Ansatz von Kant im Mittelpunkt - der nach der Absicht, nach dem Wozu einer Handlung fragt, nach dem der Mensch immer nur Selbstzweck sein kann -, so instrumentalisiert der sog. „Hirntod” und die Organentnahme den Spender.
Andere Folgen ergeben sich hingegen aus der ethischen Haltung der Ehrfurcht vor dem Leben eines Albert Schweizers [30] oder aus der Haltung einer Verantwortungs-Ethik von H. Jonas [31]. Wird der Mensch als Leib-Seele-Geist-Einheit verstanden und als Beziehung aufgefasst, so entsteht Demut und Respekt vor dem Leben, der Krankheit und dem Sterben.
Heidegger (Seins-Vergessenheit), Gadamer, Spaemann, Jonas, Levinas, Buber und viele andere zeitgenössische Philosophen betonen den Vorrang des Seins vor dem Bewusstsein. Nur eine solche Grundhaltung lässt sich in Deckung bringen mit einer Phänomenologie (z. B. Husserl) und mit biologischer und philosophischer Anthropologie.
Jede empirische Festlegung (z. B. Nida-Rümelins Selbstachtung) ist bereits Produkt des Reduktionismus und weist auf utilitaristische Haltung hin (Der Tagesspiegel 3.1.01).
1 * Leicht geänderte Fassung eines Vortrages gehalten am 9. Februar 2001 auf dem 11. Internationalen Symposium Intensivmedizin und Intensivpflege in Bremen.
Literatur
- 1 v U exküll Th, Wesiack W. Theorie der Humanmedizin. München; Urban + Schwarzenberg-Verlag 1991
- 2 Jaspers K. Der Arzt im technischen Zeitalter. Autrum HJ Von der Naturforschung zur Naturwissenschaft Berlin; Springer-Verlag 1987
- 3 Pietschmann H. Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters. Stuttgart; Weitbrecht-Verlag 1995
- 4 Dürr H P. Ist Biologie nur Physik?. Universitas 1997: 607; Dürr HP. Das Netz des Physikers München; Hanser-Verlag 1988
- 5 Gadamer H G. Lob der Theorie. Frankfurt a.M; Suhrkamp 1991
- 6 Salomon F. Leben und Sterben in der Intensivmedizin. Lengerich; Pabst-Verlag 1996
- 7 Bavastro P. Anthroposophische Medizin auf der Intensivstation. Dornach; Verlag am Goetheanum 1994
- 8 Weizenbaum J. Mensch und Computer. Bavastro P Mensch und Technik Stuttgart; URACHHAUS in Druck
- 9 Anschütz F. Ärztliches Handeln. Darmstadt; Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988
- 10 Kant I. Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?. Kant I Was ist Aufklärung. Aufsätze Göttingen; Vandenhoeck und Ruprecht 1994
- 11 Quante M. Passive, indirekte und direkte aktive Sterbehilfe - deskriptiv und ethisch tragfähige Unterscheidung?. Ethik Med. 1998; 10 206-226
- 12 Reiter-Theil S, Lenz G. Probleme der Behandlungsbegrenzung im Kontext einer internistischen Intensivstation. Zeitschrift für medizinische Ethik. 1999; 45 205-216
- 13 v L utterotti M. Tun und Unterlassen in der Medizin. Zeitschrift für medizinische Ethik. 1998; 44 209-219
- 14 Schuster H P. Ethische Probleme im Bereich der Intensivmedizin. Internist. 1999; 40 206-269
- 15 Lawin P, Prien T h. Intensivmedizin in Deutschland: Eine Standortbestimmung. In: Jahrbuch der Anästhesiologie und Intensivmedizin Köln; Biermann-Verlag 1991/1992
- 16 Schara J. Indikation und Grenzen der Intensivtherapie. Benzer H, Burchardi H, Larsen R, Suter PM Lehrbuch der Anästhesie und Intensivmedizin. Berlin; Springer-Verlag
- 17 Schuster H P. Prognose in der Intensivmedizin - Fortschritte seit Hippokrates?. Intensivmedizin. 1996; 33 27-32 (Suppl 1)
- 18 Burchardi H. Brauchen wir die Vorhersage des „Outcome” in der Intensivmedizin?. Anästh Intensivmed. 1995; 36 153-160
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1 * Leicht geänderte Fassung eines Vortrages gehalten am 9. Februar 2001 auf dem 11. Internationalen Symposium Intensivmedizin und Intensivpflege in Bremen.
Dr. P. Bavastro
Leitender Arzt der Inneren Abteilung der Filderklinik
Im Haberschlai 7
70794 Filderstadt