Einleitung
Einleitung
Im Rahmen des geplanten Modellversuchs zur opiatgestützten
Behandlung werden nicht nur die Wirkungen zweier verschiedener ärztlich
verordneter Substanzen (Methadon und Heroin), sondern auch unterschiedliche
psychosoziale Interventionen - zum einen Case Management in Kombination
mit Motivierender Beratung, zum anderen die Kombination von allgemein
üblicher Drogenberatung mit Psychoedukation [1]
- verglichen. Randomisierung und Kontrollgruppendesign ermöglichen
die Analyse sowohl substanzbezogener als auch psychosozialer Fragestellungen
und die Zuordnung unterschiedlicher Effekte zu den einzelnen
Behandlungsformen.
Die ambulante Drogenhilfe in Deutschland kann inzwischen auf eine
rund dreißigjährige Geschichte zurückblicken. In dieser Zeit
sind viele unterschiedliche Konzepte ausprobiert, verändert und zum Teil
auch wieder verworfen worden. Die Drogenhilfe hat immer wieder innovative Wege
gesucht und gefunden, aber bis heute ist es ihr nicht gelungen, ein klar
erkennbares Set an Methoden und Ansätzen hervorzubringen, die bundesweit
nach annähernd gleichen professionellen Standards und Indikationen
angewandt werden. Die konkreten Formen der Drogenberatung und Drogenhilfe
variieren innerhalb Deutschlands, aber auch innerhalb einzelner Städte und
wahrscheinlich sogar innerhalb einer Beratungsstelle. Zwar finden sich heute in
den meisten Städten bei vielen ambulanten Drogenhilfeeinrichtungen
gleichlautende Angebote wie z. B. „psychosoziale
Betreuung”, „niedrigschwellige Hilfen” oder
„ambulante Therapie”, aber diese Angebote sind meist nur vage
beschrieben und höchstens ansatzweise standardisiert und so gut wie gar
nicht manualisiert. Zum Beispiel liegen für die psychosoziale Begleitung
von Abhängigen, die medikamentös behandelt werden
(Substitutionsbehandlung), zwar verschiedene Vorschläge für
Behandlungsstandards vor, aber diese sind über die Diskussion nicht
hinausgekommen [2]
[3].
Kontrollierte wissenschaftliche Studien zu den verschiedenen Ansätzen der
psychosozialen Begleitung von Drogenabhängigen gibt es in Deutschland
nicht.
Bei der Auswahl der psychosozialen Interventionen für den
Modellversuch kann deshalb nicht einfach auf bewährte standardisierte
Verfahren zurückgegriffen werden. In diesem Artikel wird dargelegt, warum
sich die Studiengruppe u. a. für die Methode des Case Managements
mit integrierter Motivierender Beratung entschieden hat und wie diese Form der
psychosozialen Intervention im Modellversuch umgesetzt werden soll.
30 Jahre ambulante Drogenberatung
30 Jahre ambulante Drogenberatung
Im Vergleich zu den auf die Beratung und Behandlung von Frauen und
Männern mit Alkoholproblemen spezialisierten Einrichtungen, die heute auf
eine über hundertjährige Geschichte zurückblicken können
[4]
[5], ist die Drogenhilfe ein
junges Hilfesystem, das erst Anfang der 70er Jahre als Reaktion auf den
zunehmenden Konsum illegaler Drogen vor allem durch Jugendliche entstanden ist.
In der kurzen Zeit von 30 Jahren hat es sich seither mehrfach verändert
und vor allem weiterentwickelt [6]. Am Anfang waren es
u. a. Pastoren, Ex-User, Studenten und Mitarbeiter aus der Jugendhilfe,
die erste Release-Gruppen, Release-Zentren und Wohnkollektive in Deutschland
aufbauten, an die sich Drogenkonsumenten und Drogenabhängige wenden
konnten, wenn sie Hilfe brauchten [7]
[8]. So chaotisch und unprofessionell diese Gruppen auch
arbeiteten, es gelang ihnen dennoch besser als den etablierten Einrichtungen
des Gesundheitssystems und der Jugendhilfe, Kontakt zu den mit
unterschiedlichen Drogen experimentierenden Jugendlichen aufzunehmen und zu
halten.
Den ersten Professionalisierungsschub setzte das
Bundesgesundheitsministerium in Gang mit einem Großmodell, in dessen
Rahmen von 1973 bis 1978 über hundert Projekte finanziell gefördert
und durch das Institut für Therapieforschung (IFT) evaluiert wurden
[9]. Ein Ergebnis dieser Anstrengung war die Aufstellung
von „Mindestkriterien” für die Ausstattung der
Einrichtungen, die Ausbildung der Mitarbeiter und die Dokumentation
insbesondere von Angaben zur Klientel. An die Einhaltung dieser
Mindestkriterien koppelten die Länder die finanzielle Förderung der
Einrichtungen - ein Vorgang, der damals auf massiven Widerstand
stieß. Dennoch führte das Verfahren zu einer ersten Stufe der
Standardisierung der Hilfe; es verhalf dem Einrichtungstyp „Jugend- und
Drogenberatungsstelle” flächendeckend zum Durchbruch. Die
Mitarbeiter der Jugend- und Drogenberatungsstellen waren überwiegend
Sozialarbeiter/innen und Sozialpädagoginnen. Damit war die professionelle
Ausrichtung der ambulanten Drogenhilfe für ca. 2 Jahrzehnte festgelegt.
Daran hat sich erst in der Umbruchsituation zu Beginn der 90er Jahre
Entscheidendes geändert mit der Einführung der medikamentösen
Behandlung (Substitution) von Drogenabhängigen als eine Art
Regelversorgung. In der ambulanten Drogenhilfe in den 70er und 80er Jahren
bestimmten vor allem Sozialarbeiter und Sozialpädagogen das Profil. Sie
orientierten sich zunächst an etablierten Arbeitsansätzen wie dem der
Einzelfallhilfe, die sich in Deutschland in den 50er und 60er Jahren aus dem
amerikanischen „case work” entwickelt hatte. Auch darüber
hinaus wurden Verfahren aus den USA aufgenommen. So wurde in manchen Jugend-
und Drogenberatungsstellen die Einzelfallhilfe mit Ansätzen der
klientenzentrierten Gesprächsführung [10]
zusammengebracht.
Die Anwendung der Kombination eines an Rogers angelehnten
Beratungsverständnisses mit sozialarbeiterischen Methoden der
Einzelfallhilfe dauerte allerdings nicht lange an. Zunächst war es die
Methodenkritik der Studentenbewegung, die die Einzelfallhilfe in Verruf
brachte. Der Einzelfallhilfe wurde vorgeworfen, sie individualisiere
gesellschaftlich bedingte Probleme, statt sie als Gesellschaftsprobleme zu
definieren und entsprechend politisch zu bearbeiten. In Fortsetzung dieser
Überlegungen wurde versucht, Drogenkonsumenten und Drogenabhängige
für die politische Arbeit zu gewinnen, ein Vorgehen, das schnell
scheiterte [11].
In der sozialen Arbeit traten gruppenpädagogische Verfahren und
die Gemeinwesenarbeit an die Stelle der Einzelfallhilfe. Für die Jugend-
und Drogenberatungsstellen brachten diese Methoden allerdings wenig. Parallel
hierzu veränderte sich die Drogenszene selbst. Immer deutlicher wurde
Heroin zur Leitdroge auf den offenen Drogenszenen, immer unbedeutender wurden
die Verbindungen zwischen Drogenszene und Protestbewegung und immer
größer wurde die Distanz zwischen Drogenberatern und ihren
Klientinnen und Klienten. Das empathische Verstehen im Sinne von Rogers trat in
den Hintergrund, während konfrontative Verfahren zunehmend beliebter
wurden [12]. In den stationären Einrichtungen
wurde mit immer autoritäreren Methoden versucht, die vermeintliche
Suchtpersönlichkeit zu zerstören, um danach einen „neuen
Menschen” mit „neuen” psychischen Strukturen aufbauen zu
können. Während in anderen psychosozialen Arbeitsfeldern die
Bedeutung der helfenden Beziehung und die dafür notwendige empathische
Haltung des Beraters oder Therapeuten in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, entwickelte sich in der
Drogen- und Suchtkrankenhilfe ein verzerrtes Verständnis von Leidensdruck
und Motivation, das einen autoritären, konfrontativen Beratungs- und
Behandlungsstil begünstigte.
Diese Entwicklung lässt sich für Deutschland ebenso
beobachten wie etwa für die USA [13]. Die
Funktionen der ambulante Drogenhilfe reduzierten sich bei Opiatabhängigen
in Deutschland im Wesentlichen auf die Vermittlung in die stationäre
Therapie, da jede Form der ambulanten Begleitung als suchtverlängernd
angesehen wurde. Damit waren sowohl die Einzelfallhilfe als auch die sich
entwickelnden Ansätze zu einem eigenständigen
Beratungsverständnis an ihr Ende gekommen. In den 80er Jahren wurde der
Königsweg der Behandlung für Opiatabhängige in der
„therapeutischen Kette” gesehen, innerhalb derer die ambulanten
Einrichtungen vor allem die Funktion der Weitervermittlung der Klientel in
nachfolgende Einrichtungen hatten.
Ende der 80er Jahre war die Verelendung der Klientel auf den offenen
großstädtischen Drogenszenen unübersehbar. Dazu kam das stetige
Ansteigen der Zahl der Drogentoten sowie der HIV-Positiven unter den
Drogenabhängigen. Ein nächster Veränderungsschub der Drogenhilfe
setzte ein. Unter dem Schlagwort der „akzeptierenden Drogenhilfe”
entstanden neue Ansätze, bei denen Überlebenshilfen und
Schadensminimierung im Vordergrund standen [14]. Mit
der Einrichtung von Spritzentauschprogrammen, Kontaktläden und
Drogenkonsumräumen gelang es den Beratenden zunächst, wieder Kontakt
zu vielen Drogenabhängigen aufzunehmen, die sich in der autoritären
Phase der Drogenhilfe vom Hilfesystem abgewandt hatten. Die medikamentöse
Behandlung (Methadonsubstitution), die nach jahrelanger Tabuisierung Ende der
80er Jahre zunächst vorsichtig erprobt wurde und sich inzwischen zur
Standardbehandlung entwickelt hat, veränderte die Drogenhilfe ein weiteres
Mal. Sowohl im Rahmen der medikamentösen Behandlung (Substitution) als
auch durch die erwähnten niedrigschwelligen Angebote ergab sich eine neue
Bedeutung für ambulante Formen psychosozialer Unterstützung.
Gleichzeitig wurde u. a. durch eine Reihe von Modellprogrammen und
Studien deutlich, dass die Klientinnen und Klienten der Drogenhilfe, die sich
jetzt mühsam in Methadonambulanzen, Kontaktläden und anderen
niedrigschwelligen Angeboten stabilisierten, meist langjährige
Opiatabhängige mit vielfältigen psychosozialen Problemen waren, ohne
deren Bearbeitung eine anhaltende Rehabilitation nicht denkbar war.
Case Management in der Drogenhilfe
Case Management in der Drogenhilfe
Für Sozialarbeiter, die über Versorgungsangebote zur
Befriedigung von Grundbedürfnissen und medikamentöse Behandlung
hinaus auf diese Situation reagieren wollten, bot es sich an, auf Modelle der
Einzelfallhilfe zurückzugreifen. Allerdings fehlte es hier an modernen
Konzepten, die zur Situation der Drogenhilfe und der Drogenabhängigen
gepasst hätten. Die Klientinnen und Klienten hatten in fast allen
Lebensbereichen eine Vielzahl von Problemen, die zu bearbeiten waren. Der
einzelne Drogenberater war überfordert, wollte er gleichermaßen
kompetent Schuldnerberatung und Entschuldungshilfen, Arbeitsplatzvermittlung
und Jobtraining, Wohnungsvermittlung, Rechtsberatung und Psychotherapie bei
einem einzelnen Klienten anbieten. Allerdings war seit den 70er Jahren das Netz
der Hilfe- und Unterstützungssysteme stark angewachsen und eine Gruppe von
Drogenabhängigen nutzte bereits die vielfältigen Angebote. Folglich
waren nicht nur Drogenberater, sondern eine Reihe anderer psychosozialer und
sonstiger Dienste mit einzelnen Drogenabhängigen befasst. Im Einzelfall
konnten das z. B. die Bewährungshilfe (wegen Strafaussetzung zur
Bewährung), das Jugendamt (etwa wegen Sorgerechtsfragen), die
Schuldnerberatung, mehrere Ärzte, der Sozialpsychiatrische Dienst, das
Sozialamt und ein Psychotherapeut sein. Es kann nicht verwundern, dass in
dieser Situation die ersten Veröffentlichungen zum Case Management
[15]
[16] in der Drogenhilfe auf
großes Interesse stießen. Für die Rezeption dieses Ansatzes in
der Drogenhilfe in Deutschland war von Anfang an weniger die Kontroverse um
Managed Care oder Case Management bedeutsam als vielmehr die Möglichkeit,
Klientinnen und Klienten mit einem hohen Bedarf an Hilfen vergleichsweise
kurzfristig mit den entsprechenden Anbietern dieser Hilfen verknüpfen zu
können, sich dabei an einer strukturierten Vorgehensweise zu orientieren
und gleichzeitig das individuell zu knüpfende Unterstützungsnetz
steuern zu können. Das für das Case Management zentrale Phasenmodell
(Vereinbarung über Zusammenarbeit, Assessment, Zielvereinbarung und
Hilfeplanung, Durchführung, Monitoring, Re-Assessment, abschließende
Ergebnisbewertung) bietet einen strukturierten und überprüfbaren Weg,
um auch Klientinnen und Klienten mit komplexen Problemlagen effektiv durch die
Hilfe- und Unterstützungsnetze des Deutschen Wohlfahrtsstaates zu
führen. Mit der Abfolge Hilfeplanung - Monitoring -
Re-Assessment ist zudem eine Qualitätsschleife eingebaut, die dieses
Modell anschlussfähig für moderne Qualitätssicherungssysteme
macht.
Zusätzliche Attraktivität erwuchs dem Konzept des Case
Management in der Drogenhilfe noch aus einem anderen Grund. Die Entstehung
niedrigschwelliger Drogenhilfeangebote war zunächst begleitet von offenen
oder versteckten Entprofessionalisierungstendenzen, die teilweise an die
frühen Release-Projekte erinnerten [17].
Abhängiger Drogenkonsum wurde teilweise verstanden als
selbstgewählter Lebensstil, den die Berater akzeptieren und lediglich in
seinen gesundheitlichen Risiken begrenzen sollten. Daraus ergab sich die
Schwierigkeit, die eigene Rolle des Drogenberaters, Kontaktladenmitarbeiters
oder psychosozialen Begleiters professionell zu definieren und von der eines
informellen Unterstützers abzugrenzen. Case Management als strukturiertes
Ablaufmodell mit klar definierten Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten
bietet hier die nötige professionelle Rollenklärung, die einerseits
Akzeptanz und Empathie im Sinne von Rogers verlangt, andererseits klare Grenzen
zieht zwischen Klient und Berater.
In der amerikanischen Sozialarbeit generell und insbesondere in der
Drogenhilfe ist Case Management inzwischen weit verbreitet. So berichten
z. B. Ball und Ross in ihrer Methadonstudie von verschiedenen
Beratungsmethoden in den von ihnen untersuchten sechs Behandlungseinrichtungen,
die aber alle auf einem Case-Management-Konzept aufsetzen: „After a
patient has been added to the caseload, the counselor is responsible for
developing and implementing an ongoing treatment plan, monitoring compliance
and progress, and documenting the delivery of services. This function of case
management involves maintenance of an active folder or jacket of information
about each patient’ history, present needs, and treatment status. Case
management also involves joint conferences in which a patient’ treatment
status is reviewed by his designated counselor along with other staff in order
to obtain additional advice about the most appropriate course of treatment to
follow. Case management also involves recommending or implementing social
service liaison and referrals for patients” [18].
Aus den USA liegen auch erste kontrollierte Studien vor, die die
Überlegenheit von Case Management gegenüber „treatment as
usual” nachweisen. So zeigte sich etwa bei einer dreijährigen
randomisierten Kontrollgruppenstudie mit 316 Drogenabhängigen mit
intravenösen Konsummustern, die allesamt vielfältige psychosoziale
Probleme hatten, dass die Klientinnen und Klienten mit Case Management ihren
Drogenkonsum nach 18 Monaten stärker reduziert hatten und in
größerer Anzahl, schneller und länger weiterführende
Behandlungen in Anspruch nahmen als die Klientinnen und Klienten aus der
Vergleichsgruppe mit „treatment as usual” [19]. In den USA liegen mittlerweile unterschiedliche
Konzepte für Case Management vor, die von kurzfristigen
Vermittlungsmodellen bis hin zu längerfristigen Rehabilitationsmodellen
reichen [20]. Ein wichtiges Differenzierungsmerkmal ist
dabei neben der Laufzeit der jeweiligen Modelle auch die Fallzahl je Case
Manager.
In Deutschland wurde Case Management in der Suchtkrankenhilfe bisher
vor allem im Rahmen zweier Modellprojekte erprobt. Zwischen 1994 und 1997 wurde
in Bochum Case Management im Kontext eines größeren Programms zur
Verbesserung der Kooperationsstrukturen bei der Versorgung von so genannten
„chronisch mehrfachgeschädigten Abhängigkeitskranken”
eingesetzt [21]. 1995 wurde unter dem Titel
„Kooperationsmodell Nachgehende Sozialarbeit” vom
Bundesgesundheitsministerium ein umfangreiches Modellprojekt aufgelegt, in
dessen Mittelpunkt die Anwendung von Case Management in 33 Modellprojekten
stand [22], [23],
[24], vergleiche auch den Artikel in diesem Heft].
Erste Zwischenergebnisse belegen, dass Case Management geeignet ist, auch
schwierige Klientinnen und Klienten der Drogenhilfe mit den nötigen
Unterstützungsleistungen zu verknüpfen. Allerdings zeigt sich auch,
dass Case Management in der Drogenhilfe nicht auf die vermittelnde und
koordinierende Funktion beschränkt werden kann, sondern dass es allemal
des Aufbaus einer helfenden Beziehung zwischen Case Manager und Klient bedarf,
damit die im Hilfeplan angesteuerten Ziele auch erreicht werden. Zum Aufbau der
Beziehung und zur Stärkung der Veränderungsmotivation soll im
Modellversuch zur opiatgestützten Behandlung der Ansatz der
„Motivierenden Beratung” in das Case Management integriert
werden.
Motivierende Beratung in der ambulanten Drogenhilfe
Motivierende Beratung in der ambulanten Drogenhilfe
Im Verständnis der Drogenhilfe in Deutschland hat sich die
Bedeutung des Begriffs „Motivation” im Laufe der letzten drei
Jahrzehnte mehrfach verschoben. In der konfrontativen Phase der Drogenhilfe
spielte Motivation als Motor von Veränderung keine große Rolle.
Motivation wurde als Voraussetzung für die Aufnahme in
Langzeittherapieeinrichtungen zwar „geprüft”, den
Drogenberatern und Therapeuten standen aber kaum Methoden und Techniken zur
Verfügung, um auf die Motivation Einfluss zu nehmen. Aber auch vom Ansatz
der akzeptierenden Drogenhilfe aus war Motivation zu Verhaltensänderungen
erst einmal eher unwichtig. Solange unter Akzeptanz verstanden wurde,
Drogenkonsum und im Notfall auch Drogenabhängigkeit als eine Art
alternativen Lebensstil anzunehmen, scheuten die Berater davor zurück,
aktiv auf die Veränderungsbereitschaft ihrer Klienten hinzuwirken.
Die inzwischen zu beobachtende Professionalisierung und
Differenzierung hat den Blick auf komplexere Modellvorstellungen zur Motivation
geöffnet. Inzwischen sieht es die Drogenhilfe immer mehr als ihre Aufgabe
an, Motivation zur Verhaltensänderung behutsam aufzubauen und zu
stärken und Selbstwirksamkeitserwartung zu erhöhen, um auf diesem
Wege die Voraussetzungen für Veränderungen zu schaffen.
Das „Motivational Interviewing” [25 27] wurde anfangs der 90er Jahre entwickelt und
wird seither in den USA mit Erfolg in der Alkohol- und Drogenberatung
eingesetzt. Aufbauend auf Stadienmodellen der Motivation [28] entwickelten Miller und Rollnick die Methode der
Motivierenden Beratung, mit der sie die eher theoretisch orientierten
Erklärungsansätze von Prochaska und DiClemente für die
psychosoziale Praxis nutzbar machten.
Motivation wurde von Miller und Rollnick als komplexer, wandelbarer
und vom Berater beeinflussbarer Zustand beschrieben, der in verschiedenen
Phasen eine jeweils unterschiedliche Ausprägung erhält. Dieser
Ausgangspunkt ist so allgemein gewählt, dass er auch angesichts der an der
empirischen Überprüfbarkeit des Stadienmodells von Prochaska und
DiClemente geübten Kritik [29] gültig bleibt.
Aufgabe des Beraters im Rahmen der Motivierenden Beratung ist es, die jeweils
adäquate Technik in der Gesprächsführung anzuwenden. Ziel des
Beratungsprozesses ist es, den Klienten bei dem Weg durch die unterschiedlichen
Stadien der Motivation zu begleiten und voranzubringen. Neben einer Sammlung
von Techniken für die einzelnen Phasen beschreibt die Motivierende
Beratung vor allem eine therapeutische Grundhaltung, die statt auf
Konfrontation auf Akzeptanz und Empathie im Sinne von Rogers und auf
Stärkung der Selbstwirksamkeitserwartung abzielt. Damit knüpft die
Motivierende Gesprächsführung an die klientenzentrierte
Gesprächsführung an, unterscheidet sich aber wiederum von dieser.
In Abgrenzung zu Rogers Ansatz ist die Motivierende Beratung
deutlich direktiver. Tatsächlich verbindet sich der auf den Aufbau einer
helfenden Beziehung angelegte Ansatz der Gesprächsführung mit
zentralen Elementen der kognitiven Verhaltenstherapie, wie sie insbesondere von
Beck u. Mitarb. ausgearbeitet worden ist [30]
[31]. Die Beratenden sind nicht nur passive Zuhörer
bzw. Spiegel der Emotionen ihrer Klientel, sie regen diese vielmehr mit
gezielten Interventionen dazu an, Änderungen nicht nur zu wünschen,
sondern sich um diese auch zu bemühen. Im FRAMES-Acronym sind - in
englischer Sprache - wichtige Elemente der Motivierenden
Gesprächsführung zusammengefasst: Feedback,
Responsibility, Advice,
Menues of self-directed change options,
Empathic counseling and Self-efficacy (Miller 1999).
Zu den Prinzipien der Motivierenden Beratung gehören neben der
empathischen Grundhaltung und dem „aktiven Zuhören” das
Entwickeln von Diskrepanzen und Ambivalenzen zwischen wichtigen Lebenszielen
und der aktuellen Lebenssituation. Vorwürfe und Beweisführungen
sollen vermieden werden. In der Förderung der Selbstwirksamkeit wird ein
zentrales Element für den Aufbau von Veränderungsmotivation gesehen.
Widerstand wird nicht als Problem des Klienten, sondern als Herausforderung an
den Berater verstanden. Heroinabhängige nehmen die negativen Auswirkungen
ihres Drogenkonsums durchaus wahr und wissen, wie sehr sie ihre
Abhängigkeit an der Realisierung anderer Lebensziele hindert.
Fortgesetzter Drogenkonsum ist eher Ausdruck einer grundsätzlichen
Ambivalenz als nur von Problemverleugnung.
Aus den USA liegt eine Reihe von Studien vor, die belegen, dass mit
dem Ansatz der Motivierenden Beratung erfolgreich im Suchtbereich gearbeitet
werden kann. Sowohl Alkoholabhängige (etwa im Projekt MATCH
[32]) als auch Drogenabhängige
[33 45] konnten erfolgreich beraten und behandelt
werden. Derzeit wird die Motivierende Beratung in den USA im Combine-Projekt
erneut auf ihre Wirksamkeit im Vergleich mit anderen Ansätzen
untersucht.
Parallel zu der breiten wissenschaftlichen Überprüfung des
Ansatzes und den damit verbundenen Methoden der Gesprächsführung
liegen in den USA Manuale mit prägnanten Ausführungen zur Theorie und
Praxis der Motivierenden Beratung vor [46]. Inzwischen
gibt es auch mehrere Berichte zur Integration der Motivierenden
Gesprächsführung in verschiedene Behandlungssettings (z. B. in
Notfallabteilungen, in Krankenhäusern, ambulante Beratungsstellen,
stationäre Programme, Beratung von ethnischen Minderheiten, Einzel- und
Gruppentherapie [47]).
In Deutschland wurden das „transtheoretische Modell”
und die „Motivierende Beratung” mit einer gewissen zeitlichen
Verzögerung rezipiert [48 51]. Dazu kommen
neue Forschungsergebnisse zur Motivierenden Beratung im Zusammenhang mit der
Beratung und Behandlung von Klientinnen und Klienten mit Alkoholproblemen im
Allgemeinkrankenhaus. Ausgehend von einem Liaisondienst, in dessen Rahmen
Mitarbeiter der Klinik für Psychiatrie der Medizinischen Universität
Lübeck Patientinnen und Patienten in anderen Lübecker
Krankenhäusern auf Alkoholprobleme untersuchten und bei Bedarf
Motivierende Beratung anboten, wurden dabei mehrere Ansätze getestet und
analysiert [52 56]. Weitere
Anknüpfungspunkte für die deutsche Rezeption der Motivierenden
Gesprächsführung und des Stadienmodells der Veränderung findet
man u. a. bei Körkel und Kruse [57]
[58]. Auch die Instrumente, die in den USA zur empirischen
Überprüfung der Veränderungsbereitschaft eingesetzt wurden,
liegen inzwischen für Deutschland vor.
Die Integration der beiden Ansätze im Modellversuch
Die Integration der beiden Ansätze im Modellversuch
Vor dem hier skizzierten Hintergrund hat sich die Studiengruppe
entschieden, Case Management mit integrierter Motivierender Beratung als eine
der beiden im Modellversuch zu erprobenden psychosozialen Interventionen
auszuwählen. Case Management und Motivierende Beratung sind international
renommierte und bewährte Verfahren, die Entwicklungslinien und
Fragestellungen aus der Drogenhilfe aufnehmen. Mit der Kombination dieser
Ansätze ist sichergestellt, dass schnell und umfassend auf konkreten
Hilfe- und Unterstützungsbedarf der Klientinnen und Klienten reagiert
werden kann. Gleichzeitig wird ein Fokus auf die Veränderungsbereitschaft
gelegt. Der gesamte Beratungs- und Hilfeprozess soll in ein von Empathie
geprägtes Setting eingebettet sein. Dabei beschreiben das Case Management
u. a. den organisatorischen Handlungsrahmen und die Motivierende
Beratung die Form und den Stil der Interaktion zwischen den Beratenden und der
Klientel.
Der Verlauf der psychosozialen Begleitung in Form des Case
Managements mit integrierter Motivierender Beratung orientiert sich an dem aus
vielen Case-Management-Modellen bekannten Ablaufschema. In die einzelnen
Schritte dieses Ablaufschemas werden die jeweils adäquaten Beratungsthemen
und Techniken der motivierenden Gesprächsführung systematisch
einbezogen.
Nach der Kontaktaufnahme und der Vereinbarung über die
Zusammenarbeit soll ein strukturiertes Assessment erfolgen. Um wiederholte
Befragungen zu vermeiden, soll hierfür auch auf die bereits im Rahmen der
Eingangsuntersuchungen erhobenen Informationen zurückgegriffen werden. Zur
Strukturierung und Dokumentation wird ein Assessmentbogen eingesetzt, in den
relevante Informationen zu Hilfebedarf und Ressourcen auf verschiedenen Feldern
eingetragen werden können. An das Assessment schließen sich die
Phasen der Zielvereinbarung und Hilfeplanung an.
Gerade für die Anfangsphase eines Case-Management-Prozesses
bietet die Motivierende Beratung Strategien und Techniken an, die die Absicht
des Case Managements, zu gemeinsamen Situationseinschätzungen,
Zielvorstellungen und Durchführungsplanungen zu kommen, nachhaltig
unterstützen. Dazu gehört es, vor allem offene Fragen zu stellen,
aktiv zuzuhören, Aussagen der Klienten zusammenzufassen, positive
Bestätigungen zu geben und selbstmotivierende Aussagen hervorzurufen.
Für die Phase der Zielvereinbarungen bietet sich das Modell der
Entscheidungswaage an, mit dem ein Abwägen der Vor- und Nachteile einer
Veränderung und somit ein angemessener Umgang mit ambivalenten
Einschätzungen z. B. zum Substanzkonsum ermöglicht wird. In
den ersten Sitzungen werden die Grundlagen für den Aufbau einer helfenden
Beziehung zwischen dem Case Manager und seiner Klientel gelegt; nicht zuletzt
davon hängt es ab, ob es in den späteren Phasen der Behandlung und
Beratung tatsächlich zu Veränderungen kommt. Zu beachten ist dabei,
dass es nicht nur einen Lösungsweg gibt, sondern verschiedene, dass
Klienten also Wahlmöglichkeiten haben.
Die Hilfeplanung ist ein zentrales, den gesamten Hilfeprozess
strukturierendes Instrument, über das die Zusammenarbeit mit allen
beteiligten Kooperationspartnern gesteuert wird. Um so wichtiger ist es, dass
die Hilfeplanung gemeinsam vom Case Manager, dem Klienten oder der Klientin
sowie von anderen wichtigen formellen und informellen Kooperationspartnern
erarbeitet wird. Zur Dokumentation der Hilfeplanung wird ein Hilfeplanbogen
eingesetzt, der auch Grundlage ist für die spätere Bewertung des
Prozesses.
Während der ersten Assessment-, Planungs- und
Durchführungsphase wird eine enge Kontaktdichte zwischen Case Manager und
Klient (wöchentliche Treffen) angestrebt. Case Management als an
individuellen Bedürfnissen, Ressourcen und Veränderungswünschen
orientiertes Verfahren entzieht sich einer allgemeinen Festlegung über
Art, Umfang und Inhalt der einzelnen Unterstützungsmaßnahmen. Diese
werden im Einzelfall nach Assessment, Zielvereinbarung und Hilfeplanung
installiert. Generell gilt aber, dass der Case Manager nicht alle Hilfen selbst
erbringen, sondern die jeweils geeigneten Dienstleistungen nach Bedarf von
externen Anbietern hinzuziehen soll. Organisation und Koordination des
individuell sich daraus ergebenden formellen und informellen
Unterstützungssystems sind deshalb besonders wichtig.
In der Durchführungsphase wird es immer wieder zu Problemen
zwischen Klient und Case Manager kommen, die gewöhnlich als Widerstand
gedeutet werden. Hier unterscheidet sich Motivierende Beratung von anderen
Beratungsansätzen: Probleme sind gerade nicht Ausdruck von Widerstand,
sondern Hinweis z. B. auf Ambivalenzen, die noch nicht ausdiskutiert
sind. Probleme (bzw. Widerstand) sind nicht Ausdruck von Fehlverhalten der
Klientel, sondern sie lassen sich verstehen und interpretieren. Da
Veränderungsbereitschaft nur über Beziehungsarbeit mit der Klientel
entstehen kann, sollen Probleme im Umgang mit Aufgaben, Zielen und
Anforderungen aufgenommen und dazu genutzt werden, neue Perspektiven in das
Gespräch einzubringen und die Klienten aktiv an der Suche nach
Problemlösungen zu beteiligen.
Für die Klienten geht es in der Durchführungsphase ganz
konkret um Verhaltensänderungen. Wichtig für erfolgreiche
Veränderungsprozesse ist der Glaube an die eigene Fähigkeit, sich
verändern zu können. Die Förderung der
Selbstwirksamkeitserwartung z. B. durch positive Rückmeldungen ist
deshalb in dieser Phase besonders wichtig.
Spätestens zwei Monate nach der ersten Hifleplanung sollte eine
erste Überprüfung und gegebenenfalls eine Reformulierung desselben
und u. U. eine Neuplanung erfolgen. Die Case Manager geben positives
Feedback für bereits erreichte Ziele. Bei Abweichungen zwischen den
gemeinsam vereinbarten Zielen und den bisher erfolgten Handlungen muss nach
Alternativen gesucht werden. Das kann sich auf die Situationseinschätzung,
auf die Zielvereinbarungen oder auf die geplanten Umsetzungsschritte beziehen.
Möglicherweise bietet sich hier die Methode des Reframings an, um die
Situation von einer anderen Seite zu betrachten, den Blickwinkel zu verschieben
und so zu adäquateren Beschreibungen, Zielvorstellungen und
Handlungsmöglichkeiten zu gelangen. Die Überprüfung und
Neuplanung bezieht darüber hinaus auch die externen Dienstanbieter und
andere Komponenten des Unterstützungsnetzwerkes mit ein.
Zur besseren Einschätzung der Veränderungsmotivation
sollen nach jeder Einzelsitzung mit der Klientel Beratungsprotokolle
angefertigt werden, in denen in Anlehnung an das FRAMES-Konzept Notizen zum
Feedback, zur Verantwortung (Responsibility) und zu Anleitungen (Advices) des
Beraters festgehalten werden. Zur Qualifizierung der Case Manager finden
regelmäßige Fallbesprechungen im Team statt. Jeder Klient soll alle
zwei bis drei Monate im Rahmen der Fallbesprechungen thematisiert werden. Auch
hiervon werden Protokolle angelegt. Diese Protokolle und Notizen sollen
vorrangig die Durchführung der psychosozialen Begleitung unterstützen
und strukturieren, sollen aber auch im Rahmen einer Spezialstudie ausgewertet
werden.
Ausblick
Ausblick
Mit der Kombination aus Case Management und integrierter
Motivierender Beratung werden in dem geplanten Modellversuch zur
opiatgestützten Behandlung elaborierte und in der Drogenhilfe auch bereits
eingesetzte Verfahren zur Anwendung kommen, die auf klaren methodischen
Grundlagen stehen und somit eine strukturierte Durchführung der
psychosozialen Begleitung ermöglichen. Eine für die Erforschung
dieser Ansätze wünschenswerte Standardisierung ist zwar nicht auf der
Ebene der einzelnen Unterstützungsmaßnahmen und Beratungsinhalte,
wohl aber in Bezug auf die Grundelemente, das Setting und den Prozess der
Durchführung möglich. Notwendig hierfür ist die Erarbeitung von
Manualen, Schulungskonzepten und unterstützenden Instrumenten. Sollten
sich im Verlauf des Modellversuchs die gewünschten positiven Effekte
dieses Ansatzes zeigen, könnte das Verfahren in die Drogenhilfe
übernommen und weiter ausdifferenziert werden.