Suchttherapie 2001; 2(3): 159-160
DOI: 10.1055/s-2001-16412
Kasuistik
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Verhaltenstherapeutische Behandlung eines erwachsenen Kindes einer alkoholabhängigen Mutter

Behavioral Treatment of an Adult Children of an Alcohol Dependent MotherMichael Klein
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Prof. Dr. Michael Klein

Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen

Forschungsschwerpunkt Sucht

Wörthstraße 10

50668 Köln

Publication History

Publication Date:
15 August 2001 (online)

Table of Contents #

Symptomatik

Die 25-jährige Patientin (Frau C.) meldet sich selbst auf Empfehlung ihres Hausarztes zur ambulanten verhaltenstherapeutischen Psychotherapie an. Der Arzt habe ihr das wegen ihrer depressiven Verstimmungen, ihrer Spannungszustände mit Kopfschmerzen und ihrer starken Ängste empfohlen. Frau C. kommt unter deutlichen Anspannungen zur ersten Therapiesitzung. Nach der Exploration ist es ihr wichtig, ihre Ängste, die sich vor allem auf soziale Situationen beziehen, loszuwerden. Sie leide aber auch unter Einsamkeits- und Sinnlosigkeitsgefühlen, sei häufig niedergeschlagen und mutlos und sei mit ihrer Partnerschaft stark unzufrieden. In letzter Zeit sei sie meist antriebsarm und lustlos. Sie habe bisweilen auch Schlafstörungen, insbesondere beim Durchschlafen. Es werden auch vermehrt Grübeleien berichtet, die sich um die persönliche Zukunft oder das Schicksal der Mutter drehten.

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Anamnese

Die Familienanamnese zeigt, dass sie als älteres von zwei Geschwistern (Bruder: -3 Jahre) häufig mit der seit ihrer frühesten Kindheit alkoholabhängigen Mutter alleine war. Sie habe früh die implizite Aufpasserrolle für die stark alkoholabhängige Mutter übernommen. In diesem Zusammenhang schildert sie eine Episode, die sich während ihres 8. Lebensjahres zugetragen habe. Sie habe, als sie von der Schule nach Hause gekommen sei, die blutüberströmte Mutter ohne Lebenszeichen am Fuße des Treppenhauses gefunden. Sie habe die ohnmächtige Mutter für tot gehalten und ein starkes Angstgefühl entwickelt. Diese Angst fühle sich so an wie das Angstgefühl, das sie auch heute oft noch beschleiche. Später seien noch Schuld- und Unzulänglichkeitsgefühle dazugekommen. Sie wisse heute, dass sie in vielen sozialen Situationen sehr verkrampft gewesen sei. Insbesondere hätten sie Angst und Schamgefühle in Bezug auf die alkoholabhängige Mutter beherrscht. Die Pat. hat eine sehr gute Schullaufbahn absolviert. Nach dem Abitur arbeitete sie zunächst auf verschiedenen Stellen im Gastronomiebereich, weil sie sich für eine Ausbildung in einem internationalen Hotel interessiert habe. Sie zog sich jedoch davon zurück, als sie merkte, dass sie mit den sozialen Anforderungen immer weniger zurechtkam. Schließlich absolvierte sie ein Trainee-Programm in einer großen Softwarefirma. Dort arbeitet sie auch heute noch. Sie habe auch dort häufig Angst, wenn sie im Team etwas vortragen solle. Dann würden starkes Händezittern, Übelkeit und Drang zum Wasserlassen auftreten. Sie fürchte sich regelhaft vor starker Kritik, die sie andererseits stets erwarte. Sie könne auch anderen Menschen nur schlecht in die Augen sehen.

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Besondere Belastungen und Auslösesituationen

Frau C. gibt an, durch ihre Arbeit wenig belastet zu sein. Diese mache ihr vielmehr starke Freude. Sie habe jedoch starke Ängste, die sich auf den Kontakt zu anderen Menschen bezögen. Sie könne nur unter großen Anstrengungen vor anderen sprechen und mache sich immerzu Sorgen darüber, wie sie ankomme. Sie halte sich für minderwertig und wenig attraktiv. Besonders starke Sorgen mache sie sich immer noch um ihre Mutter. Dies führe bisweilen zu starken Konzentrationsproblemen auf der Arbeitsstelle, was sie dann wiederum mit freiwilligen Überstunden kompensiere. Sie rufe die Mutter täglich bis zu 15-mal an, auch von der Arbeitsstelle, um zu kontrollieren, ob diese getrunken habe. Wenn die Mutter nüchtern „klinge”, sei sie beruhigt und könne besser arbeiten. Die Pat. hat in ihrem Wunsch, der Mutter zu helfen, sich in ihrer Befindlichkeit völlig von deren Zustand abhängig gemacht. Bei Krisen und Instabilitäten der Mutter reagierte sie schon früh mit Ängsten und Gefühlen der Unzulänglichkeit und Traurigkeit.

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Psychischer Befund

Die ausführliche Verhaltensanalyse und Psychodiagnostik ergaben, dass Frau C. unter einer leichten depressiven Episode (F 32.0) und einer Sozialphobie (F 40.1) leidet. Die ursprünglich vermutete Diagnose einer Persönlichkeitsstörung (abhängige oder selbstunsichere Persönlichkeitsstörung) erfüllt sich nicht. Die familialen Erfahrungen haben bei der Pat. eine konditionierte Angst vor uneindeutigen Situationen bewirkt. Verbunden damit ist eine Spirale kontinuierlicher negativer Selbstindoktrination, was zu immer stärkeren depressiven Zuständen geführt hat.

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Therapieverlauf

Es werden zunächst 25 verhaltenstherapeutische Einzelsitzungen mit ihr vereinbart. Die Patientin erlebt nach anfänglichen Schuldgefühlen, dass ihr die Aufarbeitung ihrer Familiengeschichte ein starkes Befreiungsgefühl vermittelt. Sie fühlt sich selbstsicherer und weniger belastet. Die begleitenden verhaltenstherapeutischen Hausaufgaben erledigt sie zunehmend umfassender und besser. Sie exploriert dabei ihre Lebensgeschichte immer weiter. Sogar im Alter von 10 Jahren habe sie - so berichtet sie in der Rückschau - derartige Muskelverspannungen gehabt, dass sie mehrfach wegen der Symptome Kopf- und Kreuzschmerzen einem Arzt vorgestellt worden sei. Späterhin hätten sich ihre Kreuzschmerzen chronifiziert. Sie habe bereits zwei Bandscheibenvorfälle gehabt, die sie nunmehr auf ihre chronischen inneren Anspannungen aufgrund ihrer familienbezogenen Ängste zurückführe. Ihre sozialen Ängste bewältigt sie im Rahmen verhaltenstherapeutischer Rollenspiele und Expositionen immer besser. Es wird großer Wert auf die Auseinandersetzung mit der Mutter gelegt. Frau C. gelingt es, die täglichen Telefonate deutlich zu reduzieren und am Ende der Therapie mehrere Tage nicht anzurufen. Sie konstruiert ihre Kognitionen insofern um, dass sie nicht an der Alkoholabhängigkeit der Mutter Schuld sei, wie sie immer gedacht habe. Auch erkennt sie, dass sie durch noch so intensives Kontrollieren das Verhalten der Mutter nicht nachhaltig verändern kann. Es gelingt ihr sogar, die Mutter zu einer ambulanten Suchtbehandlung zu überreden, die diese jedoch nach kurzer Zeit wieder abbricht. Die in dieser Situation entstehende Krise bei Frau C. kann zur Stabilisierung der neu gewonnenen Kognitionen und Verhaltensweisen genutzt werden. Es gelingt Frau C., sich außer in Form des Ausdrucks ihrer ernsten Sorge um die Gesundheit und Zukunft der Mutter auf Distanz zu halten. Insbesondere die fast zwanghaften Kontrollanrufe unterbleiben. Gleichzeitig mit der Aufarbeitung der Beziehung zur Mutter verringern sich die depressiven Symptome der Patientin. Sie nimmt eine neue Beziehung zu einem Partner auf, die sie als die glücklichste ihres bisherigen Lebens beschreibt. Sie fühle sich selbstbewusster und selbstsicherer. Auch halte sie sich nicht mehr für ein „Mauerblümchen” und „Aschenputtel”, sondern könne akzeptieren, dass sie durchaus attraktiv sei, was ihr frühere Partner immer wieder versichert hätten, ohne dass sie es je habe glauben können. Die Therapie kann nach 25 Sitzungen mit ausreichendem Erfolg beendet werden.

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Abschließende Bewertung

Die Verhaltenstherapie einer erwachsenen Tochter einer alkoholabhängigen Mutter zeigt exemplarisch die Problemkonstellationen auf, die sich aus dieser Beziehungssituation ergeben. Die meist intensivere Bindung zur Mutter birgt auch das Risiko größerer Abhängigkeit und Schädigung. Mit einem auf kognitive Umstrukturierung und reale Ablösung zielenden Therapieprogramm kann bei guter Motivation kurzfristig ein guter Behandlungserfolg erzielt werden.

Prof. Dr. Michael Klein

Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen

Forschungsschwerpunkt Sucht

Wörthstraße 10

50668 Köln

Prof. Dr. Michael Klein

Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen

Forschungsschwerpunkt Sucht

Wörthstraße 10

50668 Köln